Papst Benedikt XVI.
Generalaudienz am 3.11.10
Marguerite d'Oingt
Liebe Brüder und Schwestern!
Über ihre Kindheit ist uns
nichts bekannt, doch aus ihren Schriften können wir schließen, dass sie ruhig
verlaufen ist, in einem liebevollen familiären Umfeld. Denn um die unendliche
Liebe Gottes auszudrücken, verwendet Marguerite viele Bilder, die mit der
Familie verbunden sind, wobei sie besonders auf die Figur des Vaters und der
Mutter verweist. In einer ihrer Meditationen betet sie folgendermaßen: „Guter
und süßer Herr, wenn ich an die besondere Gnade denke, die du mir in deiner
Güte gewährt hast: vor allem, wie du von meiner Kindheit an für mich gesorgt
hast, und wie du mich vor den Gefahren dieser Welt bewahrt und mich berufen
hast, mich ganz in deinen heiligen Dienst zu stellen, und wie du für alle jene
Dinge Sorge getragen hast, derer ich bedurfte: Essen, Trinken, Kleidung,
Schuhe. Und du hast dies auf eine Weise getan, dass ich bei alldem nur an deine
große Barmherzigkeit denken konnte“ (Marguerite d'Oingt, Pagina Meditationum V,
100).
Ihren Meditationen
entnehmen wir weiter, dass sie, um auf den Ruf des Herrn zu antworten, in das Kartäuserinnenkloster
von Poleteins eintrat, dass sie alles verließ und die strenge Kartäuserregel
annahm, um ganz dem Herrn zu gehören und immer bei ihm zu sein. Sie schreibt:
„Süßer Herr, ich habe meinen Vater und meine Mutter, meine Geschwister und alle
Dinge dieser Welt aus Liebe zu dir verlassen; doch das ist äußerst wenig, da
die Reichtümer dieser Welt nur scharfe Dornen sind; und je mehr jemand davon
besitzt, desto unglücklicher ist er. Daher scheint es mir, als hätte ich nur
auf Elend und Armut verzichtet; doch du weißt, süßer Herr, wenn ich tausend
Welten besäße und nach meinem Belieben darüber verfügen könnte, würde ich aus
Liebe zu dir auf alles verzichten; und wenn du mir auch alles gäbest, was du im
Himmel und auf Erden besitzt, würde ich mich nicht glücklich schätzen, solange
ich dich nicht hätte, denn du bist das Leben meiner Seele; weder habe ich, noch
will ich Vater und Mutter haben außer dir“ (Pagina Meditationum, II, 32).
Auch über ihr Leben im
Kartäuserinnenkloster liegen uns wenige Daten vor. Wir wissen, dass sie 1288
seine vierte Priorin wurde, ein Amt, die sie bis zu ihrem Tod am 11. Februar
1310 bekleidete. Aus ihren Schriften gehen jedenfalls keine speziellen
Wendepunkte auf ihrem geistlichen Weg hervor. Sie betrachtet das ganze Leben als
einen Weg der Läuterung bis zur vollkommenen Gleichgestaltung mit Christus.
Christus ist das Buch, das täglich in das eigene Herz und in das eigene Leben
geschrieben und eingeprägt wird, vor allem sein heilbringendes Leiden. In ihrem
Werk „Speculum“ unterstreicht Marguerite, indem sie von sich selbst in der
dritten Person spricht, dass sich dank der Gnade des Herrn „das heilige Leben,
das Gott Jesus Christus auf Erden geführt hatte, sein gutes Beispiel und seine
gute Lehre in ihr Herz eingeprägt hatten. Sie hatte den süßen Jesus Christus so
sehr in ihr Herz geschlossen, dass ihr sogar schien, er sei gegenwärtig und
halte ein geschlossenes Buch in der Hand, um sie zu unterweisen. (...) In
diesem Buch fand sie das Leben beschrieben, das Jesus Christus auf Erden
geführt hatte, von seiner Geburt bis zu seiner Auffahrt in den Himmel“ (Pagina
Meditationum, I, 2–3. 12).
Täglich widmet sich
Marguerite vom frühen Morgen an dem Studium dieses Buches. Und wenn sie es
genau betrachtet hat, beginnt sie, im Buch ihres Gewissens zu lesen, das die
Falschheiten und Lügen ihres Lebens aufdeckt (vgl. ebd.); sie schreibt über
sich, um den Anderen zu helfen und um die Gnade der Gegenwart Gottes tiefer in
ihrem Herz zu verankern, um dafür zu sorgen, dass ihr Leben jeden Tag von der
Auseinandersetzung mit den Worten und Werken Jesu, mit dem Buch Seines Lebens
gezeichnet ist. So soll das Leben Christi auf feste und tiefe Weise ihrer Seele
eingeprägt werden, bis sie das Innere des Buches sehen, das heißt bis sie das
Geheimnis des dreifaltigen Gottes betrachten kann (Pagina Meditationum II,
14–22; III, 23–40).
Durch ihre Schriften
gewährt uns Marguerite diverse Einblicke in ihre Spiritualität und erlaubt uns,
einige Züge ihrer Personalität und ihrer Führungsgaben zu erfassen. Sie ist
eine sehr gebildete Frau: Sie schreibt gewöhnlich in Latein, der Sprache der
Gelehrten, doch sie schreibt ebenfalls in Frankoprovenzalisch, und auch das ist
eine Seltenheit: Ihre Werke sind so die ältesten in dieser Sprache verfassten
Schriften, die uns vorliegen. Sie lebt ein Leben, das reich an mystischen
Erfahrungen ist, die in aller Einfachheit beschrieben werden und das unsagbare
Geheimnis Gottes ahnen lassen, indem sie auf die Grenzen des Geistes hinweisen,
es zu erfassen, sowie auf die Unzulänglichkeit der menschlichen Sprache, es zu
beschreiben. Sie ist von einer geradlinigen, einfachen, offenen Persönlichkeit,
von äußerster Liebenswürdigkeit, großer Ausgeglichenheit und scharfem Verstand,
fähig, in die Tiefe des menschlichen Geistes einzudringen, seine Grenzen und
seine Ambiguität zu erfassen, doch auch das Verlangen, das Streben der Seele
nach Gott. Sie zeigt eine ausgeprägte Neigung zur Führung und verbindet ihr
tiefes mystisches geistliches Leben mit dem Dienst für die Schwestern und für
die Gemeinschaft. In diesem Sinn ist ein Abschnitt aus einem Brief an ihren
Vater bedeutsam: „Mein lieber Vater, ich möchte euch mitteilen, dass ich so
beschäftigt bin, dass es mir nicht möglich ist, den Geist guten Gedanken zu
widmen; ich habe so viel zu tun, dass ich nicht weiß, wo ich zuerst anfangen
soll. Wir haben im siebten Monat des Jahres kein Korn geerntet und unsere
Weinberge sind vom Sturm verwüstet worden. Außerdem befindet sich unsere Kirche
in einem so schlechten Zustand, dass wir gezwungen sind, einen Teil zu
erneuern“ (Briefe, III, 14).
Eine Kartäuserin umreißt
die Gestalt Marguerites folgendermaßen: „Durch ihr Wirken offenbart sie uns
eine faszinierende Persönlichkeit von lebhafter Intelligenz, die sehr viel
nachdenkt und gleichzeitig durch mystische Gnaden begünstigt wird: mit einem
Wort, eine heilige und kluge Frau, die mit einem gewissen Humor ein rein
geistliches Gefühlsleben auszudrücken weiß“ (Una Monaca Certosina, Certosine,
in „Dizionario degli Istituti di Perfezione“, Rom 1975, col. 777). In der
Dynamik des mystischen Lebens nutzt Marguerite vor allem die Erfahrung der
natürlichen, durch die Gnade geläuterten Gefühle, um das göttliche Wirken
tiefer zu verstehen und ihm bereitwilliger und eifriger assistieren zu können.
Der Grund liegt in der Tatsache, dass der Mensch nach dem Bild Gottes
geschaffen und daher aufgerufen ist, mit Gott eine wunderbare Geschichte der
Liebe zu gestalten, indem er sich ganz von seiner Initiative ergreifen lässt.
Der dreifaltige Gott, der
Gott, der die Liebe ist, der sich in Christus offenbart, fasziniert Marguerite
und sie lebt eine tiefe Liebesbeziehung zum Herrn. Im Gegensatz dazu sieht sie
die menschliche Undankbarkeit bis hin zur Bosheit, bis zum Paradox des Kreuzes.
Sie erklärt, das Kreuz Christi sei einem Gebärstuhl ähnlich. Die Schmerzen Jesu
am Kreuz werden mit denen einer Mutter verglichen. Sie schreibt: „Die Mutter,
die mich in ihrem Schoß getragen hat, hat einen Tag oder eine Nacht lang stark
gelitten, als sie mich das Licht der Welt erblicken ließ, doch du, lieber süßer
Herr, bist nicht nur einen Tag oder eine Nacht lang für mich gequält worden,
sondern länger als dreißig Jahre [...]; wie bitter hast du meinetwegen ein
ganzes Leben lang leiden müssen! Und als der Moment der Niederkunft gekommen
war, waren deine Geburtswehen so schmerzhaft, dass dein heiliger Schweiß wie
Blutstropfen über deinen ganzen Leib bis zum Boden rann“ (Pagina Meditationum,
I,33).
Wenn Marguerite die
Erzählungen der Passion Christi ins Gedächtnis zurückruft, betrachtet sie diese
Schmerzen mit tiefem Mitleid: „Man hat dich auf das harte Bett des Kreuzes
gelegt, sodass du dich nicht mehr bewegen oder drehen oder deine Glieder
bewegen konntest, wie es ein Mensch zu tun pflegt, der unter großen Schmerzen
leidet, da man dich ganz ausgestreckt und dir die Nägel eingeschlagen hat [...]
und [...] alle deine Muskeln und Adern sind zerrissen worden. [...] doch alle
diese Schmerzen [...] waren dir noch nicht genug, daher wolltest du, dass dir
die Seite von der Lanze so grausam durchbohrt wurde, dass dein fügsamer Leib
dadurch ganz zerfetzt und zerrissen wurde; und dein kostbares Blut strömte mit
solcher Gewalt hervor, dass es eine große Bahn bildete, als sei es ein großer
Fluss.“ Sich auf Maria beziehend sagt sie: „Es ist nicht verwunderlich, dass das
Schwert, das deinen Leib verletzt hat, auch in das Herz deiner herrlichen
Mutter gedrungen ist, die dir so gerne beistand [...] da deine Liebe größer war
als jede andere Liebe“ (Pagina Meditationum, II, 36–39. 42).
Liebe Freunde, Marguerite
d'Oingt lädt uns dazu ein, täglich die Schmerzen und die Liebe Jesu und seiner
Mutter Maria zu betrachten. Hier liegt unsere Hoffnung, findet sich der Sinn
unseres Daseins. Aus der Betrachtung der Liebe Christi entstehen uns die Kraft
und die Freude, mit ebensolcher Liebe zu antworten und unser Leben in den
Dienst Gottes und der anderen zu stellen. Mit Marguerite sagen auch wir: „Süßer
Herr, alles was du aus Liebe zu mir und zu allen Menschen vollbracht hast,
veranlasst mich dazu, dich zu lieben, doch das Gedenken an deine heiligste
Passion schenkt der Macht meiner Gefühle eine Kraft ohnegleichen, dich zu
lieben. Daher scheint mir [...] das gefunden zu haben, wonach ich so sehr
verlangte: nur dich, in dir oder aus Liebe zu dir zu lieben“ (Pagina
Meditationum, II, 46).
Auf den ersten Blick
scheint die Figur dieser mittelalterlichen Kartäuserin - sowie auch ihr ganzes
Leben und Denken – weit von uns, von unserem Leben, von unserer Art zu denken
und zu handeln entfernt zu sein. Doch wenn wir das Wesentliche dieses Lebens betrachten,
sehen wir, dass es auch uns berührt und dass auch unser Dasein sich diesem
Wesentlichen zuwenden sollte.
Wir haben gehört, dass
Marguerite den Herrn wie ein Buch betrachtet hat, sie hat den Blick fest auf
ihn gerichtet und ihn wie einen Spiegel betrachtet, in dem auch das eigene
Gewissen zu sehen ist. Und aus diesem Spiegel ist das Licht in ihre Seele
eingedrungen: sie hat das Wort, das Leben Christi in ihr Dasein hineingelassen
und ist so verwandelt worden; ihr Gewissen ist erleuchtet worden, hat Maßstäbe,
hat Erleuchtung gefunden und ist gereinigt worden. Gerade dessen bedürfen auch
wir: das Wort, das Leben, das Licht Christi in unser Gewissen hineinzulassen,
damit es erleuchtet werde, damit es versteht, was wahr und gut und was schlecht
ist; damit unser Gewissen erleuchtet und gereinigt werde. Unrat findet sich
nicht nur auf einigen Straßen der Welt. Auch in unserem Gewissen und in unseren
Seelen gibt es Unrat. Nur das Licht des Herrn, seine Kraft und seine Liebe
reinigen uns, läutern uns und führen uns auf den rechten Weg. Folgen wir also
der heiligen Marguerite in diesem Blick auf Christus. Lesen wir im Buch ihres
Lebens und lassen wir uns erleuchten und reinigen, um das wahre Leben zu
lernen. Danke.