Papst Benedikt XVI.
Generalaudienz am 24.11.10
Katharina von Siena
Liebe Brüder und
Schwestern!
Als sich der Ruf ihrer Heiligkeit verbreitete, war sie die
Hauptperson einer intensiven spirituellen Ratgebertätigkeit gegenüber Menschen
aller Gesellschaftsschichten: Edelleute und Politiker, Künstler und Menschen
aus dem Volk, Ordensleute, Geistliche, eingeschlossen Papst Gregor XI., der zu
jener Zeit in Avignon residierte und den Katharina energisch und erfolgreich
aufforderte, nach Rom zurückzukehren. Sie reiste viel, um auf die innere Reform
der Kirche zu drängen und den Frieden zwischen den Staaten zu fördern: Auch aus
diesem Grund wollte der ehrwürdige Diener Gottes Johannes Paul II. sie zur
Mitpatronin Europas erklären: Möge der Alte Kontinent niemals die christlichen
Grundlagen seines Weges vergessen und weiterhin aus dem Evangelium die
fundamentalen Werte schöpfen, die Gerechtigkeit und Eintracht gewährleisten.
Wie viele Heilige musste Katharina sehr leiden. Jemand war sogar
der Meinung, man müsse ihr misstrauen, sodass sie 1374, sechs Jahre vor ihrem
Tod, vom Generalkapitel der Dominikaner zu einer Befragung nach Florenz berufen
wurde. Man stellte ihr einen gelehrten und demütigen Ordensbruder zur Seite,
Raimund von Capua, den künftigen Generalmeister des Ordens. Er wurde ihr
Beichtvater sowie auch ihr „geistlicher Sohn“ und verfasste eine erste
vollständige Biografie über Katharina. 1461 erfolgte ihre Heiligsprechung. Die
Lehre Katharinas, die mühsam das Lesen erlernte und des Schreibens erst mächtig
wurde, als sie bereits erwachsen war, ist im „Dialog von der göttlichen
Vorsehung oder Buch der göttlichen Lehre“ enthalten, einem Meisterwerk der
geistlichen Literatur, sowie in ihren Briefen und in der Sammlung von Gebeten.
Ihre Lehre ist so reich, dass der Diener Gottes Paul VI. sie 1970 zur
Kirchenlehrerin ernannte, ein Titel, der denen der Mitpatronin der Stadt Rom –
auf Willen des seligen Pius IX. – und der Patronin Italiens – nach einer
Entscheidung des ehrwürdigen Dieners Gottes Pius XII. – hinzugefügt wurde.
In einer Vision, die sich dem Geist und dem Herzen Katharinas
unauslöschlich eingeprägt hatte, stellte die Muttergottes sie Jesus vor, der
ihr einen wunderschönen Ring gab und zu ihr sagte: „Ich, dein Schöpfer und dein
Erlöser, vermähle mich dir im Glauben, den du immer rein bewahren wirst, bis du
mit mir im Himmel die ewige Hochzeit feierst“ (Raimund von Capua, Die hl.
Katharina von Siena, Legenda maior, Nr. 115). Jener Ring blieb nur für sie
sichtbar. In dieser besonderen Episode erfassen wir das wesentliche Zentrum der
Religiosität Katharinas und jeder echten Spiritualität: die Christozentrik.
Christus ist für sie wie der Gemahl, zu dem eine Beziehung der Vertrautheit,
der Gemeinschaft und der Treue besteht; Er ist das Gut, das mehr als alles
andere geliebt wird.
Diese tiefe Vereinigung mit dem Herrn wird durch eine andere
Episode im Leben dieser berühmten Mystikerin dargestellt: der Austausch der
Herzen. Raimund von Capua zufolge, der übermittelt, was Katharina ihm
anvertraut hat, erschien ihr der Herr Jesus mit einem glänzenden roten
menschlichen Herzen in der Hand, öffnete ihr die Brust, legte es hinein und
sagte: „Liebste Tochter, wie ich kürzlich dein Herz angenommen habe, das du mir
angeboten hast, schenke ich dir nun das meine, und von nun an wird es den Platz
einnehmen, an dem sich das deine befand“ (ebd.). Katharina hat wirklich die
Worte des heiligen Paulus gelebt: „...nicht mehr ich lebe, sondern Christus
lebt in mir“ (Gal 2, 20).
Wie die Heilige aus Siena verspürt jeder Gläubige das Bedürfnis,
sich den Empfindungen des Herzens Christi anzugleichen, um Gott und seinen Nächsten
so zu lieben, wie Christus liebt. Und wir alle können unser Herz verwandeln
lassen und lernen, wie Christus zu lieben, in einer Vertrautheit mit Ihm, die
durch des Gebet, das Nachdenken über das Wort Gottes und durch die Sakramente
gestärkt wird, vor allem durch den häufigen und andächtigen Empfang der
heiligen Kommunion. Auch Katharina gehört zu jener Schar der eucharistischen
Heiligen, mit denen ich mein Apostolisches Schreiben sacramentum Caritatis
(vgl. Nr. 94) abschließen wollte. Liebe Brüder und Schwestern, die Eucharistie
ist ein besonderes Geschenk der Liebe, die Gott uns gegenüber ständig erneuert,
um unseren Glaubensweg zu stärken, unsere Hoffnung zu nähren, unsere Liebe zu
entzünden und uns Ihm immer ähnlicher zu machen.
Um eine so starke und authentische Persönlichkeit sollte sich eine
eigene geistliche Familie bilden. Es handelte sich um Menschen, die von der
moralischen Glaubwürdigkeit dieser jungen Frau von einer äußerst
anspruchsvollen Lebensebene begeistert und manchmal auch von den mystischen
Erscheinungen, denen sie beiwohnten, von ihren häufigen Ekstasen, beeindruckt
waren. Viele stellten sich in ihren Dienst und betrachteten es vor allem als
ein Privileg, geistlich von Katharina geführt zu werden. Sie nannten sie
„Mutter“, da sie als geistliche Kinder von ihr die Nahrung des Geistes
empfingen.
Auch heute zieht die Kirche großen Nutzen aus der geistlichen
Mutterschaft so vieler geweihter und nicht geweihter Frauen, die in der Seele
den Gedanken an Gott nähren, den Glauben der Menschen stärken und das
christliche Leben auf immer größere Höhen ausrichten. „Ich nenne Euch Sohn“ –
schreibt Katharina an einen ihrer geistlichen Söhne, den Kartäuser Giovanni dei
Sabbatini – „da ich für Euch in ständigem Gebet und Verlangen vor Gottes
Angesicht gleichsam Geburtswehen erleide, genauso wie eine Mutter, die ihr Kind
zur Welt bringt“ (Brief 141).
An den Dominikanerbruder Bartolomeo Dominici wandte sie sich
gewöhnlich mit den Worten: „Liebster und teuerster Bruder und Sohn in Christus
Jesus“. Ein weiterer Wesenszug der Spiritualität Katharinas ist mit der Gabe
der Tränen verbunden. Sie bringen eine feine und tiefe Sensibilität, die
Fähigkeit zur Ergriffenheit und zur Zärtlichkeit zum Ausdruck. Nicht wenige
Heilige hatten die Gabe der Tränen und haben die Gemütsbewegung Jesu
nachempfunden, der seine Tränen am Grab des Freundes Lazarus und gegenüber der
Trauer von Maria und Marta sowie – in den letzten Tagen seines Erdenlebens –
angesichts Jerusalems nicht zurückgehalten und verborgen hat. Katharina zufolge
vermischen sich die Tränen der Heiligen mit dem Blut Christi, über das sie mit
leidenschaftlichen Worten und äußerst aussagestarken symbolischen Bildern
gesprochen hat „Erinnert euch an den gekreuzigten Christus, Gott und Mensch
(....). Blickt auf den gekreuzigten Christus, verbergt euch in den Wunden des
gekreuzigten Christus, taucht ein in das Blut des gekreuzigten Christus“ (Brief
16: An jemanden, dessen Name nicht genannt wird). Hier können wir verstehen,
warum Katharina, wenn auch im Bewusstsein der menschlichen Unzulänglichkeit der
Priester, ihnen immer große Verehrung entgegengebracht hat: Sie spenden durch
die Sakramente und das Wort, die heilbringende Kraft des Blutes Christi. Die
Heilige aus Siena hat die geistlichen Amtsträger immer aufgefordert – auch den
Papst, den sie den „süßen Christus auf Erden“ nannte – ihrer Verantwortung treu
zu sein, wobei sie immer und nur von ihrer tiefen und beständigen Liebe zur
Kirche bewegt wurde. Vor ihrem Tod sagte sie: „Wenn ich meinen Leib verlasse,
habe ich in Wahrheit mein Leben in der Kirche und für die heilige Kirche
verzehrt und hingegeben, was mir eine ganz besondere Gnade ist“ (Raimund von
Capua, Die heilige Katharina von Siena, Legenda maior, Nr. 363).
Von der heiligen Katharina lernen wir also die erhabenste
Wissenschaft: Jesus Christus und seine Kirche zu erkennen und zu lieben. Im
„Dialog von der göttlichen Vorsehung“ beschreibt sie Christus in einem
einzigartigen Bild als Brücke, die von der Erde zum Himmel gespannt ist. Diese
Brücke besteht aus drei Stufen: den Füßen, der Seitenwunde und dem Mund Jesu.
Die Seele, die diese drei Stufen emporsteigt, durchschreitet die drei
Abschnitte eines jeden Weges der Heiligung: die Abkehr von der Sünde, das
Ausüben der Tugenden und der Liebe, die süße und liebevolle Vereinigung mit
Gott.
Liebe Brüder und Schwestern, lernen wir von der heiligen
Katharina, Christus und die Kirche mutig und auf intensive und aufrichtige
Weise zu lieben. Machen wir uns daher die Worte der heiligen Katharina zu
eigen, die wir im „Dialog von der göttlichen Vorsehung“ am Schluss des Kapitels
lesen, das über Christus als Brücke spricht: „Aus Barmherzigkeit hast du uns
durch das Blut geläutert. Aus Barmherzigkeit wolltest du unter deinen
Geschöpfen leben. Oh du vor Liebe Wahnsinniger! Es war dir nicht genug, Mensch
zu werden, du wolltest auch noch sterben! (...) Oh Barmherzigkeit! Das Herz
ertrinkt darin, wenn es an dich denkt. Wohin ich mich in meinen Gedanken auch
wende, finde ich nichts als Barmherzigkeit“ (Kapitel 30).