Papst Benedikt XVI.
Generalaudienz am 4.5.11
Gebete in antiken
Kulturen
Liebe Brüder und Schwestern!
In den nächsten Katechesen wollen wir in Anlehnung an die Heilige
Schrift, an die große Tradition der Kirchenväter, an die Lehrer der
Spiritualität und an die Liturgie lernen, unsere Beziehung zum Herrn noch
intensiver zu leben: eine "Schule des Gebets" sozusagen. So wissen wir genau,
dass das Gebet nicht etwas Selbstverständliches ist: Man muss beten lernen und
sich diese Kunst gewissermaßen immer wieder neu erwerben; auch diejenigen, die
im geistlichen Leben weit fortgeschritten sind, empfinden stets das Bedürfnis,
sich in die Schule Jesu zu begeben, um richtig beten zu lernen. Wir empfangen
die erste Lektion vom Herrn durch Sein Beispiel. Die Evangelien beschreiben uns
Jesus in einem innigen und beständigen Dialog mit dem Vater: es handelt sich um
eine tiefe Gemeinschaft zwischen dem Vater und dem Sohn, der in die Welt
gekommen ist, nicht um seinem eigenen Willen zu folgen, sondern dem des Vaters,
der ihn für das Heil der Menschen gesandt hat.
In dieser ersten Katechese möchte ich zur Einführung einige Beispiele
von Gebeten aufführen, die sich in den antiken Kulturen finden, um zu zeigen,
dass die Menschen sich praktisch immer und überall an Gott gewandt haben.
Ich beginne mit dem alten Ägypten als Beispiel. Ein blinder Mann, der
die Gottheit bittet, ihm das Augenlicht zurückzugeben, bestätigt hier etwas
ganz und gar Menschliches: das reine und einfache Bittgebet seitens desjenigen,
der sich in Not befindet. Dieser Mann betet: "Mein Herz verlangt danach, dich
zu sehen.... Du, der du mich die Dunkelheit hast schauen lassen, schaffe Licht
für mich. Damit ich dich zu sehen vermag! Neige mir dein geliebtes Antlitz zu"
(A. Barucq – F. Daumas, Hymnes et prieres de l'Egypte ancienne, Paris 1980).
Damit ich dich zu sehen vermag – das ist der Kern des Gebets!
In den Religionen Mesopotamiens herrschte ein dunkles und lähmendes
Schuldgefühl, jedoch nicht ohne die Hoffnung auf Rettung und Befreiung durch
Gott. So können wir folgende Bitte seitens eines Gläubigen jener antiken Form
der Verehrung würdigen, die lautet: "O Gott, der du auch angesichts der
schwersten Schuld nachsichtig bist, spreche mich frei von meiner Sünde...
Blicke, Herr, auf deinen erschöpften Diener und erquicke ihn mit einem kühlen
Lufthauch: Verzeihe ihm unverzüglich. Mildere deine strenge Strafe. Mach, dass
ich, gelöst von den Banden, wieder atmen kann; zerreiße meine Ketten, löse mich
von den Fesseln" (M.-J. Seux, Hymnes et prieres aux Dieux de Babylone et
d'Assyrie, Paris 1976). Das sind Worte, die zeigen, dass der Mensch in seiner
Suche nach Gott auf der einen Seite seine Schuld und auf der anderen Seite
Aspekte der Barmherzigkeit und der göttlichen Güte – wenn auch auf undeutliche
Weise – verstanden hat.
In der heidnischen Religion des alten Griechenlands wohnt man einer
äußerst bedeutungsvollen Entwicklung bei: Wenngleich in den Gebeten weiterhin
göttliche Hilfe angerufen wird, um die himmlische Gunst in allen Situationen
des täglichen Lebens zu empfangen und um materiellen Wohlstand zu erlangen, führen
sie allmählich in die Richtung selbstloserer Bitten, die es dem gläubigen
Menschen erlauben, seine Beziehung zu Gott zu vertiefen und besser zu werden.
Der große Philosoph Platon etwa führt ein Gebet seines Meisters Sokrates an,
der zu Recht als einer der Begründer des westlichen Denkens gilt. So betete
Sokrates: "Verleihet mir, schön zu werden im Innern (...) Für reich aber möge
ich den Weisen achten. Des Goldes Fülle aber möge mir werden in solchem Maße,
in welchem es ein anderer weder führen noch tragen könnte als der Weise.
Bedürfen wir noch weiter etwas?" (Platon: Phaidros, in Sämtliche Werke. Band 2,
Berlin [1940], S. 411–482). Er möchte lieber schön im Inneren und weise sein,
statt reich an Gold.
In jenen außerordentlichen Meisterwerken der Literatur aller Zeiten,
die die griechischen Tragödien darstellen, die auch heute, nach
zweitausendfünfhundert Jahren, noch gelesen werden, zum Nachdenken anregen und
aufgeführt werden, sind Gebete enthalten, die den Wunsch zum Ausdruck bringen,
Gott kennenzulernen und seine Erhabenheit anzubeten. In einer von ihnen heißt
es: "Stütze der Erde, die du über der Erde deinen Sitz hast, wer immer du
seiest, schwer begreiflich, Zeus, seiest du Gesetz der Natur oder des Denkens
der Sterblichen, an dich wende ich mich: da du, auf verborgenen Wegen, die
menschlichen Geschicke nach Recht und Gerechtigkeit führst" (Euripides: Die
Troerinnen). Gott bleibt ein wenig undeutlich und dennoch kennt der Mensch
diesen unbekannten Gott und betet zu dem, der die Wege der Erde leitet. Auch
bei den Römern, die jenes große Reich darstellten, in denen das junge
Christentum entstand und sich in weiten Teilen verbreitete, öffnet sich das
Gebet – obwohl es einer utilitaristischen Auffassung entspricht und fundamental
mit der Bitte um göttlichen Schutz für das Leben der bürgerlichen Gemeinschaft
verbunden ist – manchmal Bitten, die aufgrund ihrer inbrünstigen persönlichen
Frömmigkeit, die sich in Lob und Dank verwandelt, bewundernswürdig sind.
Das bezeugt ein Autor des römischen Afrika aus dem zweiten Jahrhundert
nach Christus: Apuleius. In seinen Schriften bringt er die Unzufriedenheit
seiner Zeitgenossen angesichts der traditionellen Religion und den Wunsch einer
echteren Beziehung zu Gott zum Ausdruck. In seinem Hauptwerk "Die Metamorphosen"
wendet sich ein Gläubiger mit folgenden Worten an eine weibliche Gottheit:
"Göttin, heilige, ewige Erhalterin des Menschengeschlechts, die du nicht
aufhörst, Schutz den schwachen Sterblichen zu verleihen, die du dem Elenden die
milde Zärtlichkeit einer Mutter angedeihen lässt! Kein Tag, keine Nacht, kein
geringer Augenblick schwindet leer an deinen Wohltaten dahin" (Apuleius von
Madaura, Metamorphosen XI, 25, deutsch: Der goldene Esel, aus dem Lateinischen
von August Rode, mit einem Nachwort von Wilhelm Haupt, Insel Taschenbuch,
Frankfurt am Main 1975, S. 320).
Zur selben Zeit spricht Kaiser Marc Aurel – der auch ein Philosoph war,
der über das Menschsein nachgedacht hat – von der Notwendigkeit zu beten, um
ein gedeihliches Zusammenwirken von göttlichem und menschlichem Tun
herzustellen. In seinen "Selbstbetrachtungen" schreibt er: "Wer aber hat dir
gesagt, dass die Götter nicht auch bei dem helfen, was in unserer Macht steht?
Fang also an, darum zu bitten, und du wirst schon sehen" (Aus den "Aufzeichnungen
über mich selbst" von Marcus Aurelius Antoninus; Ü: Rainer Nickel; nach: Marc
Aurel, Wege zu sich selbst, gr./dt., Artemis und Winkler, Düsseldorf/Zürich
1998). Dieser Rat des Philosophenkaisers ist tatsächlich von unzähligen
Generationen von Menschen, die vor Christus gelebt haben, umgesetzt worden und
hat so gezeigt, dass das menschliche Leben ohne das Gebet, das unser Dasein für
das Geheimnis Gottes öffnet, sinn- und bezugslos wird. Denn in jedem Gebet
kommt immer die Wahrheit des Menschen zum Ausdruck, der einerseits die
Erfahrung von Schwäche und Elend macht, und daher den Himmel um Hilfe bittet,
und andererseits mit einer besonderen Würde ausgestattet ist, da er, indem er
sich darauf vorbereitet, die göttliche Offenbarung zu empfangen, entdeckt, dass
er in Gemeinschaft mit Gott zu treten vermag.
Liebe Freunde, an diesen Beispielen von Gebeten aus verschiedenen
Epochen und Kulturen zeigt sich, dass sich der Mensch über seinen Zustand als
Geschöpf und seine Abhängigkeit von einem Anderen bewusst ist, der höher steht
als er und Quelle alles Guten ist. Der Mensch hat zu allen Zeiten gebetet, weil
er nicht umhinkann, sich zu fragen, was der Sinn seines Daseins ist, das dunkel und trostlos bleibt, wenn es nicht zum Geheimnis
Gottes und Seinem Plan mit der Welt in Beziehung gesetzt wird. Das menschliche
Leben ist ein Geflecht von Gut und Böse, von unverdientem Leid sowie von Freude
und Schönheit, das uns unwiderstehlich dazu drängt, Gott um jenes Licht und
jene innere Kraft zu bitten, die uns auf der Erde zu Hilfe kommen und eine
Hoffnung erschließen, die über die Grenzen des Todes hinausgeht. Die
heidnischen Religionen bleiben ein Ruf, der von der Erde ein Wort aus dem
Himmel erwartet. Einer der letzten großen heidnischen Philosophen, der bereits
inmitten der christlichen Zeit gelebt hat, Proklus von Konstantinopel, verleiht
dieser Erwartung eine Stimme und sagt: "Du bist nicht erkennbar, niemand kann
dich fassen. Alles was wir denken, gehört dir. Bei dir sind unsere Leiden und
unser Wohl, von dir hängt all unser Sehnen ab, o Unsagbarer, dessen Gegenwart
unsere Seelen verspüren und zu dir eine Hymne des Schweigens erheben" (Hymnen).
"Die Gottessehnsucht bezeugen, die in das Herz jedes Menschen
eingeschrieben ist"
Die Beispiele von Gebeten aus verschiedenen Kulturen, die wir
betrachtet haben, können die religiöse Dimension und die Gottessehnsucht
bezeugen, die in das Herz jedes Menschen eingeschrieben sind und die im Alten
und im Neuen Testament ihre Erfüllung und ihren vollen Ausdruck erhalten. Die
Offenbarung reinigt die ursprüngliche Sehnsucht des Menschen nach Gott und
bringt sie zu ihrer Fülle, indem sie ihm im Gebet die Möglichkeit einer
tieferen Beziehung zum himmlischen Vater anbietet.
Zu Beginn dieses unseres Weges in der "Schule des Gebets" wollen wir
also den Herrn bitten, unseren Geist und unser Herz zu erleuchten, damit die
Beziehung zu Ihm im Gebet immer inniger, liebevoller und konstanter wird. Noch
einmal sagen wir Ihm: "Herr, lehre uns beten" (Lk 11, 1).