Papst Benedikt XVI.
Generalaudienz am 14.9.11
Die Klage des Gerechten in Psalm 22
Liebe Brüder und Schwestern!
Dieser Psalm stellt uns die Gestalt eines Unschuldigen vor Augen, der
verfolgt und von Feinden umringt wird, die seinen Tod wollen; er aber nimmt
Zuflucht zu Gott in einer schmerzerfüllten Klage, die sich in der Gewissheit
des Glaubens auf geheimnisvolle Weise dem Lobpreis öffnet. In seinem Gebet
wechseln sich die bedrängende Wirklichkeit der Gegenwart und die tröstliche
Erinnerung an die Vergangenheit ab, während er sich seine verzweifelte
Situation schmerzlich bewusst macht, wobei er jedoch nicht von der Hoffnung
ablassen will. Sein anfänglicher Schrei ist ein Aufruf, der sich an einen Gott
richtet, der weit weg scheint, der nicht antwortet und ihn scheinbar verlassen
hat: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bist fern meinem
Schreien, den Worten meiner Klage? Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du gibst
keine Antwort; ich rufe bei Nacht und finde doch keine Ruhe" (V. 2–3).
Gott schweigt, und dieses Schweigen zerreißt dem Beter das Herz, der
unaufhörlich ruft, aber keine Antwort erhält. Tage und Nächte folgen einander,
während er unermüdlich auf ein Wort wartet, eine Hilfe, die nicht kommt; Gott
scheint so weit fort, scheint ihn vergessen zu haben, scheint abwesend zu sein.
Das Gebet bittet um Anhörung und Antwort, es drängt auf Kontakt, es sucht nach
einer Beziehung, die Trost und Rettung schenken kann. Doch wenn Gott nicht
antwortet, verliert sich der Hilferuf im Leeren und die Einsamkeit wird
unerträglich. Und doch nennt der Beter in unserem Psalm den Herrn in seinem Ruf
ganze dreimal "mein" Gott, in einem äußersten Akt des Vertrauens und des
Glaubens. Allem Anschein zum Trotz kann der Psalmist nicht glauben, dass die
Verbindung zum Herrn vollkommen abgebrochen ist; und während er nach dem Warum
eines scheinbaren, unverständlichen Verlassenseins fragt, sagt er, dass "sein"
Gott ihn nicht verlassen kann. Der Anfangsruf des Psalms: "Mein Gott, mein
Gott, warum hast du mich verlassen?", wird bekanntlich von den Evangelien des
Matthäus und des Markus als der Ruf wiedergegeben, den Jesus sterbend am Kreuz
ausgestoßen hat (vgl. Mt 27, 46; Mk 15, 34). Er bringt die ganze Verzweiflung
des Messias, des Sohnes Gottes, zum Ausdruck, der sich dem Drama des Todes
gegenübersieht, einer Wirklichkeit, die dem Herrn des Lebens total
entgegengesetzt ist. Von den Seinen fast gänzlich verlassen, von Jüngern
verraten und verleugnet, umgeben von Menschen, die ihn verhöhnen, findet sich
Jesus unter dem erdrückenden Gewicht eines Auftrags, der durch Demütigung und
Zerstörung führen muss. Daher ruft er zum Vater, und sein Leiden nimmt die
schmerzerfüllten Worte des Psalms an. Sein Ruf ist jedoch nicht verzweifelt,
genau so wenig, wie der des Psalmisten, der in seiner Bitte einen schwierigen
Weg zurücklegt, der aber schließlich in einer Perspektive des Lobpreises
mündet, im Vertrauen auf den göttlichen Sieg.
Da nach jüdischem Brauch das Zitieren der Anfangsworte eines Psalms auf
den gesamten Inhalt verwies, öffnet sich das schmerzliche Gebet Jesu,
wenngleich es weiterhin unsagbares Leid zum Ausdruck bringt, der Gewissheit der
Herrlichkeit. "Musste nicht der Messias all das erleiden, um so in seine
Herrlichkeit zu gelangen?", wird der Auferstandene den Jüngern von Emmaus sagen
(Lk 24, 26). In seinem Leiden, im Gehorsam gegenüber dem Vater, geht Jesus, der
Herr, durch Verlassenheit und Tod, um zum Leben zu gelangen und es allen
Gläubigen zu schenken.
Das Volk Israel kann die Treue des Herrn bezeugen
Diesem anfänglichen Bittruf in unserem Psalm 22 folgt in schmerzlichem
Kontrast die Erinnerung an die Vergangenheit: "Dir haben unsre Väter vertraut,
sie haben vertraut und du hast sie gerettet. Zu dir riefen sie und wurden
befreit, dir vertrauten sie und wurden nicht zuschanden" (V. 5–6).
Jener Gott, der heute dem Psalmisten so weit entfernt scheint, ist der
barmherzige Herr, den Israel im Laufe seiner Geschichte stets erfahren hat. Das
Volk, dem der Beter angehört, war Gegenstand der Liebe Gottes und kann Seine
Treue bezeugen. Angefangen bei den Patriarchen, dann in Ägypten und bei der
langen Wanderung durch die Wüste, beim Aufenthalt im gelobten Land, in der Nähe
von aggressiven und feindlichen Völkern, bis zum Dunkel des Exils war die ganze
biblische Geschichte eine Geschichte der Rufe um Hilfe seitens des Volkes und
heilbringender Antworten seitens Gottes. Der Psalmist bezieht sich auf den
unerschütterlichen Glauben seiner Väter, die "vertrauten" – dreimal wird dieses
Wort wiederholt –, ohne je enttäuscht zu werden. Nun jedoch scheint diese Kette
der vertrauensvollen Anrufungen und der göttlichen Antworten unterbrochen zu
sein; die Situation des Psalmisten scheint die ganze Heilsgeschichte zu
widerrufen und so die Gegenwart noch schmerzlicher zu machen.
Doch Gott kann nicht widerrufen werden, und so kehrt das Gebet also
wieder dahin zurück, die schmerzliche Lage des Beters zu beschreiben, um den
Herrn zu veranlassen, Mitleid zu haben und einzugreifen, wie er es in der
Vergangenheit immer getan hat. Der Psalmist bezeichnet sich als "Wurm und kein
Mensch, der Leute Spott, vom Volk verachtet" (V. 7), er wird verlacht und
verhöhnt (vgl. V. 8) und gerade in seinem Glauben verletzt: "Er wälze die Last
auf den Herrn, der soll ihn befreien! Der reiße ihn heraus, wenn er an ihm
Gefallen hat" (V. 9), sagen sie. Unter den spöttischen Hieben von Ironie und
Verachtung scheint es fast, als verliere der Verfolgte sein menschliches
Aussehen, wie der leidende Gottesknecht, der im Buch Jesaja skizziert wird
(vgl. Jes 52, 14; 53, 2b–3). Und wie der Gerechte im Buch der Weisheit, der
unterdrückt wird (vgl. 2, 12–20), wie Jesus auf Golgota (vgl. Mt 27, 39–43),
sieht der Psalmist die Beziehung zu seinem Herrn in Frage gestellt, in dieser
grausamen und sarkastischen Hervorhebung dessen, was ihn leiden lässt: das
Schweigen Gottes, Seine scheinbare Abwesenheit. Und doch ist Gott im Leben des
Beters mit unbestreitbarer Nähe und Güte gegenwärtig gewesen. Der Psalmist ruft
es dem Herrn in Erinnerung: "Du bist es, der mich aus dem Schoß meiner Mutter
zog, mich barg an der Brust der Mutter. Von Geburt an bin ich geworfen auf
dich" (V. 10–11a). Der Herr ist der Gott des Lebens, der das Neugeborene zur
Welt kommen lässt und annimmt und sich mit väterliche Liebe um es kümmert. Und
wenn zuerst an die Treue Gottes in der Geschichte des Volkes erinnert worden
ist, gedenkt der Beter nun der Geschichte seiner persönlichen Beziehung zum
Herrn, indem er zu dem besonders wichtigen Moment zurückgeht, an dem sein Leben
begann. Und dort erkennt der Psalmist, trotz der gegenwärtigen Verzweiflung,
eine so tiefe göttliche Nähe und Liebe, dass er nun in einem Bekenntnis, das
von Glauben erfüllt ist und Hoffnung stiftet, ausrufen kann: "Vom Mutterleib an
bist du mein Gott" (V. 11b).
Die Klage wird nun zur drängenden Bitte: "Sei mir nicht fern, denn die
Not ist nahe und niemand ist da, der hilft" (V. 12). Die einzige Nähe, die der
Psalmist wahrnimmt und die ihm Angst macht, ist die Nähe der Feinde. Es ist
also notwendig, dass Gott sich nähert und zur Hilfe kommt, denn die Feinde
umgeben den Beter, sie umringen ihn, sie sind wie gewaltige Stiere, wie reißende,
brüllende Löwen, die ihre Rachen aufreißen (vgl. V. 13–14). Die Angst verändert
die Wahrnehmung der Gefahr und lässt sie größer erscheinen. Die Feinde scheinen
unbesiegbar, sie sind wilde und gefährliche Tiere geworden, während der
Psalmist wie ein kleiner Wurm ist, ohnmächtig, ohne irgendeinen Schutz. Doch
diese im Psalm verwendeten Bilder dienen auch dazu, zu sagen, dass, wenn der
Mensch brutal wird und seinen Bruder angreift, etwas Tierisches die Oberhand in
ihm gewinnt. Er scheint jede Ähnlichkeit mit einem Menschen zu verlieren; die
Gewalt hat immer etwas Bestialisches an sich und nur das heilbringende
Eingreifen Gottes kann dem Menschen seine Menschlichkeit wiedergeben. Nun, für
den Psalmisten, der Opfer eines solch schrecklichen Angriffs ist, scheint es
keinen Ausweg mehr zu geben und der Tod beginnt, von ihm Besitz zu ergreifen:
"Ich bin hingeschüttet wie Wasser, gelöst haben sich all meine Glieder. (...)
Meine Kehle ist trocken wie eine Scherbe, die Zunge klebt mir am Gaumen, (...)
Sie verteilen unter sich meine Kleider und werfen das Los um mein Gewand" (V.
15.16.19). Mit dramatischen Bildern, die wir im Leidensbericht Christi
wiederfinden, wird die leibliche Auflösung des Verurteilten beschrieben, der
unerträgliche Durst, der den Sterbenden quält und in der Aussage Jesu "Mich
dürstet" (Joh 19, 28) Widerhall findet, um schließlich zu der Geste der
Peiniger zu gelangen, die, wie die Soldaten unter dem Kreuz, die Kleider des
Opfers, das sie schon für tot halten, untereinander aufteilen (vgl. Mt 27, 35;
Mk 15, 24; Lk 23, 34; Joh 19, 23–24).
Und nun kommt, drängend, von neuem die Bitte um Hilfe: " Du aber, Herr,
halte dich nicht fern! Du, meine Stärke, eil mir zu Hilfe! (...) Rette mich"
(V. 20.22a). Das ist ein Ruf, der die Himmel öffnet, da er einen Glauben
bekennt, eine Gewissheit, die über jeden Zweifel, jede Dunkelheit und jede
Verzweiflung erhaben ist. Und die Klage verwandelt sich, sie weicht dem Lob in
der Annahme des Heils: "Du hast mir geantwortet. Ich will deinen Namen meinen
Brüdern verkünden, inmitten der Gemeinde dich preisen" (vgl. V. 23). So öffnet
sich der Psalm der Danksagung, der großen abschließenden Lobeshymne, die das
ganze Volk einbezieht, die Gläubigen des Herrn, die liturgische Versammlung,
die künftigen Generationen (vgl. V. 24–32). Der Herr ist zu Hilfe gekommen, er
hat den Armen gerettet und ihm sein barmherziges Antlitz gezeigt. Tod und Leben
sind einander in einem untrennbaren Geheimnis begegnet, und das Leben hat
gesiegt, der Gott des Heils hat sich als uneingeschränkter Herr erwiesen, den
alle Enden der Erde feiern und vor dem alle Stämme der Völker sich niederwerfen
werden. Es ist der Sieg des Glaubens, der den Tod in ein Geschenk des Lebens
verwandeln kann, den abgrundtiefen Schmerz in eine Quelle der Hoffnung.
Liebste Brüder und Schwestern, dieser Psalm hat
uns nach Golgota geführt, unter das Kreuz Jesu, um sein Leiden nachzuerleben
und an der fruchtbaren Freude der Auferstehung teilzuhaben. Lassen wir uns also
auch angesichts der scheinbaren Abwesenheit Gottes, auch des Schweigens Gottes,
vom Licht des Ostergeheimnisses durchdringen und lernen wir, wie die Jünger von
Emmaus, die wahre Wirklichkeit über allem Schein hinaus auszumachen und den Weg
der Verherrlichung gerade in der Demütigung zu erkennen und den vollen Ausdruck
des Lebens im Tod, im Kreuz. So, indem wir unser ganzes Vertrauen und unsere
ganze Hoffnung auf Gott, den Vater, setzen, werden auch wir in jeder Angst
voller Glauben zu Ihm beten können, und unser Hilferuf wird sich in einen
Lobgesang verwandeln. Danke.