Papst Benedikt XVI.
Predigt in Lourdes am 15.9.2008
Heute befindet sich Maria in der Freude und Herrlichkeit der
Auferstehung. Die Tränen, die sie am Fuß des Kreuzes vergossen hat, haben sich
zu einem Lächeln gewandelt, das durch nichts mehr ausgelöscht werden kann, und
dennoch bleibt ihr mütterliches Mitleid uns gegenüber unverändert bestehen. Das
hilfreiche Eingreifen der Jungfrau Maria im Laufe der Geschichte bestätigt das
und hört nicht auf, im Volk Gottes ein unerschütterliches Vertrauen zu ihr zu
wecken: Das Gebet Memorare („Gedenke, o gütigste Jungfrau Maria“) bringt dieses
Gefühl sehr gut zum Ausdruck. Maria liebt jedes ihrer Kinder, wobei sie ihre
Aufmerksamkeit besonders auf diejenigen lenkt, die wie ihr Sohn in der Stunde
seiner Passion vom Leiden heimgesucht werden; sie liebt sie, einfach weil sie
nach dem Willen Christi am Kreuz ihre Kinder sind.
Der Psalmist, der aus der Ferne dieses mütterliche Band zwischen der
Mutter Christi und dem gläubigen Volk erkennt, prophezeit in Bezug auf die
Jungfrau Maria: „dein Lächeln suchen die Edlen des Volkes“ (vgl. Ps 45, 13). So
haben die Christen auf Anregung des inspirierten Wortes der Schrift seit jeher
das Lächeln Unserer Lieben Frau gesucht, jenes Lächeln, das die Künstler im
Mittelalter so wunderbar darzustellen und zur Geltung zu bringen wussten.
Dieses Lächeln Mariens gilt allen; es richtet sich jedoch ganz besonders an die
Leidenden, damit sie darin Trost und Linderung finden können. Das Lächeln
Mariens zu suchen, ist keine Frage eines frommen oder altmodischen
Sentimentalismus; es ist vielmehr der zutreffende Ausdruck der lebendigen und
tief menschlichen Beziehung, die uns mit derjenigen verbindet, die uns Christus
zur Mutter gegeben hat.
Der Wunsch, dieses Lächeln der Jungfrau zu betrachten, heißt nicht, sich
von einer unkontrollierten Einbildung gängeln zu lassen. Die Schrift selber
enthüllt uns dieses Lächeln auf den Lippen Mariens, wenn sie das Magnifikat
singt: „Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über
Gott, meinen Retter“ (Lk 1, 46–47). Die Jungfrau Maria macht uns zu ihren
Zeugen, wenn sie dem Herrn dankt. Maria teilt gleichsam im voraus mit ihren
künftigen Kindern, also mit uns, die Freude, die ihrem Herzen innewohnt, damit
sie auch zu unserer Freude werde. Jedes Beten des Magnifikat macht uns zu
Zeugen ihres Lächelns. Hier in Lourdes wurde Bernadette während der Erscheinung
vom Mittwoch, dem 3. März 1858, dieses Lächelns Mariens auf ganz besondere
Weise gewahr. Dieses Lächeln war die erste Antwort, die die vornehme „Dame“ der
jungen Seherin gab, als diese wissen wollte, wer sie sei. Bevor sich Maria ihr
einige Tage später als „die Unbefleckte Empfängnis“ vorstellte, hat sie ihr
zuerst ihr Lächeln zu erkennen gegeben, als wäre das der geeignetste Zugang zur
Enthüllung ihres Geheimnisses.
In dem Lächeln des hervorragendsten aller Geschöpfe, das sich uns
zugewandt hat, spiegelt sich unsere Würde als Kinder Gottes wider, jene Würde,
die auch ein Kranker niemals verliert. Dieses Lächeln, ein wahrer Widerschein
der Zärtlichkeit Gottes, ist die Quelle einer unbesiegbaren Hoffnung. Wir
wissen leider: Lang ertragenes Leiden zerbricht auch das bestgesicherte
Gleichgewicht eines Lebens, erschüttert die festesten Grundlagen des Vertrauens
und lässt einen sogar manchmal am Sinn und Wert des Lebens zweifeln. Es gibt
Kämpfe, die der Mensch allein, ohne Hilfe der göttlichen Gnade, nicht bestehen
kann. Wenn das Reden nicht mehr die richtigen Worte zu finden vermag, zeigt
sich die Notwendigkeit einer liebenden Anwesenheit: Wir suchen dann nicht nur
die Nähe derjenigen, die mit uns verwandt oder uns durch Freundschaft verbunden
sind, sondern auch die Nähe jener, die uns durch das Band des Glaubens vertraut
sind. Wer könnte uns näher und vertrauter sein als Christus und seine heilige
Mutter, die unbefleckt Empfangene? Sie sind mehr als jeder andere dazu fähig,
uns zu verstehen und die Härte des Kampfes gegen das Übel und das Leiden zu
begreifen. Der Hebräerbrief sagt von Christus, er sei nicht einer, „der nicht
mitfühlen könnte mit unserer Schwäche“, sondern einer, „der in allem wie wir in
Versuchung geführt worden ist, aber nicht gesündigt hat“ (Hebr 4, 15). Ich
möchte denen, die leiden, und denen, die zu kämpfen haben und versucht sind,
dem Leben den Rücken zu kehren, voll Demut sagen: Wendet euch Maria zu! Im
Lächeln der Jungfrau findet sich geheimnisvoll verborgen
die Kraft, um den Kampf gegen die Krankheit und für das Leben weiterzuführen.
Bei ihr findet man ebenso die Gnade, ohne Angst und Bitterkeit den Abschied von
dieser Welt in der von Gott gewollten Stunde anzunehmen.
Wie richtig war die Intuition von Dom Jean-Baptiste Chautard, einer
schönen spirituellen Gestalt Frankreichs, der in seinem Werk Innerlichkeit. Die
Seele allen Apostolats dem eifrigen Christen vorschlug, häufig „dem Blick der
Jungfrau Maria zu begegnen“! Ja, das Lächeln der Jungfrau Maria zu suchen, ist
nicht ein frommer Kinderwunsch; es ist, sagt Psalm 45, das Verlangen der „Edlen
des Volkes“ (45,13). „Die Edlen“, das sind im Bereich des Glaubens jene, die
die höchste geistliche Reife besitzen und daher in der Lage sind, ihre
Schwachheit und Armseligkeit vor Gott anzuerkennen. Im Lächeln, dieser ganz
schlichten Äußerung von Zuneigung, erfassen wir, dass unser einziger Reichtum
die Liebe ist, die Gott zu uns hat und die durch das Herz jener geht, die
unsere Mutter geworden ist. Dieses Lächeln zu suchen, bedeutet vor allem, das
Ungeschuldetsein der Liebe auszukosten; es bedeutet auch, dieses Lächeln durch
unser Bemühen um ein Leben nach dem Wort ihres geliebten Sohnes hervorzurufen,
so wie das Kind das Lächeln der Mutter dadurch hervorzurufen versucht, dass es
tut, was ihr gefällt. Und wir wissen, was Maria gefällt, dank der Worte, die
sie in Kana an die Diener richtete: „Was er euch sagt, das tut“ (Joh 2, 5).
Das Lächeln Mariens ist eine Quelle lebendigen Wassers. „Wer an mich
glaubt“, sagt Jesus, „aus dessen Innerem werden Ströme von lebendigem Wasser
fließen“ (vgl. Joh 7, 38). Maria ist jene, die geglaubt hat, und aus ihrem
Inneren sind Ströme von lebendigem Wasser geflossen, die die Geschichte der
Menschen tränken sollen. Die Quelle, die Maria hier in Lourdes Bernadette
gezeigt hat, ist das bescheidene Zeichen dieser geistlichen Wirklichkeit. Aus
ihrem Herzen, dem Herzen einer Glaubenden und einer Mutter, fließt ein
lebendiges Wasser, das reinigt und heilt. Wie viele Menschen haben beim
Untertauchen im Wasser der Grotte von Lourdes die sanfte Mütterlichkeit der
Jungfrau Maria entdeckt und erfahren, während sie sich an ihr festhalten, um
sich besser am Herrn festhalten zu können! In der Sequenz der Liturgie dieses
Festes der Schmerzensmutter wird Maria unter dem Titel „Fons amoris“, „Born der
Liebe“, verehrt. Aus dem Herzen Mariens entspringt in der Tat eine
ungeschuldete Liebe, die ihrerseits eine kindliche Liebe entstehen lässt, die
sich beständig weiter entfalten soll. Maria ist wie jede Mutter und besser als
jede Mutter Erzieherin zur Liebe. Deshalb kommen so viele Kranke hierher nach
Lourdes, um an dieser „Fons amoris“ ihren Durst zu stillen und sich zu der
einzigen Quelle des Heils, zu ihrem Sohn, Jesus, dem Heiland, führen zu lassen.
Christus schenkt sein Heil durch die Sakramente und den Menschen, die an
Krankheiten oder unter einer Behinderung leiden, schenkt er es ganz besonders
durch die Gnade der Krankensalbung. Das Leiden ist für jeden immer etwas
Fremdes. Sein Vorhandensein lässt sich niemals bezähmen. Es fällt daher schwer,
das Leiden zu ertragen, und noch schwerer ist es, das Leiden – wie es manche
große Zeugen der Heiligkeit Christi getan haben – als Bestandteil unserer
Berufung anzunehmen, so wie Bernadette es ausdrückte: „alles schweigend leiden,
um Jesus zu gefallen“. Um das sagen zu können, muss man schon einen langen Weg
gemeinsam mit Jesus zurückgelegt haben. Dagegen ist es möglich, sich schon
jetzt der Barmherzigkeit Gottes zu überlassen, die in der Gnade des
Krankensakraments sichtbar wird. Bernadette selbst hat im Laufe eines Lebens,
das oft von der Krankheit gezeichnet war, dieses Sakrament viermal empfangen.
Die diesem Sakrament eigene Gnade besteht darin, dass der Kranke Christus, den
Arzt, in sich aufnimmt. Christus ist jedoch nicht ein Arzt nach der Ordnung der
Welt. Um uns zu heilen, bleibt er nicht außerhalb des Leidens, das der Kranke
erduldet; er lindert es, indem er in dem von der Krankheit heimgesuchten
Menschen Wohnung nimmt, um das Leid mit ihm zu tragen und zu leben. Die
Gegenwart Christi durchbricht die Isolierung, die der Schmerz hervorruft. Der
Mensch trägt seine Prüfung nun nicht mehr allein, sondern als leidendes Glied
Christi wird er Christus ähnlich, der sich dem Vater darbringt, und nimmt in
ihm an der Entstehung der neuen Schöpfung teil.
Ohne die Hilfe des Herrn ist das Joch der Krankheit und des Leidens
schrecklich schwer. Wenn wir das Sakrament der Krankensalbung empfangen,
möchten wir kein anderes als das Joch Christi tragen, denn wir bauen auf sein
Versprechen uns gegenüber, dass sein Joch nicht drückt und seine Last leicht
ist (vgl. Mt 11, 30). Ich lade die Personen, die während dieser Messe die
Krankensalbung empfangen werden, ein, sich auf eine solche Hoffnung
einzulassen.
Das Zweite Vatikanische Konzil hat Maria als die Gestalt vorgestellt, in
der das ganze Geheimnis der Kirche zusammengefasst ist (vgl. Lumen gentium, Nr.
63–65). Ihre persönliche Geschichte nimmt den Weg der Kirche vorweg, die
eingeladen ist, genauso wie sie den leidenden Menschen beizustehen. Einen
herzlichen Gruß richte ich an die Mitglieder des Kranken- und Pflegedienstes
sowie auch an alle, die in verschiedenen Funktionen in den Spitälern und in
anderen Einrichtungen fachkundig und hochherzig zur Betreuung der Kranken
beitragen. Ebenso möchte ich dem Aufnahme- und Empfangspersonal, den
Krankenträgern und den Begleitern, die aus allen Diözesen Frankreichs und auch
von noch weiter herkommen und das ganze Jahr über den kranken Lourdes-Pilgern
beistehen, sagen, wie wertvoll ihr Dienst ist. Sie sind die Arme der dienenden
Kirche. Schließlich will ich all jene ermutigen, die sich aufgrund ihres
Glaubens der Kranken annehmen und sie besuchen, besonders in der
Krankenhausseelsorge, in den Pfarreien oder wie hier in den Wallfahrtsorten.
Möget ihr bei dieser wichtigen und heiklen Mission stets die wirksame und
brüderliche Unterstützung eurer Gemeinden spüren!
Der Dienst der Nächstenliebe, den ihr leistet, ist ein marianischer
Dienst. Maria vertraut euch ihr Lächeln an, damit ihr in der Treue zu ihrem
Sohn selber zu Quellen lebendigen Wassers werdet. Was ihr macht, tut ihr im
Namen der Kirche, deren reinstes Bild Maria ist. Möget ihr allen ihr Lächeln
bringen!
Abschließend möchte ich mich dem Gebet der Pilger und der Kranken
anschließen und zusammen mit euch einen Ausschnitt aus dem Gebet an Maria
aufgreifen, das für die Feier dieses Jubiläums vorgeschlagen wurde:
„Weil du das Lächeln Gottes bist, der Abglanz des Lichtes Christi, die
Wohnung des Heiligen Geistes, weil du Bernadette in ihrer Armseligkeit
auserwählt hast, weil du der Morgenstern bist, die Pforte des Himmels und das
erste zu neuem Leben erweckte Geschöpf“, beten wir zu dir, Unsere Liebe Frau
von Lourdes, zusammen mit unseren Brüdern und Schwestern, die an Herz und Leib
Schmerzen leiden!