Papst Benedikt XVI.
Generalaudienz am 28.10.09
Theologie des
Mittelalters (1)
Liebe Brüder und Schwestern!
Auch die Theologie erlebte
eine neue Blüte und wurde sich ihres Wesens stärker bewusst: Sie verfeinerte
ihre Methode, behandelte neue Fragen, machte Fortschritte in der Betrachtung
der Geheimnisse Gottes, brachte grundlegende Werke hervor, regte wichtige
kulturelle Initiativen an, von der Kunst bis zur Literatur, und bereitete die
Meisterwerke des kommenden Jahrhunderts vor, des Jahrhunderts Thomas von Aquins
und Bonaventuras. In zwei Umfeldern entwickelte sich diese blühende
theologische Aktivität: den Klöstern und den städtischen Kathedralschulen, den
„scholae“, von denen einige bald die Universitäten hervorbringen sollten, die
eine der typischen „Erfindungen“ des christlichen Mittelalters darstellen.
Gerade von diesen beiden Umfeldern ausgehend, den Klöstern und den „scholae“,
kann man von zwei verschiedenen Modellen der Theologie sprechen: der
monastischen Theologie und der scholastischen Theologie. Die Vertreter der
monastischen Theologie waren Mönche – in der Regel Äbte – die mit Weisheit und
Eifer für das Evangelium ausgestattet waren und sich im wesentlichen dem
Bemühen widmeten, das liebende Verlangen nach Gott hervorzurufen und zu
stärken. Die Vertreter der scholastischen Theologie waren gebildete Männer, die
mit Begeisterung forschten; „Magister“, die gerne die Vernünftigkeit und die
Begründetheit der Geheimnisse Gottes und des Menschen zeigen wollten, die
gewiss im Glauben angenommen, doch auch von der Vernunft verstanden werden. Die
unterschiedlichen Absichten erklären die Unterschiede ihrer Methoden und ihrer
Weise, Theologie zu betreiben.
In den Klöstern des
zwölften Jahrhunderts war die theologische Methode hauptsächlich an die
Erklärung der Heiligen Schrift gebunden, der „sacra pagina“, um es mit den
Autoren jener Zeit zu sagen; es wurde vor allem die biblische Theologie
praktiziert. Die Mönche waren alle ergebene Zuhörer und Leser der Heiligen
Schrift und eine ihrer Hauptbeschäftigungen bestand in der „lectio divina“, also
in der betenden Lektüre der Bibel. Für sie reichte die einfache Lektüre des
heiligen Textes nicht aus, um den tiefen Sinn, die innere Einheit und die
transzendente Botschaft zu erfassen. Es bedurfte daher einer „geistlichen
Lesung“ im fügsamen Hören auf den Heiligen Geist. Der Lehre der Kirchenväter
entsprechend wurde die Bibel also allegorisch interpretiert, um auf jeder Seite
sowohl des Alten als auch des Neuen Testaments zu entdecken, was über Christus
und sein Heilswerk gesagt wird.
Die Bischofssynode des
vergangenen Jahres über „Das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der
Kirche“ hat in Erinnerung gerufen, wie wichtig der geistliche Zugang zur
Heiligen Schrift ist. Zu diesem Zweck ist es hilfreich, die monastische
Theologie, eine ununterbrochene biblische Exegese zu beherzigen, sowie auch die
von ihren Vertretern verfassten Werke, wertvollen religiösen Kommentaren zu den
Büchern der Bibel. Die monastische Theologie verband die literarische mit der
spirituellen Bildung. Sie war sich also bewusst, dass eine rein theoretische
und weltliche Lektüre nicht ausreicht: Um in das Herz der Heiligen Schrift
einzudringen, muss sie in dem Geist gelesen werden, in dem sie geschrieben und
geschaffen worden ist.
Die literarische Bildung
war notwendig, um die genaue Bedeutung der Worte zu kennen und das Verständnis
des Textes durch ein verfeinertes grammatisches und philologisches Empfinden zu
erleichtern. Julien Leclercq, ein benediktinischer Gelehrter aus dem
vergangenen Jahrhundert, hat daher seine Abhandlung über die Besonderheiten der
monastischen Theologie mit dem Titel „L'amour des lettres et le désir de Dieu“
(Die Liebe zum Wort und das Verlangen nach Gott) versehen. Tatsächlich führt
der Wunsch, Gott zu kennen und zu lieben – der uns durch sein Wort, das angenommen,
meditiert und praktiziert werden muss, entgegenkommt – dazu, die biblischen
Texte in allen Dimensionen vertiefen zu wollen. Und auf einer weiteren Haltung
bestehen diejenigen, die die monastische Theologie betreiben: einer inneren
Haltung des Gebets, die dem Studium der heiligen Schrift vorausgeht, es
begleitet und vervollständigen muss. Da die monastische Theologie letztlich
Hören auf das Wort Gottes ist, muss man sein Herz läutern, um es aufzunehmen;
das Herz muss vor Leidenschaft glühen, um dem Herrn zu begegnen. Die Theologie
wird daher Meditation, Gebet, Lobgesang und drängt zu ernsthafter Umkehr. Nicht
wenige Vertreter der monastischen Theologie haben auf diese Weise das höchste
Ziel der mystischen Erfahrung erreicht und stellen auch für uns eine
Aufforderung dar, unser Dasein durch das Wort Gottes zu stärken, indem wir etwa
– vor allem in der Sonntagsmesse – aufmerksamer auf die Lesungen und das
Evangelium hören. Außerdem ist es wichtig, der Bibelmeditation jeden Tag eine
gewisse Zeit vorzubehalten, damit das Wort Gottes ein Licht sei, dass unseren täglichen Weg auf der Erde erleuchte.
Die scholastische Theologie
hingegen wurde – wie ich schon sagte – in den „scholae“ betrieben, die im
Umfeld der großen Kathedralen dieser Epoche entstanden, um den Klerus
auszubilden, oder im Umfeld eines großen Lehrers der Theologie und seiner
Schüler, um in einer Zeit, in der sich das Wissen immer größerer Wertschätzung
erfreute, für eine professionelle kulturelle Ausbildung zu sorgen. In der
Methode der Scholastiker war die „quaestio“ von zentraler Bedeutung, also das
Problem, das sich dem Leser stellt, wenn er sich mit den Worten der Schrift und
der Überlieferung beschäftigt. Angesichts des Problems, das diese maßgebenden
Texte stellen, ergeben sich Fragen und entsteht eine Diskussion zwischen dem
Lehrer und den Studierenden. In dieser Diskussion stehen auf der einen Seite
die Argumente der autoritativen Quellen, auf der anderen die der Vernunft, und
die Diskussion entwickelt sich dahin, am Ende eine Synthese zwischen
autoritativen Quellen und Vernunft zu finden, um zu einem tieferen Verständnis
des Wortes Gottes zu gelangen. Dazu sagt der heilige Bonaventura, dass die
Theologie „per additionem“ (vgl. Commentaria in quatuor libros sententiarum, I,
proem., q. 1, concl.) sei, das heißt, die Theologie fügt dem Wort Gottes die
Dimension der Vernunft hinzu und schafft so einen tieferen, persönlicheren und
schließlich auch für das menschliche Leben konkreteren Glauben. In diesem Sinne
fanden sich verschiedene Lösungen und bildeten sich Schlussfolgerungen, die den
Anfang für den Aufbau eines Systems der Theologie bildeten. Die Gliederung der
„quaestiones“ führte zur Abfassung immer umfassenderer Synthesen, das heißt man
stellte die verschiedenen „quaestiones“ mit den daraus hervorgegangenen
Antworten zusammen und schaffte so eine Synthese, die sogenannten „Summen“ –
eigentlich umfangreiche theologisch-dogmatische Abhandlungen, die aus der
Gegenüberstellung von menschlicher Vernunft und Wort Gottes entstanden waren.
Die scholastische Theologie
zielte darauf ab, die Einheit und die Harmonie der christlichen Offenbarung mit
einer Methode aufzuzeigen, welche die Bezeichnung „scholastisch“ von der Schule
her hatte, die der menschlichen Vernunft Vertrauen einräumt: Die Grammatik und
die Philologie stehen im Dienst des theologischen Wissens, mehr aber noch die
Logik, also jene Disziplin, die untersucht, wie das menschliche Schlussfolgern
„funktioniert“, damit die Wahrheit eines Satzes deutlich sichtbar wird. Auch
heute noch beeindrucken beim Lesen der scholastischen „Summen“ die Ordnung, die
Klarheit und die logische Verkettung der Argumente sowie die Tiefe einiger
Einsichten. Jedem Wort wird in der Fachsprache eine genaue Bedeutung
zugeschrieben, und zwischen Glauben und Verstehen wird eine Bewegung
gegenseitiger Klärung hergestellt.
Liebe Brüder und
Schwestern, der Aufforderung des ersten Petrusbriefes nachkommend regt uns die
scholastische Theologie dazu an, immer bereit zu sein, jedem Rede und Antwort
zu stehen, der nach dem Grund der Hoffnung fragt, die uns erfüllt (vgl. 3, 15).
Sie regt uns an, die Fragen als unsere zu empfinden und so auch eine Antwort
geben zu können. Sie ruft uns in Erinnerung, dass zwischen Glaube und Vernunft
eine natürliche Freundschaft besteht, die in der Schöpfungsordnung selbst
begründet ist.
Der Diener Gottes Johannes
Paul II. schreibt im „Incipit“ der Enzyklika „Fides et ratio“: „Glaube und
Vernunft sind wie die beiden Flügel, mit denen sich der menschliche Geist zur Betrachtung
der Wahrheit erhebt“. Der Glaube ist offen für das Bemühen um Verstehen seitens
der Vernunft; die Vernunft ihrerseits erkennt, dass der Glaube sie nicht
herabsetzt, sondern sie zu weiteren und höheren Horizonten treibt. Hier fügt
sich die ewige Lehre der monastischen Theologie ein. Glaube und Vernunft
erbeben vor Freude im gegenseitigen Dialog, wenn sie beide von der Suche nach
der engen Vereinigung mit Gott beseelt sind. Wenn die Liebe die betende
Dimension der Theologie belebt, erweitert sich die durch die Vernunft erworbene
Erkenntnis. Die Wahrheit wird mit Demut gesucht, mit Staunen und Dankbarkeit
angenommen: Mit einem Wort, die Erkenntnis wächst nur, wenn sie die Wahrheit
liebt. Die Liebe wird Klugheit und die Theologie wirkliche Weisheit des
Herzens, die dem Glauben und dem Leben der Gläubigen Orientierung und Hilfe
gibt. Beten wir also, dass der Weg der Erkenntnis und der Vertiefung der
göttlichen Geheimnisse immer von der göttlichen Liebe erleuchtet sein möge.