Papst Benedikt XVI.
Generalaudienz am 26.1.11
Jungfrau von Orleans
Liebe Brüder und Schwestern!
Jeanne d'Arc konnte weder lesen noch schreiben, doch man kann sie
dank zweier Quellen von außerordentlichem historischen Wert genau kennenlernen:
die beiden Prozesse, die sie betreffen. Der erste, der „Verurteilungsprozess“
(PCon) enthält die Abschrift der langen und zahlreichen Verhöre Johannas
während der letzten Monate ihres Lebens (Februar bis Mai 1431) und gibt die
Worte der Heiligen wieder. Der zweite, der Prozess zur Annullierung der
Verurteilung oder „Rehabilitationsprozess“ (PNul), enthält die Aussagen von
etwa 120 Augenzeugen aus allen Abschnitten ihres Lebens (vgl. Proces de
Condamnation de Jeanne d'Arc, 3 Bde. und Proces en Nullité de la Condamnation
de Jeanne d'Arc, 5 Bde., Ed. Klincksieck, Paris l960–1989).
Johanna wird in Domrémy, einem kleinen Dorf an der Grenze zwischen
Frankreich und Lothringen geboren. Ihre Eltern sind wohlhabende Bauern, die bei
allen als gute Christen bekannt sind. Von ihnen empfängt sie eine tiefe
religiöse Erziehung, die stark von der Spiritualität des Namens Jesu geprägt
ist, die der heilige Bernhard von Siena lehrt und die von den Franziskanern in
Europa verbreitet wird. Mit dem Namen Jesu wird stets der Name Marias
verbunden, und so ist die Spiritualität Johannas vor diesem Hintergrund der
Volksfrömmigkeit zutiefst christozentrisch und marianisch. Von Kindheit an
erweist sie – im dramatischen Kontext des Krieges – den Ärmsten, den Kranken
und allen Leidenden große Nächstenliebe und tiefes Mitleid.
Aus Johannas Worten wissen wir, dass ihr Glaubensleben ab dem
Alter von dreizehn Jahren zur mystischen Erfahrung reift (PCon, I, S. 47–48). Durch
die „Stimme“ des Erzengels Michael fühlt sie sich vom Herrn berufen, ihr
christliches Leben zu vertiefen sowie auch, sich persönlich für die Befreiung
ihres Volkes einzusetzen. Ihre unmittelbare Antwort, ihr „Ja“, ist das Gelübde
der Jungfräulichkeit mit einer neuen Verpflichtung zum sakramentalen Leben und
zum Gebet: tägliche Teilnahme an der Messe, häufige Beichte und häufiger
Kommunionempfang, lange Momente des schweigenden Gebets vor dem Gekreuzigten
oder dem Bild der Muttergottes. Das Mitleid und das Engagement des
französischen Bauernmädchens angesichts der Leiden seines Volkes wird durch die
mystische Beziehung zu Gott verstärkt. Einer der besonderen Aspekte der
Heiligkeit dieser jungen Frau ist gerade diese Beziehung zwischen mystischer
Erfahrung und politischer Mission. Auf die Jahre des Lebens im Verborgenen und
der inneren Reifung folgt ein kurzer, aber intensiver Zeitraum von zwei Jahren
des öffentlichen Lebens: ein Jahr des Handelns und ein Jahr des Leidens.
Zu Beginn des Jahres 1429 beginnt Johanna mit ihrem Werk der
Befreiung. Die zahlreichen Zeugnisse beschreiben uns diese junge Frau von nur
siebzehn Jahren als äußerst starke und entschlossene Persönlichkeit, die es
vermag, unsichere und entmutige Männer zu überzeugen. Nachdem sie alle Hindernisse
überwunden hat, begegnet sie dem französischen Dauphin, dem künftigen König
Karl VII., der sie in Poitiers der Prüfung durch einige Theologen der
Universität unterzieht. Ihr Urteil fällt positiv aus: sie sehen in ihr nichts
schlechtes, nur eine gute Christin.
Am 22. März 1429 diktiert Johanna einen wichtigen Brief an den
König von England und an seine Männer, die die Stadt Orléans belagern (ebd. S.
221–222). Ihr Vorschlag sieht einen wirklichen Frieden in der Gerechtigkeit
zwischen den beiden christlichen Völkern vor, im Lichte des Namens Jesu und des
Namens Marias, doch er wird zurückgewiesen und Johanna muss sich im Kampf für
die Befreiung der Stadt einsetzen, die am 8. Mai erfolgt. Der andere Höhepunkt
ihres politischen Handelns ist die Krönung Karls VII. am 17. Juli 1429 in
Reims. Ein ganzes Jahr lang lebt Johanna mit den Soldaten und führt in ihrer
Mitte einen wahren Evangelisierungsauftrag durch. Zahlreich sind die Zeugnisse
der Soldaten in Bezug auf ihre Güte, ihren Mut und ihre außergewöhnliche
Reinheit. Von allen wird sie „la Pucelle“, „die Jungfrau“, genannt – so, wie
sie sich auch selbst bezeichnet.
Das Leiden Johannas nimmt am 23. Mai 1430 seinen Anfang, als sie
ihren Feinden als Gefangene in die Hände fällt. Am 23. Dezember wird sie nach
Rouen überführt. Dort findet der lange und dramatische „Verurteilungsprozess“
statt, der im Februar 1431 beginnt und am 30. Mai desselben Jahres mit dem
Scheiterhaufen endet. Es ist ein großer und feierlicher Prozess, dem zwei
kirchliche Richter vorstehen, Bischof Pierre Cauchon und der Inquisitor Jean le
Maistre, doch in Wirklichkeit wird er vollständig von einer starken Gruppe
Theologen der berühmten Universität von Paris geführt, die als Beisitzer am
Prozess teilnehmen. Es sind französische Geistliche, die, da sie eine andere
politische Entscheidung getroffen haben als Johanna, ihre Person und ihre
Mission von vornherein negativ beurteilen. Dieser Prozess ist ein
erschütternder Abschnitt in der Geschichte der Heiligkeit und auch erleuchtend
in Bezug auf das Geheimnis der Kirche, die nach den Worten des Zweiten
Vatikanischen Konzils „zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig“ ist
(Lumen gentium, 8). Es ist die dramatische Begegnung zwischen dieser Heiligen
und ihren Richtern, die Geistliche sind. Von ihnen wird Johanna beschuldigt und
bewertet, bis sie schließlich als Häretikerin zum schrecklichen Tod auf dem
Scheiterhaufen verurteilt wird.
Im Unterschied zu den heiligen Theologen, die die Pariser
Universität erleuchtet hatten, wie der heilige Bonaventura, der heilige Thomas
von Aquin und der selige Duns Scotus, über die ich in mehreren Katechesen
gesprochen habe, sind diese Richter Theologen, denen die Liebe und die Demut
fehlen, in dieser jungen Frau das Wirken Gottes zu erkennen. Es kommen einem die
Worte Jesu in den Sinn, denen zufolge die Geheimnisse Gottes denen offenbart
werden, die das Herz der Unmündigen haben, während sie den Weisen und Klugen
verborgen bleiben, die keine Demut kennen (vgl. Lk 10, 21). So sind die Richter
vollkommen unfähig, sie zu verstehen und die Schönheit ihrer Seele zu sehen:
sie wussten nicht, dass sie eine Heilige verurteilten.
Johannas Berufung an den Papst wird am 24. Mai vom Gericht
zurückgewiesen. Am Morgen des 30. Mai empfängt sie zum letzten Mal die heilige
Kommunion im Gefängnis und wird gleich zu ihrem qualvollen Tod auf dem alten
Marktplatz geführt. Sie bittet einen der Priester, vor dem Scheiterhaufen ein
Prozessionskreuz hochzuhalten. So stirbt sie mit dem Blick auf den Gekreuzigten
und während sie mehrfach laut den Namen Jesus ausspricht (PNul, I, S. 457; vgl.
Katechismus der Katholischen Kirche, 435). Etwa fünfundzwanzig Jahre später
wird der Rehabilitationsprozess, der unter Papst Calixtus III. eröffnet wurde,
mit einem feierlichen Urteil beendet, das die Verurteilung für nichtig erklärt
(7. Juli 1456; PNul, II, S. 604–610). Dieser lange Prozess, der die Aussagen
von Zeugen und die Beurteilungen von Theologen sammelte, die sich alle
zugunsten von Johanna aussprachen, stellt ihre Unschuld und ihre vollkommene
Treue zur Kirche dar. Jeanne d'Arc wird dann im Jahr 1920 von Benedikt XV.
heiliggesprochen. Liebe Brüder und Schwestern, der Name Jesu, den unsere
Heilige bis zu den letzten Augenblicken ihres irdischen Lebens angerufen hat,
war wie der stete Atem ihrer Seele, wie das Schlagen ihres Herzens, das Zentrum
ihres ganzen Lebens. „Das Geheimnis der Liebe Jeanne d'Arcs“, das den Dichter
Charles Péguy so fasziniert hatte, ist diese vollkommene Jesusliebe sowie die
Liebe des Nächsten in und durch Jesus. Diese Heilige hatte verstanden, dass die
Liebe die ganze Wirklichkeit Gottes und des Menschen, des Himmels und der Erde,
der Kirche und der Welt umfasst. Jesus nimmt in ihrem Leben immer die erste
Stelle ein, nach ihrem schönen Wort: „Gott kommt an erster Stelle“ (PCon, I, S.
288; Katechismus der Katholischen Kirche, 223). Ihn zu lieben bedeutet, immer
seinem Willen zu gehorchen. Sie sagt mit vollkommenem Vertrauen und ganzer
Hingabe: „Ich vertraue mich Gott, meinem Schöpfer, an, ich liebe ihn von ganzem
Herzen“ (ebd. S. 337). Mit dem Gelübde der Jungfräulichkeit weiht Johanna sich
ganz der einen Liebe Jesu: es ist „ihr Versprechen gegenüber Unserem Herrn,
ihre leibliche und seelische Jungfräulichkeit wohl zu bewahren“ (ebd. S.
149–150). Die Jungfräulichkeit der Seele ist der Stand der Gnade, der höchste
Wert und kostbarer für sie als das Leben: Sie ist ein Geschenk Gottes, das
demütig und vertrauensvoll empfangen und bewahrt werden muss. Einer der
bekanntesten Texte des ersten Prozesses betrifft eben dies: „Befragt, ob sie
wisse, dass sie in der Gnade Gottes sei, antwortet sie: ,Falls ich nicht in ihr
bin, wolle Gott mich in sie versetzen; falls ich in ihr bin, möge Gott mich in
ihr bewahren‘“ (ebd. S. 62; Katechismus der Katholischen Kirche, 2005).
Unsere Heilige lebt das Gebet in der Form eines ständigen
Zwiegesprächs mit dem Herrn, das auch ihre Gespräche mit den Richtern
erleuchtet und ihr Frieden und Sicherheit verleiht. Sie sagt voller Vertrauen:
„Lieber Gott, Deiner heiligen Passion zu Ehren bitte ich Dich, wenn Du mich
liebst, mir zu zeigen, wie ich diesen Männern der Kirche antworten muss“ (ebd.
S. 252). Jesus wird von Johanna als der „König des Himmels und der Erde“
betrachtet. So ließ sie auf ihrer Standarte „Unseren Herrn, der die Welt hält“
abbilden (ebd. S. 172): Ikone ihres politischen Auftrags. Die Befreiung ihres
Volkes ist ein Werk menschlicher Gerechtigkeit, das Johanna in der Liebe
durchführt, aus Liebe zu Jesus. Sie liefert ein schönes Beispiel der Heiligkeit
für die Laienchristen – vor allem in den schwierigsten Situationen – die sich
im politischen Leben einsetzen. Der Glaube ist das Licht, das jede Entscheidung
leitet, wie ein Jahrhundert später ein anderer großer Heiliger, der Engländer
Thomas Morus bezeugen wird. In Jesus betrachtet Johanna auch die Gesamtheit der
Kirche: die „triumphierende Kirche“ des Himmels und die „streitende Kirche“ auf
der Erde. Ihren Worten zufolge sind Jesus und die Kirche eins (ebd. S. 166).
Diese Aussage, die auch im Katechismus der Katholischen Kirche zitiert wird (Nr.
795), ist im Kontext des Verurteilungsprozesses, angesichts ihrer Richter,
Männern der Kirche, die sie verfolgten und verurteilten, wirklich heroisch. In
der Liebe Jesu findet Johanna die Kraft, die Kirche bis zuletzt zu lieben, auch
im Moment ihrer Verurteilung.
Ich möchte daran erinnern, dass die heilige Jeanne d'Arc einen
tiefen Einfluss auf eine junge Heilige der Neuzeit ausgeübt hat: Therese vom
Kinde Jesu. In einer vollkommen anderen Form des Lebens, das sie in der Klausur
verbrachte, fühlte sich die Karmelitin von Lisieux Johanna sehr nah, indem sie
im Herzen der Kirche lebte und an den Leiden Christi für das Heil der Welt
teilhatte. Die Kirche hat sie als Patroninnen Frankreichs – nach der Jungfrau
Maria – vereint. Die heilige Therese hatte ihren Wunsch zum Ausdruck gebracht,
wie Johanna zu sterben, mit dem Namen Jesus auf den Lippen (Manuskript B, 3r),
und sie war von derselben großen Liebe zu Jesus und dem Nächsten beseelt, die
sie in der geweihten Jungfräulichkeit lebte. Liebe Brüder und Schwestern, mit
ihrem leuchtenden Zeugnis lädt die heilige Jeanne d'Arc uns zu einem hohen Maß
christlichen Lebens ein: das Gebet zum Leitfaden unserer Tage machen; voller
Vertrauen den göttlichen Willen erfüllen, wie immer dieser sei; die Liebe
leben, ohne Bevorzugungen, ohne Grenzen; und wie Johanna aus der Liebe Jesu
eine tiefe Liebe für die Kirche schöpfen.