Papst Benedikt XVI.
Generalaudienz am 7.12.11
Gebet im NT: Messianischer Jubelruf
Liebe Brüder und Schwestern!
Der Jubelruf ist der Höhepunkt eines Weges des Gebets, bei dem sich
klar die tiefe und innige Gemeinschaft Jesu mit dem Leben des Vaters im
Heiligen Geist zeigt und seine göttliche Sohnschaft sich offenbart.
Jesus nennt Gott "Vater", wenn er sich an ihn wendet. Dieses Wort
drückt das Bewusstsein und die Gewissheit Jesu aus, "der Sohn" zu sein, in
enger und ständiger Gemeinschaft mit Ihm, und das ist der zentrale Punkt und
die Quelle allen Betens Jesu. Das sehen wir deutlich im letzten Teil des
Loblieds, der den ganzen Text erhellt. Jesus sagt: "Mir ist von meinem Vater
alles übergeben worden; niemand weiß, wer der Sohn ist, nur der Vater, und
niemand weiß, wer der Vater ist, nur der Sohn und der, dem es der Sohn
offenbaren will" (Lk 10, 22). Jesus erklärt also, dass nur "der Sohn" den Vater
wirklich kennt. Wenn Menschen einander kennen – das erfahren wir alle in
unseren Beziehungen – bringt das immer ein Einbezogensein mit sich, eine
gewisse innere Beziehung, auf einer mehr oder weniger tiefen Ebene, zwischen
dem, der kennt, und dem, der gekannt wird: ohne eine Gemeinschaft des Seins kann
man sich nicht kennen.
In diesem Jubelruf, so wie in all seinem Beten, zeigt Jesus, dass die
wahre Kenntnis Gottes die Gemeinschaft mit Ihm voraussetzt: nur indem ich mit
dem anderen in Gemeinschaft bin, beginne ich zu erkennen; das gilt auch für
Gott: Nur wenn ich eine wirkliche Verbindung habe, wenn ich in Gemeinschaft
bin, kann ich Ihn auch erkennen. Die wahre Kenntnis ist also dem eingeborenen
"Sohn" vorbehalten, der von jeher am Herzen des Vaters ruht (vgl. Joh 1, 18),
in vollkommener Einheit mit Ihm. Nur der Sohn kennt Gott wirklich, da er in
einer innigen Seinsgemeinschaft mit Ihm ist; nur der Sohn kann wirklich
offenbaren, wer Gott ist.
Dem Begriff "Vater" folgt eine zweite Bezeichnung "Herr des Himmels und
der Erde". Jesus fasst mit diesem Ausdruck den Glauben an die Schöpfung
zusammen und lässt die ersten Worte der Heiligen Schrift anklingen: "Im Anfang
schuf Gott Himmel und Erde" (Gen 1, 1). Betend ruft Er die große biblische
Erzählung über die Geschichte der Liebe Gottes zu den Menschen in Erinnerung,
die mit dem Schöpfungsakt beginnt. Jesus fügt sich ein in diese Geschichte der
Liebe, er ist ihr Höhepunkt und ihre Erfüllung. In seiner Erfahrung des Betens
wird die Heilige Schrift erleuchtet, und sie erwacht zu neuem Leben in ihrer
ganzen Fülle: Verkündigung des göttlichen Geheimnisses und Antwort des
verwandelten Menschen. Doch durch den Ausdruck "Herr des Himmels und der Erde"
können wir auch erkennen, wie in Jesus, dem Offenbarer des Vaters, dem Menschen
die Möglichkeit des Zugangs zu Gott neu eröffnet wird.
Stellen wir uns nun die Frage: wem will der Sohn die Geheimnisse Gottes
offenbaren? Zu Beginn des Loblieds bringt Jesus seine Freude darüber zum
Ausdruck, dass es der Wille des Vaters ist, all das den Weisen und Klugen zu
verbergen und es den Unmündigen, den Kleinen, zu offenbaren (vgl. Lk 10, 21).
In diesem Ausdruck seines Gebets zeigt Jesus seine Gemeinschaft mit der
Entscheidung des Vaters, der seine Geheimnisse denen erschließt, die ein
einfaches Herz haben: der Wille des Sohnes ist eins mit dem des Vaters. Die
göttliche Offenbarung erfolgt nicht nach der irdischen Logik, nach der die
Gelehrten und Mächtigen diejenigen sind, die wichtige Kenntnisse besitzen und
sie den einfachen Menschen, den Unmündigen, den Kleinen vermitteln. Gott hat
eine ganz andere Vorgehensweise gewählt: die Empfänger seiner Botschaft sind
gerade die "Kleinen". Das ist der Wille des Vaters, und der Sohn stimmt freudig
damit überein. Im Katechismus der Katholischen Kirche heißt es: "In seinem
Jubelruf ,Ja, Vater', äußert sich die Tiefe seines Herzens: das Einverständnis
mit dem, was dem Vater gefällt. Es klingt das ,Fiat' der Mutter Jesu bei seiner
Empfängnis nach. Der Ausruf Christi ist wie ein Vorspiel zu dem Ja, das er dem
Vater vor seinem Tod sagen wird. Das ganze Gebet Jesu hat seinen Platz in
dieser liebenden Zustimmung seines menschlichen Herzens gegenüber dem Vater und
dem ,Geheimnis seines Willens' (Eph 1, 9)" (2603).
Hierher stammt der Ruf, den wir im "Vater unser" an Gott richten: "Dein
Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden": Gemeinsam mit Christus und in
Christus bitten auch wir, in Übereinstimmung mit dem Willen des Vaters zu
treten, damit so auch wir seine Kinder werden. Jesus bringt daher in diesem
Jubelruf den Willen zum Ausdruck, alle in seine kindhafte Kenntnis Gottes
einzubeziehen, die der Vater daran teilhaben lassen möchte; und diejenigen, die
dieses Geschenk annehmen, sind die "Kleinen".
Doch was heißt das, "klein" sein, einfach sein? Was ist die
"Kleinheit", die den Menschen für die kindhafte Nähe zu Gott öffnet und darauf,
Seinen Willen anzunehmen? Was muss die Grundhaltung unseres Betens sein?
Blicken wir auf die "Bergpredigt", wo Jesus sagt: "Selig, die ein reines Herz
haben; denn sie werden Gott schauen" (Mt 5, 8). Es ist die Reinheit des
Herzens, die es erlaubt, das Antlitz Gottes in Jesus Christus zu erkennen; ein
einfaches Herz zu haben, wie die Kinder, ohne die Anmaßung dessen, der sich in
sich selbst verschließt und denkt, er brauche niemanden, nicht einmal Gott.
Es ist auch interessant, bei welcher Gelegenheit Jesus in dieses
Loblied an den Vater ausbricht. In der Erzählung des Matthäusevangeliums ist es
die Freude darüber, dass trotz des Widerstands und der Ablehnung, die ihm entgegengebracht
werden, die "Kleinen" sein Wort annehmen und sich dem Geschenk des Glaubens an
Ihn öffnen. So geht dem Jubelruf der Kontrast zwischen dem Lobpreis Johannes
des Täufers, einem der "Kleinen", die das Handeln Gottes in Christus Jesus
erkannt haben (vgl. Mt 11, 2–19), und dem Vorwurf über die Ungläubigkeit der
Städte am See voraus, "in denen er die meisten Wunder getan hatte" (vgl. Mt 11,
20–24). Der Lobpreis wird also von Matthäus in Bezug auf die Worte gesehen, mit
denen Jesus die Wirkmächtigkeit seiner Worte und Taten konstatiert: "Geht und
berichtet Johannes, was ihr hört und seht: Blinde sehen wieder und Lahme gehen,
Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und den Armen wird das
Evangelium verkündet. Selig ist, wer an mir keinen Anstoß nimmt" (Mt 11, 4–6).
Auch der heilige Lukas zeigt den Jubelruf in Verbindung mit einem
Moment der Entwicklung in der Verkündigung des Evangeliums. Jesus hat
"zweiundsiebzig" (Lk 10, 1) Jünger ausgesandt, und sie sind aufgrund eines
möglichen Misserfolgs ihrer Sendung mit einem ängstlichen Gefühl aufgebrochen.
Auch Lukas weist auf die Ablehnung hin, denen man in den Städten begegnete, in
denen der Herr gepredigt und seine Wunder gewirkt hatte. Doch die
zweiundsiebzig Jünger kehren voller Freude zurück, weil ihre Sendung
erfolgreich war; sie haben festgestellt, dass mit der Kraft des Wortes Jesu das
Böse des Menschen besiegt werden kann. Und Jesus teilt ihre Zufriedenheit: "in
dieser Stunde", in diesem Moment, war Er voll Freude.
Es gibt noch zwei Elemente, auf die ich hinweisen möchte. Der
Evangelist Lukas leitet das Gebet mit der Bemerkung ein: "Jesus (rief), vom
Heiligen Geist erfüllt, voll Freude aus..." (Lk 10, 21). Jesus freut sich aus
seinem Inneren heraus, in dem, was seinen tiefsten Kern ausmacht: die
einzigartige Gemeinschaft des Kennens und der Liebe mit dem Vater, die Fülle
des Heiligen Geistes.
Indem er uns in seine Sohnschaft einbezieht, ruft Jesus auch uns dazu
auf, uns dem Licht des Heiligen Geistes zu öffnen, denn – wie der Apostel
Paulus sagt – "wir wissen nicht, worum wir in rechter Weise beten sollen; der
Geist selber tritt jedoch für uns ein mit Seufzen .... so, wie Gott es will"
(Röm 8, 26–27), und offenbart uns die Liebe des Vaters. Im Evangelium nach
Matthäus finden wir nach dem Jubelruf einen der bewegendsten Aufrufe Jesu:
"Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich
werde euch Ruhe verschaffen" (Mt 11, 28). Jesus bittet, zu Ihm, der wahren
Hoffnung, zu kommen, zu Ihm, der "gütig und von Herzen demütig" ist; er
empfiehlt Sein "Joch", den Weg der Weisheit des Evangeliums, der weder eine
Lehre ist, die man lernen muss, noch ein Ethikentwurf, sondern eine Person, der
man folgen soll: Er selbst, der eingeborene Sohn, in vollkommener Gemeinschaft
mit dem Vater.
Liebe Brüder und Schwestern, einen Moment lang haben wir uns am
Reichtum dieses Gebets Jesu erfreut. Auch wir können uns mit der Gabe Seines
Geistes im Gebet an Gott wenden und ihn mit kindhaftem Vertrauen mit dem Namen
des Vaters, "Abba", anrufen. Doch wir müssen das Herz der Unmündigen, der
Kleinen, haben, derer, "die arm sind vor Gott" (Mt 5, 3), um zu erkennen, dass
wir nicht selbstständig sind, dass wir unser Leben nicht allein aufbauen
können, sondern Gott brauchen, dass wir ihm begegnen, auf ihn hören, mit ihm
sprechen müssen. Das Gebet macht uns dafür offen, das Geschenk Gottes zu
empfangen, Seine Weisheit, die Jesus selbst ist, um den Willen des Vaters mit
unserem Leben zu erfüllen und so Erquickung in der Mühsal unseres Weges zu
finden. Danke.