Papst Benedikt XVI.: Ansprache während der Generalaudienz am 19.11.08:

Paulus (13)

Paulus verteidigt das Gesetz des Eingottglaubens gegen den kulturellen Druck des Hellenismus, bevor er erkennt, daß der Gott Israels der Gott aller Völker ist.  Rechtfertigung heißt Gemeinschaft mit Christus, aus der die Nächstenliebe hervorgeht.

Liebe Brüder und Schwestern!

Auf dem Weg, den wir unter der Führung des heiligen Paulus zurücklegen, wollen wir heute bei einem Thema verweilen, das im Zentrum der Auseinandersetzungen des Reformationszeitalters steht: die Frage der Rechtfertigung. Wie wird der Mensch vor Gottes Augen gerecht? Als Paulus dem Auferstandenen auf der Straße nach Damaskus begegnete, war er ein Mensch, der sich verwirklicht hatte: Untadelig in der Gerechtigkeit, wie sie das Gesetz vorschreibt (vgl. Phil 1, 3), übertraf er in der Treue zum jüdischen Gesetz die meisten seiner Altersgenossen und mit dem größten Eifer setzte er sich für die Überlieferungen seiner Väter ein (vgl. Gal 1, 14). Die Erleuchtung von Damaskus veränderte sein Dasein auf radikale Weise: Angesichts der Erhabenheit der Erkenntnis Jesu Christi, begann er alle Verdienste, die er in seiner ehrbaren religiösen Laufbahn erworben hatte, als „Unrat“ anzusehen (vgl. Phil 3, 8). Der Brief an die Philipper bietet uns ein ergreifendes Zeugnis dafür, dass Paulus von einer auf dem Gesetz gründenden Gerechtigkeit, die durch die Beachtung der vorgeschriebenen Werke erworben wird, zu einer Gerechtigkeit übergeht, die auf dem Glauben an Christus beruht: Er hatte verstanden, dass das, was ihm bislang als ein Gewinn erschienen war, in Wahrheit vor Gott ein Verlust war, und daher hatte er beschlossen, sein ganzes Dasein auf Jesus Christus zu setzen (vgl. Phil 3, 7). Der im Boden verborgene Schatz und die kostbare Perle, für deren Erwerb man alles andere verkauft, waren nicht mehr die Werke des Gesetzes, sondern Jesus Christus, sein Herr.

Die Beziehung zwischen Paulus und dem Auferstandenen geht so tief, dass sie ihn zu der Behauptung veranlasst, Christus sei nicht nur der Inhalt seines Lebens, sondern sein Leben selbst, so dass, um dies erreichen zu können, selbst das Sterben ein Gewinn wird (vgl. Phil 1, 21). Das heißt nicht, dass Paulus das Leben verachtet hätte, doch er hatte verstanden, dass das Leben für ihn nunmehr kein anderes Ziel mehr hatte, er verspürte keinen anderen Wunsch mehr, als zu Christus zu gelangen – wie bei einem Wettlauf –, um immer bei Ihm zu bleiben: Der Auferstandene war Anfang und Ende seines Daseins geworden, Grund und Ziel seines Laufs. Nur die Sorge um das Wachsen im Glauben derjenigen, die er evangelisiert hatte und die Fürsorge für alle von ihm gegründeten Kirchen (vgl. 2 Kor 11, 28) führten ihn dazu, den Lauf zu seinem einzigen Herrn zu verlangsamen, um auf die Jünger zu warten, damit sie mit ihm zum Ziel laufen könnten. Wenn er sich in der vorhergehenden Beachtung der Gesetze vom Standpunkt der moralischen Integrität aus nichts vorzuwerfen hatte, so zog er es, nachdem er Christus erreicht hatte, vor, kein Urteil über sich selbst abzugeben (vgl. 1 Kor 4, 3–4), sondern er beschränkte sich darauf, danach zu streben, Denjenigen zu ergreifen, von dem auch er ergriffen worden war (vgl. Phil 3, 12).

Der Weg der Gnade und der Weg des Gesetzes

Gerade aufgrund dieser persönlichen Erfahrung seiner Beziehung zu Jesus Christus stellt Paulus nunmehr den unlösbaren Gegensatz zweier verschiedener Wege zur Gerechtigkeit in den Mittelpunkt seiner Verkündigung: einen, der sich auf die Werke der Gesetze stützt, einen anderen, der auf der Gnade des Glaubens an Christus gründet. Der Übergang von der Gerechtigkeit aufgrund der Werke des Gesetzes zur Gerechtigkeit aufgrund des Glaubens an Christus wird so eines der beherrschenden Themen, die in seinen Briefen zu finden sind: „Wir sind zwar von Geburt Juden und nicht Sünder wie die Heiden. Weil wir aber erkannt haben, dass der Mensch nicht durch Werke des Gesetzes gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir dazu gekommen, an Christus Jesus zu glauben, damit wir gerecht werden durch den Glauben an Christus und nicht durch Werke des Gesetzes; denn durch Werke des Gesetzes wird niemand gerecht“ (Gal 2, 15–16). Und die Christen in Rom weist er darauf hin: „Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verloren. Ohne es verdient zu haben, werden sie gerecht, dank seiner Gnade, durch die Erlösung in Christus Jesus“ (Röm 3, 23–24).

Und weiter sagt er: „Denn wir sind der Überzeugung, dass der Mensch gerecht wird durch Glauben, unabhängig von Werken des Gesetzes“ (ebd. 28). Luther hat an dieser Stelle übersetzt: „gerecht allein durch den Glauben“. Ich werde am Ende der Katechese nochmals auf diesen Punkt zurückkommen. Zunächst müssen wir uns darüber klarwerden, was dieses „Gesetz“ bedeutet, von dem wir befreit sind, und was die „Werke des Gesetzes“ sind, die nicht gerecht machen. Schon in der Gemeinde von Korinth war dazu eine Meinung zu finden, die in der Geschichte dann immer wieder auftauchte; diese Meinung besagte, dass es sich um das moralische Gesetz handele und dass die christliche Freiheit folglich in der Befreiung von der Ethik bestehe. So war in Korinth das Wort „alles ist mir erlaubt“ im Umlauf. Es ist offensichtlich, dass diese Interpretation falsch ist: Die christliche Freiheit ist kein Libertinismus; die Befreiung, von der der heilige Paulus spricht, ist nicht die Befreiung davon, Gutes zu tun.

Doch was bedeutet dann das Gesetz, von dem wir befreit sind und das uns nicht erlöst? Für den heiligen Paulus – wie für alle seine Zeitgenossen – bedeutete das Wort Gesetz die Tora in ihrer Gesamtheit, das heißt die fünf Bücher Mose. Die Tora beinhaltete in der Auslegung der Pharisäer, die der heilige Paulus studiert und sich zu eigen gemacht hatte, eine Reihe von Verhaltensweisen, die sich von ihrem ethischen Kern bis zur Beachtung von Riten und Kulthandlungen erstreckte, welche die Identität des Gerechten im Wesentlichen bestimmten. Besonders die Beschneidung, die Beachtung der reinen Speisen und im allgemeinen die rituelle Reinheit, die Regeln bezüglich der Befolgung des Sabbatgebots, und so weiter, Verhaltensweisen, die häufig auch in den Gesprächen zwischen Jesus und seinen Zeitgenossen auftauchen.

Die Einhaltung aller dieser Regeln, die eine soziale, kulturelle und religiöse Identität zum Ausdruck bringen, war zur Zeit der griechischen Kultur, die vom dritten Jahrhundert vor Christus an begann, besonders wichtig. Die griechische Kultur, die damals zur allgemein verbreiteten Kultur geworden und scheinbar rational war, die eine scheinbar tolerante, polytheistische Kultur war, übte einen starken Druck in Richtung kulturelle Uniformität aus und bedrohte so die Identität Israels, das politisch gezwungen war, sich der allgemeinen Identität dieser griechischen Kultur zu öffnen, worauf der Verlust der eigenen Identität drohte, ein Verlust also des kostbaren Glaubenserbes der Väter, des Glaubens an den einen Gott und an die Verheißungen Gottes.

Gegen diesen kulturellen Druck, der nicht nur die Identität der Israeliten bedrohte, sondern auch den Glauben an den einen Gott und an seine Verheißungen, war es notwendig, eine Wand zu errichten, einen Schild zur Verteidigung und zum Schutz des kostbaren Glaubensgutes; dies geschah eben durch die Beachtung der jüdischen Vorschriften. Paulus, der die Gesetze gerade in ihrer Funktion der Verteidigung des Geschenkes Gottes, des Glaubenserbes an den einen Gott, zu beachten gelernt hatte, sah diese Identität durch die Freiheit der Christen bedroht: aus diesem Grund verfolgte er sie. Im Moment seiner Begegnung mit dem Auferstandenen verstand er, dass sich die Situation durch die Auferstehung Christi radikal verändert hatte. Mit Christus wurde der Gott Israels, der einzig wahre Gott, zum Gott aller Völker. Die Wand – so sagt er im Brief an die Epheser – zwischen Israel und den Heiden war nicht mehr notwendig: Christus beschützt uns nun gegen den Polytheismus und alle seine Spielarten; Christus vereint uns mit dem und in dem einen Gott; Christus gewährleistet unsere wahre Identität in der Verschiedenheit der Kulturen. Die Wand ist nicht mehr notwendig, unsere gemeinsame Identität in der Verschiedenheit der Kulturen ist Christus, und er ist es, der uns gerecht macht.

Gerecht sein heißt einfach, immer mit Christus und in Christus zu sein. Das genügt. Andere Gesetze zu befolgen, ist nicht mehr notwendig. Daher ist der Ausdruck Luthers „sola fide“ richtig, wenn man den Glauben nicht in einen Gegensatz zur Liebe, zur Barmherzigkeit stellt. Der Glaube bedeutet, auf Christus zu schauen, sich Christus anzuvertrauen, an Christus festzuhalten, Christus und seinem Leben nachzufolgen. Und die Gestalt, das Leben Christi, ist die Liebe; glauben bedeutet folglich, Christus nachzufolgen und in seine Liebe einzugehen. Daher spricht der heilige Paulus im Brief an die Galater, in dem er vor allem seine Lehre über die Rechtfertigung entwickelt hat, über den Glauben, der durch die Liebe wirkt (vgl. Gal 5, 14).

In der Christusgemeinschaft ist das ganze Gesetz verwirklicht

Paulus weiß, dass sich in der zweifachen Liebe zu Gott und zum Nächsten das ganze Gesetz findet und erfüllt wird. So ist in der Gemeinschaft mit Christus, im Glauben, der die Liebe schafft, das ganze Gesetz verwirklicht. Wir werden gerecht, indem wir in die Gemeinschaft mit Christus eingehen, der die Liebe ist. Dasselbe sehen wir im Evangelium des nächsten Sonntags, dem Festtag Christkönig. Es ist das Evangelium des Richters, dessen einziger Maßstab die Liebe ist. Er fragt nur das: Hast du mich besucht, als ich krank war? Als ich im Gefängnis war? Hast du mir zu essen gegeben, als ich hungrig war, hat du mich bekleidet, als ich nackt war? Und so entscheidet sich die Gerechtigkeit in der Nächstenliebe. So können wir am Ende dieses Evangeliums sagen: allein die Liebe, allein die Barmherzigkeit. doch es besteht kein Widerspruch zwischen diesem Evangelium und dem heiligen Paulus. Es handelt sich um dieselbe Sichtweise, die Sichtweise, nach der die Gemeinschaft mit Christus, der Glaube an Christus die Nächstenliebe hervorbringt. Und die Nächstenliebe ist die Verwirklichung der Gemeinschaft mit Christus. So sind wir gerecht, wenn wir mit Ihm vereint sind, und auf keine andere Weise.

Am Ende können wir nur zum Herrn beten, dass er uns hilft, zu glauben. Wirklich zu glauben; glauben wird auf diese Weise Leben, Einheit mit Christus, Verwandlung unseres Lebens. Und so, verwandelt durch seine Liebe, durch die Gottes- und die Nächstenliebe, können wir vor den Augen Gottes wirklich gerecht sein.

 

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