Papst Benedikt XVI.: Ansprache während der Generalaudienz
am 12.11.08:
Paulus (12)
Liebe Brüder und Schwestern!
Vermutlich im Jahr 52 hat der heilige Paulus den
ersten seiner Briefe geschrieben, den ersten Brief an die Thessalonicher, in
dem er über diese Wiederkunft Christi spricht, die man „Parusie“ nennt,
„Advent“, neue und endgültige und offenkundige Gegenwart (vgl. 4, 13–18). Den
Thessalonichern, die ihre Zweifel und ihre Schwierigkeiten haben, schreibt der
Apostel Folgendes: „Wenn Jesus – und das ist unser Glaube – gestorben und
auferstanden ist, dann wird Gott durch Jesus auch die Verstorbenen zusammen mit
ihm zur Herrlichkeit führen“ (4, 14). Und weiter sagt er: „Zuerst werden die in
Christus Verstorbenen auferstehen; dann werden wir, die Lebenden, die noch
übrig sind, zugleich mit ihnen auf den Wolken in die Luft entrückt, dem Herrn
entgegen. Dann werden wir immer beim Herrn sein“ (4, 16–17). Paulus beschreibt
die Parusie Christi mit lebendigen Akzenten und symbolischen Bildern, die
jedoch eine einfache und tiefe Botschaft übermitteln: am Ende werden wir immer
beim Herrn sein. Das ist, über die Bilder hinaus, die wesentliche Botschaft:
unsre Zukunft ist „beim Herrn“; als Gläubige sind wir schon während unseres
Lebens beim Herrn; unsere Zukunft, das Ewige Leben, hat bereits begonnen.
Im zweiten Brief an die Thessalonicher ändert
Paulus die Perspektive; er spricht von negativen Ereignissen, die dem
endgültigen und abschließenden Ereignis vorhergehen sollen. Man darf sich nicht
irreführen lassen, sagt er, als ob der Tag des Herrn nach einem zeitlichen
Kalkül tatsächlich kurz bevorstünde: „Brüder, wir ... bitten euch: Lasst euch
nicht so schnell aus der Fassung bringen und in Schrecken jagen, wenn in einem
prophetischen Wort oder einer Rede oder in einem Brief, der angeblich von uns
stammt, behauptet wird, der Tag des Herrn sei schon da. Lasst euch durch
niemand und auf keine Weise täuschen!“ (2, 1–3). Die Fortsetzung dieses Textes
kündigt an, dass es vor der Ankunft des Herrn zur Apostasie, zum Abfall von Gott
kommen wird und dass ein nicht näher beschriebener „Mensch der
Gesetzwidrigkeit“ erscheinen wird, „der Sohn des Verderbens“ (2, 3), der von
der Tradition dann als Antichrist bezeichnet werden wird. Doch die Absicht
dieses Briefes des heiligen Paulus ist vor allem praktischer Art. Er schreibt:
„Denn als wir bei euch waren, haben wir euch die Regel eingeprägt: Wer nicht
arbeiten will, soll auch nicht essen. Wir hören aber, dass einige von euch ein
unordentliches Leben führen und alles Mögliche treiben, nur nicht arbeiten. Wir
ermahnen sie und gebieten ihnen im Namen Jesu Christi, des Herrn, in Ruhe ihrer
Arbeit nachzugehen und ihr selbst verdientes Brot zu essen“ (3, 10–12).
Mit anderen Worten, die Erwartung der Parusie
Jesu entbindet nicht von den Verpflichtungen dieser Welt, sondern schafft im
Gegenteil eine Verantwortlichkeit gegenüber dem göttlichen Richter für unser
Handeln in dieser Welt. Gerade so wächst unsere Verantwortlichkeit, in dieser
Welt und für diese Welt zu arbeiten. Dasselbe werden wir am kommenden Sonntag
im Evangelium über die Talente sehen, in dem der Herr uns sagt, dass er allen
Talente anvertraut hat und der Richter Rechenschaft über sie verlangen wird,
mit den Worten: Habt Ihr Nutzen gebracht? Die Erwartung der Wiederkunft
beinhaltet also die Verantwortung für die Welt.
Dasselbe und dieselbe Verbindung zwischen
Parusie – Wiederkunft des Richters/Erlösers – und dem Bemühen in unserem Leben taucht in einem anderen Zusammenhang und mit neuen Aspekten
im Brief an die Philipper auf. Paulus ist im Gefängnis und erwartet den
Richterspruch, der ein Todesurteil sein kann. In dieser Situation denkt er an
seine Zukunft beim Herrn, doch er denkt auch an die Gemeinschaft von Philippi,
die ihren Vater, die Paulus braucht, und schreibt: „Denn für mich ist Christus
das Leben und Sterben Gewinn. Wenn ich aber weiterleben soll, bedeutet das für
mich fruchtbare Arbeit. Was soll ich wählen? Ich weiß es nicht. Es zieht mich
nach beiden Seiten: Ich sehne mich danach, aufzubrechen und bei Christus zu
sein – um wie viel besser wäre das! Aber euretwegen ist es notwendiger, dass
ich am Leben bleibe. Im Vertrauen darauf weiß ich, dass ich bleiben und bei
euch allen ausharren werde, um euch im Glauben zu fördern und zu erfreuen,
damit ihr euch in Christus Jesus umso mehr meiner rühmen könnt, wenn ich wieder
zu euch komme“ 1, 21–26).
Die Angst vor
Geistern ist nicht aus der Welt
Paulus hat keine Angst vor dem Tod, im
Gegenteil: er bedeutet vielmehr vollkommen bei Christus zu sein. Doch Paulus
hat auch Anteil an den Gefühlen Christi, der nicht für sich selbst, sondern für
uns gelebt hat. Für die anderen zu leben wird das Programm seines Lebens und
daher zeigt er seine vollkommene Bereitschaft gegenüber dem Willen Gottes,
gegenüber dem, was Gott entscheidet. Er ist vor allem bereit, auch in der
Zukunft, auf dieser Erde für die anderen zu leben, für Christus zu leben, für
seine lebendige Gegenwart und somit für die Erneuerung der Welt. Wir sehen,
dass sein „bei-Christus-sein“ zu einer großen inneren Freiheit führt: Freiheit
angesichts der Bedrohung des Todes, aber auch Freiheit angesichts aller
Verpflichtungen und Leiden des Lebens. Er steht einfach Gott zur Verfügung und
ist dadurch wirklich frei.
Nachdem wir die verschiedenen Aspekte der Erwartung
der Parusie Christi untersucht haben, wollen wir uns nun fragen: welches ist
die fundamentale Haltung des Christen gegenüber den letzten Dingen: dem Tod,
dem Ende der Welt? Die erste Haltung ist die Gewissheit, dass Christus
auferstanden ist, dass er beim Vater ist, und dass er gerade auf diese Weise
bei uns ist, für immer. Und niemand ist stärker als Christus; weil Er beim
Vater ist, ist er bei uns. Wir sind also in Sicherheit, von der Angst befreit.
Das war eine wesentliche Folge der christlichen Verkündigung. Die Angst vor
Geistern, vor Gottheiten, war in der gesamten antiken Welt verbreitet. Auch
heute finden die Missionare in den Naturreligionen – zusammen mit vielen
positiven Elementen – die Angst vor Geistern vor, vor unheilvollen Mächten, die
uns bedrohen. Christus lebt, er hat den Tod und alle diese Mächte besiegt. In
dieser Gewissheit, in dieser Freiheit, in dieser Freude leben wir. Das ist der
erste Aspekt unseres Lebens hinsichtlich der Zukunft.
An zweiter Stelle steht die Gewissheit, dass
Christus mit mir ist. Und so wie in Christus die künftige Welt bereits begonnen
hat, gibt dies auch die Gewissheit der Hoffnung. Die Zukunft ist kein dunkler
Raum, in dem sich niemand orientieren kann. So ist es nicht. Ohne Christus ist
natürlich auch heute die Zukunft der Welt dunkel, gibt es viel Angst vor der
Zukunft. Doch der Christ weiß, dass das Licht Christi stärker ist und lebt
daher in einer Hoffnung, die nicht unbestimmt ist, in einer Hoffnung, die
Gewissheit und Mut gibt, der Zukunft zu begegnen.
Kommen wir schließlich zur dritten Haltung. Der
Richter, der wiederkehrt – er ist sowohl Richter als auch Erlöser – hat uns die
Aufgabe überlassen, in dieser Welt so zu leben, wie er gelebt hat. Er hat uns
seine Talente übergeben. Daher ist unsere dritte Haltung: Verantwortung für die
Welt, Verantwortung für die Brüder vor Christus und gleichzeitig auch die
Gewissheit seiner Barmherzigkeit. Beides ist wichtig. Wir leben nicht so, als
wären Gut und Böse dasselbe, weil Gott nur barmherzig sein kann. Das wäre ein
Irrtum. In Wirklichkeit leben wir in einer großen Verantwortung. Wir haben
Talente, wir sind beauftragt zu arbeiten, damit diese Welt sich Christus
öffnet, damit sie erneuert wird. Doch während wir arbeiten und in unserer
Verantwortlichkeit wissen, dass Gott der wahre Richter ist, sind wir auch
gewiss, dass dieser Richter gütig ist, wir kennen sein Antlitz, das Antlitz des
auferstandenen Christus, des Christus, der für uns gekreuzigt wurde. Daher
können wir seiner Güte gewiss sein und voller Mut vorangehen.
Eine weiterer Punkt der paulinischen Lehre zur
Eschatologie ist die Universalität der Berufung zum Glauben, die Juden und
Heiden vereint, als Zeichen und Vorwegnahme der künftigen Wirklichkeit, so dass
wir sagen können, dass wir bereits mit Jesus Christus einen Platz im Himmel
haben, um in den kommenden Zeiten den Reichtum seiner Gnade zu zeigen (vgl. Eph
2, 6 f.): das „nachher“ wird zu einem „vorher“, um den Zustand der beginnenden
Verwirklichung deutlich zu machen, in dem wir leben. Das macht die Leiden des
gegenwärtigen Moments erträglich, die nichts im Vergleich zur künftigen
Herrlichkeit bedeuten (vgl. Röm 8, 18). Wir gehen als Glaubende unseren Weg und
nicht als Schauende, und wenn wir es auch vorziehen würden, aus dem Leib
auszuwandern und daheim beim Herrn zu sein, so zählt doch am Ende, Ihm zu
gefallen, ob wir daheim oder in der Fremde sind (vgl. 2 Kor 5, 7–9).
Schließlich noch ein letzter Punkt, der uns
vielleicht ein wenig schwierig erscheinen mag. Am Ende des ersten Briefs an die
Korinther wiederholt der heilige Paulus ein Gebet – und er lässt es auch die
Korinther sprechen –, das in den ersten christlichen Gemeinden Palästinas
entstanden ist: „Maranà, thà!“, was wörtlich bedeutet „Unser Herr, komm!“ (16,
22). Es war das Gebet der ersten Christenheit, und auch das letzte Buch des
Neuen Testaments, die Offenbarung, schließt mit diesem Gebet: „Komm, Herr!“.
Können auch wir so beten? Mir scheint, dass es für uns heute, in unserem Leben,
in unserer Welt, schwierig ist, aufrichtig zu beten, dass diese Welt vergehen
möge, damit das neue Jerusalem komme, das Jüngste Gericht und der Richter,
Christus. Ich denke, wenn wir aus vielen Gründen nicht wagen, so zu beten, so
können wir dennoch zu Recht mit der ersten Christenheit sagen: „Komm, Herr
Jesus!“. Gewiss, wir wollen nicht, dass das Ende der Welt jetzt kommt. Doch
andererseits wollen wir, dass es mit dieser ungerechten Welt ein Ende hat. Auch
wir wollen, dass sich die Welt fundamental verändert, dass die Zivilisation der
Liebe beginnt, dass eine Welt der Gerechtigkeit, des Friedens beginnt, ohne
Gewalt und ohne Hunger. All das wollen wir: und wie könnte dies geschehen, ohne
die Gegenwart Christi? Ohne die Gegenwart Christi wird es niemals zu einer
wirklich gerechten und erneuerten Welt kommen. Und selbst wenn auf andere
Weise, so können und müssen auch wir im tiefsten Inneren und mit äußerster
Dringlichkeit in den Umständen unserer Zeit sagen: Komm, Herr! Komm in Deine
Welt, auf die dir bekannte Weise. Komm dorthin, wo Ungerechtigkeit und Gewalt
herrschen. Komm in die Flüchtlingslager, nach Darfur, nach Nord-Kivu, in so
viele Gebiete der Welt. Komm dorthin, wo die Herrschaft der Drogen waltet. Komm
auch zu den Reichen, die Dich vergessen haben, die nur für sich selbst leben.
Komm dorthin, wo man Dich noch nicht kennt. Komm auf Deine Weise und erneuere
die heutige Welt. Komm auch in unsere Herzen, komm und erneuere unser Leben,
komm in unser Herz, damit wir selbst Licht Gottes, Deine Gegenwart werden
können. In diesem Sinne bitten wir mit dem heiligen Paulus: „Maranà, thà! Komm,
Herr Jesus!“, und wir beten, dass Christus heute wirklich in unserer Welt
gegenwärtig ist und sie erneuert.