Papst Benedikt XVI. Generalaudienz am 3.3.10 und 10.3.10

Bonaventura (Person)

Liebe Brüder und Schwestern!

Heute möchte ich über den heiligen Bonaventura von Bagnoregio sprechen. Ich muss euch gestehen, dass ich eine gewisse Nostalgie empfinde, wenn ich euch dieses Thema vorschlage, weil ich an die wissenschaftliche Arbeit zurückdenke, die ich als junger Student gerade zu diesem Autor durchgeführt habe, der mir besonders am Herzen liegt. Das Wissen über ihn hat meine Ausbildung deutlich geprägt. Mit großer Freude habe ich vor einigen Monaten eine Pilgerreise zu seinem Geburtsort Bagnoregio unternommen, einer kleinen italienischen Stadt in Latium, die ehrfürchtig sein Gedenken bewahrt.

Bonaventura, der vermutlich 1217 geboren wurde und im Jahr 1274 starb, also im dreizehnten Jahrhundert lebte, einer Zeit, in der der christliche Glaube tief in die Kultur und in die Gesellschaft Europas eingedrungen war, hat unvergängliche Werke im Bereich der Literatur, der darstellenden Künste, der Philosophie und der Theologie inspiriert. Unter den großen christlichen Gestalten, die zur Schaffung dieser Harmonie zwischen Glauben und Kultur beitrugen, hebt sich Bonaventura als ein Mann von Aktion und Kontemplation, als ein Mann tiefer Frömmigkeit und kluger Führung ab.

Er hieß Giovanni da Fidanza. Eine Begebenheit, die sich ereignete, als er noch ein Junge war, hat sein Leben zutiefst gezeichnet, wie er selbst berichtet. Er litt unter einer schweren Krankheit, und nicht einmal sein Vater, der Arzt war, hatte noch Hoffnung, ihn vor dem Tod retten zu können. Da rief seine Mutter den heiligen Franz von Assisi, der gerade heiliggesprochen worden war, um seine Fürsprache an. Und Giovanni wurde gesund. Die Gestalt des Poverello von Assisi wurde ihm einige Jahre später noch vertrauter, als er in Paris lebte, wohin er sich zum Studium begeben hatte. Er hatte das Diplom eines „Magister artium“ erlangt, das wir heutzutage mit dem Abitur an einem angesehenen Gymnasium vergleichen könnten. An diesem Punkt stellte sich Giovanni, wie viele Jugendlichen damals aber auch heute, die entscheidende Frage: „Was soll ich aus meinem Leben machen?“

Er war begeistert vom Eifer und von der Radikalität, mit der die Minderbrüder, die 1219 nach Paris gelangt waren, das Evangelium bezeugten. Giovanni klopfte an die Pforten des franziskanischen Klosters jener Stadt und bat darum, in die große Familie der Jünger des heiligen Franziskus aufgenommen zu werden. Viele Jahre später erklärte er die Gründe für seine Entscheidung: Im heiligen Franziskus und in der von ihm begründeten Bewegung erkannte er das Wirken Christi. So schrieb er in einem Brief, der an einen Mitbruder gerichtet war: „Ich bekenne vor Gott: der Grund, aus dem ich das Leben des seligen Franziskus am meisten liebe, ist die Tatsache, dass es den Anfängen und der Entwicklung der Kirche ähnlich ist. Die Kirche hat mit einfachen Fischern begonnen, und sie wurde in der Folge durch weise und berühmte Gelehrte bereichert; die Frömmigkeit des seligen Franz ist nicht durch menschliche Klugheit bestimmt worden, sondern durch Christus“ (Epistula de tribus quaestionibus ad magistrum innominatum, in: Opere di San Bonaventura. Introduzione generale, Rom 1990, S. 29).

Giovanni entschied sich also um das Jahr 1243 für das Ordensgewand der Franziskaner und nahm den Namen Bonaventura an. Man schickte ihn sofort zum Studium. Er frequentierte die Theologische Fakultät der Universität Paris und besuchte eine Reihe von anspruchsvollen Kursen. Er erwarb die Titel des „baccalaureus biblicus“ und des „baccalaureus sententiarum“, die für die akademische Laufbahn erforderlich waren. Bonaventura studierte also gründlich die Heilige Schrift, die Sentenzen des Petrus Lombardus, das theologische Handbuch jener Zeit, sowie die wichtigsten theologischen Autoren und entwickelte in enger Berührung mit den Dozenten und Studenten, die aus ganz Europa in Paris zusammenströmten, sowohl seine eigenen Überlegungen als auch ein äußerst wertvolles geistliches Gespür, die er im Laufe der folgenden Jahre in seine Werke und seine Predigten zu übertragen wusste, wodurch er zu einem der wichtigsten Theologen in der Geschichte der Kirche wurde. Bezeichnend war der Titel der wissenschaftlichen Arbeit, die er verteidigte, um für die Lehre der Theologie habilitiert zu werden, die „licentia ubique docendi“, wie das damals hieß. Seine Arbeit hatte den Titel: „Vom Wissen Christi“ (Quaestiones disputatae de scientia Christi). Dieses Thema zeigt die zentrale Rolle, die Christus im Leben und in der Lehre Bonaventuras stets einnahm. Wir können sagen, dass sein ganzes Denken zutiefst christozentrisch war.

In jenen Jahren entbrannte in Paris, der Wahlheimat Bonaventuras, eine heftige Debatte gegen die Minderbrüder des heiligen Franz von Assisi und die Predigerbrüder des heiligen Dominikus. Man wollte ihnen das Recht streitig machen, an der Universität zu unterrichten, und man bezweifelte sogar die Authentizität ihres geweihten Lebens. Gewiss waren die Veränderungen, welche die Bettelorden in die Art und Weise, das Ordensleben zu verstehen, eingeführt hatten – worüber ich während der vergangenen Katechesen gesprochen habe – so neu, dass nicht alle sie verstehen konnten. Hinzu kamen dann, wie es gelegentlich auch bei wirklich gläubigen Menschen vorkommt, Gründe menschlicher Schwäche, wie Neid und Eifersucht. Auch wenn Bonaventura vom Widerstand anderer Universitätsdozenten umgeben war, hatte er bereits die Lehre am katholischen Lehrstuhl der Franziskaner aufgenommen, und verfasste als Reaktion auf diejenigen, die gegen die Bettelorden protestierten, eine Schrift mit dem Titel: „Über die evangelische Vollkommenheit“ (Quaestiones disputatae de perfectione evangelica). In dieser Schrift zeigt er, wie die Bettelorden – vor allem die Minderbrüder – durch die Gelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams den evangelischen Räten folgten. Über die historischen Umstände hinaus bleibt die Lehre, die Bonaventura in diesem seinem Werk und in seinem Leben geschaffen hat, weiterhin aktuell: Die Kirche wird strahlender und schöner durch die Treue zur Berufung jener ihrer Söhne und Töchter, die nicht nur die Gebote des Evangeliums umsetzen, sondern durch die Gnade Gottes berufen sind, die evangelischen Räte zu befolgen und so durch ihre Lebensform der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams bezeugen, dass das Evangelium eine Quelle der Freude und der Vollkommenheit ist.

Der Konflikt beruhigte sich dann, zumindest für eine gewisse Zeit, und durch das persönliche Eingreifen von Papst Alexander IV. wurde Bonaventura 1257 offiziell als Professor der Pariser Universität anerkannt. Dennoch musste er auf diesen wichtigen Auftrag verzichten, da er im selben Jahr vom Generalkapitel des Ordens zum Generalminister gewählt wurde.

Mit Klugheit und Hingabe übte er dieses Amt siebzehn Jahre lang aus; er besuchte die Provinzen, schrieb seinen Mitbrüdern und griff manchmal mit einer gewissen Strenge ein, um gegen Ordnungswidrigkeiten vorzugehen. Als Bonaventura diesen Dienst antrat, hatte sich der Orden der Minderbrüder außerordentlich entwickelt: Es gab mehr als dreißigtausend Brüder, die im gesamten Abendland verteilt waren, sowie Missionen in Nordafrika, im Nahen Osten und auch in Peking. Es galt, diese Ausweitung zu festigen und ihr vor allem, in Treue gegenüber dem Charisma des Franziskus, eine Einheit des Handelns sowie eine geistliche Einheit zu verleihen. So gab es unter den Nachfolgern des Heiligen aus Assisi verschiedene Arten, die Botschaft zu interpretieren, und es bestand tatsächlich die Gefahr eines inneren Bruchs. Um diese Gefahr abzuwenden, nahm das Generalkapitel 1260 in Narbonne einen von Bonaventura vorgeschlagenen Text an, in dem die Bestimmungen gesammelt und vereinheitlicht wurden, die das tägliche Leben der Minderbrüder regelten, und ratifizierte diesen. Bonaventura spürte jedoch, dass die rechtlichen Vorschriften, wie sehr sie sich auch an Klugheit und Maß ausrichten mochten, nicht ausreichten, um die Gemeinschaft des Geistes und der Herzen zu gewährleisten. Es mussten dieselben Ideale und Motive verfolgt werden. Aus diesem Grund wollte Bonaventura das echte Charisma des Franziskus, sein Leben und seine Lehre darstellen. Er sammelte also mit großem Fleiß Dokumente, die den Poverello betrafen, und lauschte aufmerksam den Erinnerungen derjenigen, die Franziskus direkt gekannt hatten. Daraus entstand unter dem Titel „Legenda Maior“ eine historisch gut fundierte Biografie über den Heiligen aus Assisi, die auch in einer kürzeren Form verfasst wurde, welche „Legenda Minor“ genannt wird. Der lateinische Begriff „Legenda“ bezeichnet im Unterschied zum deutschen Begriff „Legende“ kein Produkt der Phantasie, sondern vielmehr einen vertrauenswürdigen, offiziell „zu lesenden“ Text. Tatsächlich hat das Generalkapitel der Minderbrüder, das sich 1263 in Pisa versammelt hatte, in der Biografie des heiligen Bonaventura die getreueste Schilderung des Gründers erkannt, und so wurde sie zur offiziellen Biografie des Heiligen.

Welches Bild des heiligen Franziskus geht aus dem Herzen und aus der Feder seines ergebenen Sohnes und Nachfolgers, des heiligen Bonaventura, hervor? Der wesentliche Punkt: Franziskus ist ein „alter Christus“, ein Mensch, der Christus leidenschaftlich gesucht hat. In der Liebe, die zur Nachfolge drängt, hat er sich Ihm ganz angepasst. Bonaventura hat alle Anhänger von Franziskus auf dieses lebendige Ideal hingewiesen. Dieses Ideal, das für jeden Christen Gültigkeit besitzt, gestern, heute und immerdar, ist von meinem Vorgänger, dem verehrungswürdigen Johannes Paul II., auch für die Kirche im Dritten Jahrtausend als Programm ausgewiesen worden. Dieses Programm, so hat er in dem Schreiben „Novo Millennio ineunte“ geschrieben, „findet letztlich in Christus selbst seine Mitte. Ihn gilt es kennenzulernen, zu lieben und nachzuahmen, um in ihm das Leben des dreifaltigen Gottes zu leben und mit ihm der Geschichte eine neue Gestalt zu geben, bis sie sich im himmlischen Jerusalem erfüllt“ (Nr. 29).

1273 erfuhr das Leben des heiligen Bonaventura eine weitere Veränderung. Papst Gregor X. wollte ihn zum Bischof weihen und ihn zum Kardinal ernennen. Er bat ihn auch darum, ein äußerst wichtiges kirchliches Ereignis vorzubereiten: das Zweite Ökumenische Konzil von Lyon, dessen Ziel die Wiederherstellung der Gemeinschaft zwischen der lateinischen und der griechischen Kirche war. Er widmete sich dieser Aufgabe mit Sorgfalt, doch er konnte den Abschluss dieser ökumenischen Versammlung nicht mehr erleben, da er in ihrem Verlauf starb. Ein anonymer päpstlicher Notar verfasste eine Lobrede über Bonaventura, die uns ein abschließendes Bild über diesen großen Heiligen und hervorragenden Theologen vermittelt: „Er war ein guter, vertrauenswürdiger, frommer und barmherziger Mann, von großer Tugend, geliebt von Gott und von den Menschen... Gott hatte ihm solche Gnade geschenkt, dass alle, die ihm begegneten, von einer Liebe durchdrungen wurden, die das Herz nicht verbergen konnte“ (vgl. J.G. Bougerol, Bonaventura, in A. Vauchez (ed.), Storia dei santi e della santita cristiana. Bd. VI. L'epoca del rinnovamento evangelico, Mailand 1991, S. 91).

Nehmen wir das Erbe dieses heiligen Kirchenlehrers an, der uns mit den folgenden Worten den Sinn unseres Lebens in Erinnerung ruft: „Auf der Erde können wir Gottes Unendlichkeit durch Nachdenken und durch Bewunderung betrachten; im Himmelreich jedoch, wenn wir Gott ähnlich werden, werden wir durch Anschauung und durch Verzückung in die Freude Gottes eingehen“ (La conoscenza di Cristo, q. 6, conclusione, in Opere di San Bonaventura. Opuscoli Teologici /1, Rom 1993, S. 187).

Bonaventura (Werk)

Liebe Brüder und Schwestern!

In der vergangenen Woche habe ich über das Leben und die Persönlichkeit des heiligen Bonaventura von Bagnoregio gesprochen. Heute Vormittag möchte ich mit den Ausführungen fortfahren und über einen Teil seines literarischen Werkes und seiner Lehre reden.

Wie ich bereits sagte, gehört es zu den wirklichen Verdiensten des heiligen Bonaventura, dass er die Gestalt des heiligen Franziskus von Assisi, den er verehrte und mit großer Liebe betrachtete, authentisch und treu interpretiert hat. Zur Zeit des heiligen Bonaventura behauptete vor allem eine Strömung der Minderbrüder, die sogenannten „Spiritualen“, dass mit dem heiligen Franziskus eine ganz neue Phase der Geschichte begonnen habe und das „ewige Evangelium“ erschienen sei – von dem die Apokalypse spricht –, welches das Neue Testament ersetze. Diese Gruppe erklärte, die historische Rolle der Kirche sei nunmehr beendet und an ihre Stelle trete eine charismatische Gemeinschaft freier Menschen, die innerlich vom Geist geführt würden: die „franziskanischen Spiritualen“. Die Grundlage für die Vorstellungen dieser Gruppe bildeten die Schriften des im Jahr 1202 verstorbenen Zisterzienserabts Joachim von Fiore. In seinen Werken behauptete er, die Geschichte folge einem trinitarischen Rhythmus. Er betrachtete das Alte Testament als das Zeitalter des Vaters, dem die Zeit des Sohnes folgte, die Zeit der Kirche. Das dritte Zeitalter, das des Heiligen Geistes, sei noch zu erwarten.

Die ganze Geschichte sollte so als eine Geschichte des Fortschreitens ausgelegt werden: von der Strenge des Alten Testaments zur relativen Freiheit der Zeit des Sohnes, in der Kirche, bis zur vollen Freiheit der Kinder Gottes in der Zeit des Heiligen Geistes, die schließlich auch die Zeit des Friedens unter den Menschen sowie der Versöhnung der Völker und der Religionen sein sollte. Joachim von Fiore hatte die Hoffnung erweckt, dass der Beginn der neuen Zeit aus einem neuen Mönchtum hervorgehe. So ist es verständlich, dass eine Gruppe von Franziskanern dachte, im heiligen Franz von Assisi den Urheber des neuen Zeitalters und in seinem Orden die Gemeinschaft der neuen Zeit zu erkennen – die Gemeinschaft des Zeitalters des Heiligen Geistes, das die hierarchische Kirche hinter sich ließ, um die neue Kirche des Geistes einzuleiten, die nicht mehr an die alten Strukturen gebunden war.

Es bestand also die Gefahr, dass die Botschaft des heiligen Franziskus und seine demütige Treue zum Evangelium und zur Kirche völlig falsch verstanden wurden, und dieses Missverständnis führte zu einer irrigen Sicht des Christentums insgesamt.

Der heilige Bonaventura, der 1257 Generalminister des Franziskanerordens wurde, fand sich – eben aufgrund derjenigen, die die erwähnte Strömung der „Franziskaner-Spiritualen“ unterstützten, die sich auf Joachim von Fiore bezogen – schweren Spannungen innerhalb seines Ordens gegenüber. Gerade um auf diese Gruppe zu reagieren und den Orden wieder zur Einheit zu führen, untersuchte der heilige Bonaventura gründlich die authentischen Schriften des Joachim von Fiore sowie die Schriften, die ihm zugeschrieben wurden, und wollte, im Bewusstsein der Notwendigkeit, die Gestalt und die Botschaft seines geliebten heiligen Franziskus richtig darzustellen, ein genaues Bild der Geschichtstheologie vorlegen. Der heilige Bonaventura behandelte das Problem in seinem letzten Werk, einer Sammlung von Vorträgen vor den Mönchen der Pariser Universität, das unvollendet blieb und uns durch die Mitschriften seiner Zuhörer unter dem Titel „Hexaëmeron“ – eine allegorische Auslegung der sechs Schöpfungstage – überliefert ist. Die Kirchenväter betrachteten die sechs oder sieben Tage des Schöpfungsberichts als Vorhersage der Weltgeschichte, der Menschheitsgeschichte. Die sieben Tage stellten für sie sieben Abschnitte der Geschichte dar, die später auch als sieben Jahrtausende interpretiert wurden. Mit Christus wären wir in den letzten Abschnitt eingetreten, also in den sechsten Abschnitt der Geschichte, dem dann der große Tag Gottes folgen würde. Der heilige Bonaventura geht von dieser historischen Interpretation des Zusammenhangs der Schöpfungstage aus, doch auf eine ganz freie und neue Weise. Für ihn machen zwei Erscheinungen seiner Zeit eine Neuinterpretation des Verlaufs der Geschichte erforderlich:

Erstens: Die Gestalt des heiligen Franziskus, ein Mann, der bis hin zur Gemeinschaft der Stigmata vollkommen mit Christus vereint ist, der gewissermaßen ein „alter Christus“ ist, sowie mit dem heiligen Franziskus die neue, von ihm geschaffene Gemeinschaft, die sich vom bislang bekannten Mönchtum unterscheidet. Diese Erscheinung erforderte eine neue Interpretation als Neuheit Gottes, die in diesem Moment erschienen war.

Zweitens: Die Position des Joachim von Fiore, der ein neues Mönchtum und eine vollkommen neue Zeit der Geschichte ankündigte und damit über die Offenbarung des Neuen Testaments hinausging, erforderte eine Antwort.

Als Generalminister des Franziskanerordens hatte der heilige Bonaventura sofort erkannt, dass der Orden mit der von Joachim von Fiore inspirierten spiritualistischen Auffassung nicht geführt werden konnte, sondern sich logischerweise auf die Anarchie zubewegte. Daraus ergaben sich für ihn zwei Konsequenzen:

Erstens: Die praktische Notwendigkeit von Strukturen und der Einfügung in die hierarchische, in die reale Kirche, bedurfte einer theologischen Grundlage, zumal diejenigen, die der spiritualistischen Auffassung folgten, eine theologische Grundlage zu haben schienen.

Zweitens: Auch unter Berücksichtigung des notwendigen Realismus durfte die Neuheit der Gestalt des heiligen Franziskus nicht verloren gehen.

Wie hat der heilige Bonaventura auf die praktischen und theoretischen Erfordernisse reagiert? Ich kann hier seine Antwort nur ganz schematisch und unvollständig in einigen Punkten wiedergeben:

1. Der heilige Bonaventura weist die Vorstellung vom trinitarischen Rhythmus der Geschichte zurück. Gott ist einer für die ganze Geschichte und lässt sich nicht in drei Gottheiten trennen. Folglich ist die Geschichte eine, auch wenn sie ein Weg und – dem heiligen Bonaventura zufolge – ein fortschreitender Weg ist.

2. Jesus Christus ist das letzte Wort Gottes – in Ihm hat Gott alles gesagt, indem er sich selbst geschenkt und gesagt hat. Mehr als sich selbst kann Gott weder sagen noch geben. Der Heilige Geist ist der Geist des Vaters und des Sohnes. Christus selbst sagt vom Heiligen Geist: „der wird... euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe“ (Joh 14,26), „er nimmt von dem, was mein ist, und wird es euch verkünden“ (Joh 16,15). Es ist also kein anderes, höheres Evangelium, es ist keine andere Kirche zu erwarten. Daher muss sich auch der Orden des heiligen Franziskus in diese Kirche, in ihren Glauben, in ihre hierarchische Ordnung einfügen.

3. Das bedeutet nicht, dass die Kirche unbeweglich ist, starr auf die Vergangenheit gerichtet, und dass es keine Neuheit in ihr geben kann. „Opera Christi non deficiunt, sed proficiunt” – die Werke Christi gehen weder zu Ende, noch werden sie schwächer, sondern sie schreiten fort, sagt der Heilige in seinem Schreiben „De tribus quaestionibus“. So formuliert der heilige Bonaventura ausdrücklich die Vorstellung des Fortschritts, und das ist eine Neuheit gegenüber den Kirchenvätern und gegenüber einem Großteil seiner Zeitgenossen. Für den heiligen Bonaventura ist Christus nicht mehr, wie für die Kirchenväter, das Ziel, sondern Er ist das Zentrum der Geschichte; mit Christus geht die Geschichte nicht zu Ende, sondern mit Ihm beginnt eine neue Zeit. Eine weitere Konsequenz ist folgende: Bis zu jenem Moment herrschte die Vorstellung, die Kirchenväter seien der absolute Höhepunkt der Theologie und alle folgenden Generationen könnten nur ihre Schüler sein. Auch der heilige Bonaventura erkennt die Väter für immer als Lehrmeister an, doch das Phänomen des heiligen Franziskus verleiht ihm die Gewissheit, dass der Reichtum des Wortes Christi unermesslich ist und dass auch in den neuen Generationen neue Lichter aufscheinen können. Die Einzigartigkeit Christi gewährleistet auch Neuheit und Erneuerung in allen Abschnitten der Geschichte.

Gewiss, der Franziskanerorden – so hebt er hervor – gehört zur Kirche Jesu Christi, zur apostolischen Kirche, und kann sich nicht in einem utopischen Spiritualismus entwickeln. Doch gleichzeitig ist die Neuheit dieses Ordens im Vergleich zum klassischen Mönchtum von Bedeutung, und der heilige Bonaventura hat – wie ich in der vergangenen Katechese sagte – diese Neuheit gegenüber den Angriffen des Weltklerus von Paris verteidigt: Die Franziskaner haben kein festes Kloster, sie können überall das Evangelium verkünden. Gerade der Bruch mit der für das Mönchtum charakteristischen Stabilität zugunsten einer neuen Flexibilität hat der Kirche ihre missionarische Dynamik wiedergegeben.

An diesem Punkt muss man vielleicht erwähnen, dass es auch heute Ansichten gibt, nach denen die gesamte Kirchengeschichte im zweiten Jahrtausend ein ständiger Niedergang gewesen sei – einige erkennen den Niedergang bereits unmittelbar nach dem Neuen Testament. In Wirklichkeit „Opera Christi non deficiunt, sed proficiunt”, gehen die Werke Christi nicht zu Ende, sondern sie schreiten voran. Was wäre die Kirche ohne die neue Spiritualität der Zisterzienser, der Franziskaner und Dominikaner, der Spiritualität der heiligen Teresa von Avila und des heiligen Johannes vom Kreuz und so weiter? Auch heute gilt diese Aussage „Opera Christi non deficiunt, sed proficiunt“ – sie schreiten voran. Der heilige Bonaventura lehrt uns die Gesamtheit einer notwendigen und auch strengen Unterscheidung, eines nüchternen Realismus und einer Öffnung gegenüber neuen Charismen, die von Christus im Heiligen Geist seiner Kirche geschenkt werden. Und während sich die Vorstellung des Niedergangs wiederholt, wiederholt sich auch die andere Vorstellung, jener „spiritualistische Utopismus“. So waren bekanntlich einige Menschen nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil überzeugt, dass alles neu sei, dass es eine andere Kirche gebe, dass es mit der vorkonziliaren Kirche vorbei sei und wir eine neue, eine vollkommen „andere“ bekommen hätten. Ein anarchischer Utopismus! Und Gott sei Dank haben die weisen Steuermänner des Schiffes Petri, Papst Paul VI. und Papst Johannes Paul II., auf der einen Seite die Neuheit des Konzils verteidigt und auf der anderen Seite gleichzeitig die Einzigkeit und die Kontinuität der Kirche, die immer eine Kirche der Sünder und immer ein Ort der Gnade ist.

4. In diesem Sinn hat der heilige Bonaventura als Generalminister der Franziskaner eine Führungslinie eingenommen, in der klar wurde, dass der neue Orden als Gemeinschaft nicht auf der gleichen „eschatologischen Höhe“ leben konnte wie der heilige Franziskus, in dem er die künftige Welt vorweggenommen sah, sondern sich – gleichzeitig von einem gesunden Realismus und von geistlichem Mut geführt – so weit wie möglich der getreuen Verwirklichung der Bergpredigt annähern musste, die für den heiligen Franziskus der Maßstab war, im gleichzeitigen Bewusstsein der Begrenztheit des von der Erbsünde gezeichneten Menschen.

So sehen wir, dass die Führung für den heiligen Bonaventura nicht nur ein Tun war, sondern vor allem Denken und Beten. An der Grundlage seiner Führung finden wir immer das Gebet und das Denken; alle seine Entscheidungen gehen aus der Überlegung, aus dem vom Gebet erleuchteten Denken hervor. Seine enge Verbindung zu Christus hat seine Arbeit als Generalminister stets begleitet, und daher hat er eine Reihe theologisch-mystischer Schriften verfasst, welche die Absicht seiner Regierung zum Ausdruck bringen und den Willen zeigen, den Orden von innen her zu führen, also nicht nur durch Anordnungen und Strukturen zu regieren, sondern durch Führung und Erleuchtung der Seelen, durch Orientierung auf Christus hin.

Aus diesen Schriften, die den Kern seiner Regierung bilden und den Weg zeigen, dem sowohl der Einzelne als auch die Gemeinschaft folgen muss, möchte ich nur eine herausgreifen, sein Hauptwerk „Itinerarium mentis in Deum“ (Die Wanderschaft des Menschen zu Gott), ein „Handbuch“ der mystischen Kontemplation. Dieses Buch wurde an einem Ort tiefer Spiritualität verfasst: auf dem La Verna, wo der heilige Franziskus die Wundmale empfangen hatte. In der Einführung erläutert der Autor die Umstände, die seine Schrift verursacht haben: „Während ich über die Möglichkeit der Seele nachdachte, zu Gott emporzusteigen, zeigte sich mir unter anderem jenes wunderbare Ereignis, das dem seligen Franziskus an diesem Ort widerfahren war: die Vision des geflügelten Seraphims in der Gestalt des Gekreuzigten. Und während ich darüber nachdachte, wurde mir gleich klar, dass diese Vision mir sowohl die kontemplative Verzückung des Franziskus zeigte als gleichzeitig auch den Weg, der dorthin führt“ (Itinerario della mente in Dio, Prolog, 2, in Opere di San Bonaventura. Opuscoli Teologici /1, Rom 1993, S. 499).

Die sechs Flügel des Seraphims werden so das Symbol von sechs Etappen, die den Menschen allmählich von der Erkenntnis Gottes über die Beobachtung der Welt und der Menschen und über die Erforschung der Seele und ihre Fähigkeiten, bis zur erfüllenden Vereinigung mit der Dreifaltigkeit durch Christus, in der Nachahmung des heiligen Franz von Assisi, führt. Die letzten Worte aus dem „Itinerarium“ des heiligen Bonaventura, die die Frage beantworten, wie diese mystische Gemeinschaft mit Gott erreicht werden kann, sollte man tief in sein Herz sinken lassen: „Wenn du dich nun danach sehnst, zu wissen, wie das geschieht, (die mystische Gemeinschaft mit Gott), dann frage die Gnade, nicht die Lehre; die Sehnsucht, nicht den Verstand; das Seufzen des Gebets, nicht das Erforschen des Buchstabens; den Bräutigam, nicht den Lehrer; Gott, nicht den Menschen; das Nebelhafte, nicht die Helligkeit; nicht das Licht, sondern das Feuer, das alles entzündet und zu Gott führt, mit einem Übermaß an Balsam und mit glühendster Liebe... Treten wir also ein in das Nebelhafte, bringen wir die Sorgen, die Leidenschaften und die Geister zum Schweigen; gehen wir mit dem gekreuzigten Christus aus dieser Welt zum Vater, damit wir, nachdem wir ihn gesehen haben, mit Philippus sagen „Das genügt mir“ (ebd. VII, 6).

Liebe Freunde, nehmen wir die Aufforderung an, die der heilige Bonaventura, der „Doctor Seraphicus“, an uns richtet, und begeben wir uns in die Schule des göttlichen Meisters: Hören wir auf sein Wort des Lebens und der Wahrheit, das im Innersten unserer Seele erklingt. Läutern wir unser Denken und unser Handeln, damit Er in uns wohnen kann und damit wir sein göttliches Wort verstehen können, das uns zur wahren Freude führt

 

 

 

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