Gedanken eines Katholiken über Luther und die evangelische Kirche

I. Einleitende Gedanken

1.       Deutschland ist das einzige Land mit einem etwa gleichen Anteil an Katholiken und evangelischen Christen. In den letzten Jahrzehnten hat es zwischen beiden Konfessionen viel Annäherung, Verständigung und Zusammenarbeit gegeben. So kam z.B. eine Einheitsübersetzung der Bibel zustande und enthalten die beiden Gesangbücher Gotteslob und evangelisches Gesangbuch viele gemeinsame Lieder von Dichtern und Komponisten beider Konfessionen.

2.       Eine ständig gestellte und unentschiedene Frage lautet: Wie erheblich sind denn noch die Unterschiede zwischen beiden Konfessionen? Ich meine, sie sind einerseits als unerheblich, andererseits als erheblich zu betrachten:

·      Sie sind unerheblich, weil alle Menschen dieselbe Natur besitzen, die nach der Fülle des Lebens (Joh 10,10) strebt, unabhängig davon, ob die Lehren einer Religion der menschlichen Natur voll oder weniger vollständig gerecht wird.

Die menschliche Natur strebt nach Vervollkommnung. Art und Grad der Vervollkommnung hängt – in der Regel – von den Mitteln ab, die jede Religion zur Verfügung stellt.

Die gemeinsame menschliche Natur sucht sich ihren Weg in jedem individuellen Menschen. So hat der einzelne evangelische Christ nur eine bedingte Nähe zu Martin Luther – außer den Theologen, denen von berufswegen daran gelegen ist, die museale Individualität Luthers zu konservieren. Ohnehin berufen sich in einem Zeitalter sich auflösender verbindlicher Werte und individualistischer Einstellungen die meisten Menschen auf ihre persönlichen Urteile, die sie aus ihrem "Bauchgefühl" oder ihrem Gewissen ableiten, also auf ihrer "Natur" gründen.

·      Die Unterschiede sind als erheblich einzuschätzen, weil nur die Erkenntnis der Wahrheit befreit (Joh 8,32) und zur vollkommenen Freude (Joh 15,11; 16,24) führt. Es gibt keine relative Wahrheit, sie ist absolut wie auch Gott selbst absolut ist. Auf die beiden Konfessionen bezogen sind entweder alle Lehren Luthers oder alle Lehren der katholischen Kirche wahr oder falsch. Denn wie die Wahrheit ungeteilt ist, so kann es keine geteilten Wahrheiten zwischen beiden Konfessionen geben.

Während theologische Wissenschaft, die sich auf logische Regel des Erkennens stützt und nach der Errichtung eines systematischen Glaubensgebäudes trachtet, unentbehrlich ist, hat jeder einzelne Gläubige Zugang zu den Worten Jesu, um nach der Vollkommenheit des Evangeliums in seiner Nachfolge zu streben. Sie besteht in einer lebendigen Gottesbeziehung und der Einwohnung der drei göttlichen Personen im ganzen Menschen (Joh 14,23). Theologische Wissenschaftler sind immer in Gefahr, den Vorrang des Glaubensvollzugs vor der Gelehrsamkeit zu übersehen. Ihnen gilt die Warnung Jesu, daß ihnen die Wahrheit des Evangeliums verborgen bleibt (Lk 10,21).

3.       Die intellektuelle Wucht des Reformationsgeschehens und seiner faktischen Auswirkung, dessen Mittelpunkt Luther durch zahlreiche geistliche und weltliche Mitstreiter unterstützt und vorangetrieben wurde, scheint in sich ausreichende Begründung für seine Berechtigung und für das Bewußtsein einer kirchlichen Neugründung bzw. einer erneuerten Kirche zu sein. Deises Bewußtsein gilt es jedoch nüchtern zu durchbrechen und es auf die Essenz der neuen Lehren zu untersuchen.

4.       Gemeinsam sind den heutigen Gläubigen beider Konfessionen ein geringes Glaubenswissen, eine überwiegende Diesseitsorientierung und Tabuisierung der letzten Dinge hinsichtlich des ewigen Heils und ewiger Verdammnis. Die Ausblendung von Wahrheiten aus dem Bewußtsein der Christen bedeutet nicht, daß sie nicht existieren.

5.       Gottes Heilswirken zielt auf die "eine, heilige, katholische und apostolische" Kirche. Alles Gute, das durch sein Erbarmen sowohl von Luther selbst als auch in der nachfolgenden Geschichte des Protestantismus vollbracht wurde, ist auf diese wiederzugewinnende sichtbare Einheit ausgerichtet. Es kann also nicht dazu dienen, die dauerhafte Eigenständigkeit der evangelischen Kirche und aller protestantischer Gemeinschaften gegenüber der katholischen Kirche zu behaupten.

 

II. Weitere Gedanken und Thesen

In diesem Abschnitt möchte ich verborgene Widersprüchlichkeiten, Paradoxien und Einseitigkeiten bei Luther und unter evangelischen Christen aufzeigen, Tabus durchbrechen, mich über manches verwundern und Fragen stellen, die nach Beantwortung verlangen, um so einen möglichst umfassenden Problemhorizont abzustecken.

1.       Nachdem ich mich längere Zeit mit Martin Luthers Leben und Lehren beschäftigt habe, möchte ich vorweg in drei knappen Sätzen meine Einschätzung über ihn aussprechen: Er war außerordentlich begabt, er brannte vor Ehrgeiz und besaß eine heftige und triebhafte Natur. Er glaubte, den Königsweg der Rechtfertigung gefunden zu haben, wurde aber dennoch nicht glücklich. Luther endete als eine tragische Gestalt.

2.       Entgegen ökumenischen Tendenzen sehe ich es als meine Aufgabe an, Luthers Lehren so gut wie möglich zu ergründen und nichts zu tabuisieren.

3.       Wie man Luther beurteilt, ist ein Frage perspektivischer Wahrnehmung. Als Katholik identifiziere ich mich mit einer 2000-jährigen ungebrochener katholischen Tradition, die durch eine große Zahl von Heiligen Glaubwürdigkeit besitzt. Diese lange Geschichte ist keine Vergangenheit, die sich dem heutigen Betrachter nur in distanzierter Ferne darbietet, sondern ist ständige Gegenwart für den, der in der Kirche das Werk des Heiligen Geistes sieht. Er schämt sich auch nicht distanziert von dem Bösen und Unvollkommenen, das in der Kirche geschehen ist, sondern leidet einerseits darunter und erkennt andererseits, daß jeder Einzelne den Kampf gegen Gut und Böse in seinem Leben zu bestehen hat. Der Christ ist nicht nur Einzelner in einer gegenwärtigen Gemeinschaft von Gläubigen, sondern sein Glauben steht auf den Schultern aller, die vor ihm das Evangelium gelebt haben. Er wird von ihnen getragen, wenn er sich in ihre Gemeinschaft aufnehmen läßt. Wie der Christ in Christus ist, um ihm gleichgestaltet zu werden, so ist er auch in den Heiligen, die er sich zum Vorbild nimmt: Im Bewußtsein seiner Kleinheit strebt er nach dem Größeren, das bereits vollbracht wurde. In einer Meßpräfation heißt es: "Durch das Zeugnis ihres Glaubens verleihst du uns immer neu die Kraft, nach der Fülle des Heiles zu streben." Und in einer weiteren: "In ihnen offenbarst du deinen Ratschluss, uns Menschen die ursprüngliche Heiligkeit neu zu schenken."

Heiligkeit ist mehr als Bemühung um ein "gutes Leben", wie Kardinal Marx in seiner Silvesterpredigt 2016 darlegt. Heiligkeit ist konsequente Nachfolge Jesu, um wie er ganz verfügbar zu sein für Gott und den Nächsten. Zu Heiligkeit ist jeder aufgerufen, um seine Lebensaufgabe zu erkennen. Entsprechend der Begabung eines jeden bringen es Einzelne darin weiter als andere. Streben nach Heiligkeit ohne eucharistische Vereinigung mit Jesus Christus scheint mir kaum möglich. Den heutigen Katholiken ist mehrheitlich der Sinn dafür verloren gegangen, daß Heiligkeit und Heiligung das Ziel christlichen Strebens. Sie glauben viel mehr, daß der Geist der Welt und der Geist des Reiches Gottes miteinander vereinbar sind. Noch weniger Sinn für Heiligkeit haben allerdings evangelische Christen. Denn Luther hat die Heiligenverehrung aus seiner Lehre verbannt und er selbst war kein Vorbild der Heiligkeit. Wenn man den Begriff "Heiligkeit" vermeiden möchte, weil er auf Deutungsschwierigkeiten stößt, kann man die synonymen Begriffe "Vollkommenheit" und "Vorbild" zu Hilfe nehmen. Katholische und evangelische Christen können also versuchen, eine Antwort auf die Frage zu finden: "Was verstehe ich unter einem vorbildlichen Christen?" Die Antwort darauf kann zu einer Verständigung führen, welche Heiligen der katholischen Kirche dem Anspruch christlicher Vorbildlichkeit genügten.

Heilig ist die Wahrheit. Der Geist der Welt führt zur Verbiegung der Wahrheit, zu illusionärer und eingebildeter Wahrheit, zu ständiger Verteidigung der Unwahrheit. Unwahr ist, daß die Glaubensspaltung notwendig war. Der Protestantismus verteidigt demnach die Unwahrheit. Da Gott alle Menschen zu ihrem ewigen Heilen führen und sie vor der ewigen Verdammnis bewahren möchte, schenkt er auch den Irrenden seine Hilfe, damit sie ihr ewiges Ziel erreichen können.

Ökumenisches Ziel ist die Wiedergewinnung kirchlicher Einheit. Voraussetzung dafür ist, daß sowohl Katholiken als auch Protestanten denn Sinn für Heiligkeit wiederentdecken. Eine Beschäftigung mit den Heiligen der Kirche ist hierfür eine bedeutende Hilfe. Empfehlenswert ist beispielsweise Andreas Rode, Das Jahresbuch der Heiligen. Kösel 2008.

4.       Luther war jedoch kein heiligmäßiger Mann. War er sanftmütig und demütig (Mt 11,29), hat er seine Feinde geliebt (Mt 5,44)? Aber die evangelische Kirche betrachtet Luther immer noch als ihr unfehlbares Lehroberhaupt. Sie behält die Lehre und schützt die Person.

Luther hatte ein zutiefst gestörtes Gottesverhältnis. Es fehlte ihm ein Grundvertrauen, das ihm eine persönliche Gottesbeziehung ermöglicht hätte. Das Ergebnis war das Umschlagen von einem quälerischen Skrupulantentum zu einer euphorischen Rechtfertigungslehre, durch die er sich seines ewigen Heils gewiß sein wollte. Er verband mit seiner persönlichen Suche nach Heilsgewißheit wünschenswerte Neuerungen und Weiterentwicklungen in der Kirche, etwa mehr Mitbeteiligung der Gläubigen am Gottesdienst durch Gesang. Auf diese Weise mischte sich Eigenwille und Eigensucht mit aufrichtiger Hingabe.

So erstaunlich es klingen mag, auf Luther trifft Jesu Gleichnis von den Talenten zu, die ein Mann während seiner Abwesenheit seinen Dienern übergab, damit diese damit wirtschaften sollten (Mt 25, 14-30). Luther gleicht dem Diener, der sein Pfund vergrub, weil er "Angst" hatte. Luther kapitulierte vor seiner Natur, er besaß kein Vertrauen zu ihr. Er konnte nicht glauben, daß seine Natur von Gottes Gnade getragen war. Deshalb nahm er seine Zuflucht zum Glauben an die erlösenden Heilsgnaden Jesu Christi, die all sein Handeln von Angst befreien sollte. Daher formulierte er die absurden Sätze:

Sei Sünder und sündige tapfer, aber tapferer vertraue und freue dich in Christus, der Sieger ist über die Sünde, den Tod und die Welt. Wir müssen sündigen, solange wir hier sind…

Es genügt, daß wir durch den Reichtum der Herrlichkeit Gottes das Lamm erkannt haben, welches die Sünde der Welt trägt. Von ihm wird uns keine Sünde hinwegreißen, wenn wir auch tausendmal, tausendmal an einem Tag huren oder töten sollten.

Esto peccator et pecca fortiter, sed fortius fide et gaude in Christo, qui victor est peccati, mortis et mundi. Peccandum est, quamdiu hic sumus.

Sufficit, quod agnovimus per divitias gloriae Dei agnum, qui tollit peccatum mundi; ab hoc non avellet nos peccatum, etiamsi millies, millies undo die fornicemur aut occidamus.

Quelle

Luther läßt die ganze Arbeit Jesus tun, er selbst bleibt passiv, weil er nicht wagt, das Gute zu tun. Was Luther hier tut, ist eine Selbsttäuschung, denn die persönliche Bemühung, die ja nichts Gutes bewirken kann, verlagert sich nun auf die Glaubensanstrengung. Er muß sich ständig einreden, daß sein Glauben groß genug ist, um Sündenvergebung und ewiges Heil zu erlangen. Es ist eine selbstzentrierte Autosuggestion. Luther ist so radikal in seinem Unfähigkeitsbewußtsein, daß er in seinem Testament das Wort "verdammt" verwendet: "Denn so mir verdammten, armen, unwürdigen, elenden Sünder Gott, der Vater aller Barmherzigkeit, das Evangelium seines lieben Sohnes anvertraut hat …" Es ist mir unverständlich, daß die zitierten Sätze immer noch evangelischerseits verteidigt werden, wie etwa im Sonntagsblatt (leider nicht mehr verfügbar) vom 12.10.2014, worin der Eindruck entsteht, daß Luthers ehemaliges Bild von der babylonischen Gefangenschaft nun seine eigene Kirche betrifft: Die in dem Artikel ausgebreitete Apologie des "pecca fortiter" ist fern von freiheitlicher und vertrauensvoller Selbstbestimmung.

Die Botschaft Jesu in den Evangelien ist ohne Einsichtsfähigkeit, eigenverantwortliche Handlungsfähigkeit und Willensentscheidung der menschlichen Natur gar nicht denkbar. Hinzukommen Erziehung, Lern- und Gedächtnisfähigkeit, Selbsterziehung, Lebenserfahrung und Erinnerungsvermögen. Zahllose Worte Jesu könnten hier angeführt werden: Jesus spricht von denen, die das Wort hören und es befolgen (Lk 8,21; 11,28), und er ermahnt: "Bemüht euch mit allen Kräften, durch die enge Tür zu gelangen; denn viele werden versuchen hineinzukommen, aber es wird ihnen nicht gelingen." (Lk 13, 24) Warum wohl nicht? Weil sie sich etwa leichtfertig nur auf ihren Glauben verlassen haben? Selbständiges Denken und Handeln wird schließlich den beiden Dienern bescheinigt, die zu ihren fünf und zwei Talenten weitere fünf und zwei hinzugewonnen haben. Die Abwesenheit des Herrn ist eben so zu deuten, daß der Mensch durch seine Erkenntnisfähigkeit von Richtig und Falsch, Gut und Böse das eine wählen, und das andere verwerfen kann.

Für Luther war verhängnisvoll, daß er die Rationalität der Scholastik aus dem Glauben verbannte. Diese unterscheidet zwischen Natur und Übernatur, zwischen Naturordnung und Gnadenordnung. Nun besteht der Mensch aus Leib und Seele oder Körper und Geist oder – in extremer Formulierung, wie Paulus im Römerbrief darlegt – aus Geist und Fleisch. Da sich Luther früh mit Paulus identifiziert und sich gerne mit ihm vergleicht, kommt er mit sich selbst in nicht zu bewältigenden Schwierigkeiten.

Geist und Fleisch kurzzuschließen, wie es Luther vermutlich getan hat, hilft christlicher Lebensführung nicht unmittelbar. Vielmehr ist zu fragen, wie Leib und Seele, Geist und Körper in Harmonie miteinander leben können. Der Leib ist kein Feind des Geistes, sondern bereit zu dienen, wenn er richtig gelenkt wird. Die leibseelische Verfassung ist Teil individueller Vererbung. Der eine Mensch hat geringere, der andere größere Schwierigkeiten, die Seelenteile in Einklang zu bringen.

Die Aussage "Wir sind alle Sünder" ist völlig verschieden von der Aussage "Wir MÜSSEN sündigen". Die erste wahrt die menschliche Erkenntnisfähigkeit, zwischen Gut und Schlecht zu unterscheiden, und die Freiheit, zwischen beiden zu wählen. Die Neigung, das Böse dem Guten, das Schlechtere dem Besseren vorzuziehen, ist eine Versuchung, der man nachgeben kann oder nicht. Wenn wir der Versuchung unterliegen, waren wir vorher entweder nicht genug gerüstet oder haben uns dazu die Einwilligung erteilt. "Wir müssen sündigen" ist eine Absage an den freien Willen, den Luther konsequenterweise leugnet (s. Traktat: De servo arbitrio).

Der eine Mensch muß mehr gegen böse Neigungen kämpfen, der andere weniger. Wenn Jesus sagt: "Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und demütig von Herzen" (Mt 11,29) und "Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach", meint er, jeder müsse die Unvollkommenheit seiner vererbten Natur und die Last seiner Lebensverhältnisse in demütiger Selbstannahme tragen und sich in kleinen und kleinsten Schritten um größere Vollkommenheit bemühen. Demut war aber Luthers Sache nicht. Er war ehrgeizig und vor seinem Klostereintritt erfolgsgewohnt, sodaß er sich wohl nie ganz in die Klostergemeinschaft einfügen konnte. Da es ihm an persönlicher Beziehung zu Jesus Christus fehlte, marterte er sich in Selbstanklagen und Schuldvorwürfen. Seinem Oberen Johann von Staupitz gelang es trotz aufrichtigen Bemühens nicht, Luther von seinem Skrupulantentum abzubringen. Vermutlich hatte Luther schon bei seinem Klostereintritt verkorkste Einstellungen, die kaum zu korrigieren waren. Mit hohem Selbstbewußtsein vertrat er die zeitgenössichen geistigen Strömungen des Humanismus und des philosophischen Nominalismus. Als er 1512 die Berechtigung zur Bibelauslegung erlangte, wandte er sich nicht etwa zuerst den vier Evangelien zu, sondern mit höchstem akademischem Anspruch den Briefen des Apostels Paulus, mit dem er sich zunehmend identifizierte. Er hatte sich nicht oder zu wenig darum gekümmert, sich in die Infrastruktur christlichen Vollkommenheitsstrebens einzuüben, wie sie etwa in der weitverbreiteten Imitatio Christi des Thomas a Kempis (1380-1471) enthalten ist. Kann man ihm eine reife, selbstverantwortliche Religiosität bescheinigen, wenn man bedenkt, daß er die täglichen Pflichtgebete aus Zeitmangel auf Samstag verschob, um sie stundenlang nachzuholen? Religiöse Reife ist wohl nur möglich, wenn der Mensch unablässig das innere Gespräch mit Gott und jeder einzelnen göttlichen Person pflegt. Dazu war Luther aber weitgehend unfähig.

"Wir müssen sündigen" ist also eine absurde Aussage. Aber auch die Vorstufe "Wir müssen versucht werden", die etwa angeführt würde, trifft nicht zu, sondern ist einerseits mit der menschlichen Natur, andererseits mit dem Versucher, dem Teufel, gegeben. "Teufel" oder "Satan" steht für die Mächte des Bösen, d.h. die wegen ihres Hochmuts von Gott getrennten Engel, die den Menschen von Gott wegführen, in ihre Macht bringen und ihn seines ewigen Heiles berauben wollen. Jesus selbst wurde vom Teufel versucht. Luther scheint den Teufel überall am Werk zu sehen, etwa 9000 Mal soll er in seinen Schriften erwähnt sein, auch in seinem Testament gibt er ihm dreimal die Ehre. Aber muß man den Teufel an allen Ecken und Enden von Versuchungen sehen? Ausgangspunkt aller Versuchungen ist eine Antinomie: Der Mensch ist unvollkommen, Jesus aber ermahnt: "Seid vollkommen, wie es auch euer himmlischer Vater ist" (Mt 5,48). Dazu gehört auch das Jesuswort: "Wer in den kleinsten Dingen zuverlässig ist, der ist es auch in den großen" Lk 16,10. Jesu Mahnung ist für den Christen eine Selbstverpflichtung. Das Streben nach Vollkommenheit ist ein lebenslanger Prozeß, der eine ständige Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Leistungsvermögens erfordert, die eigenen Charakterschwächen realistisch einschätzt, und eine Wertehierarchie schafft, die durch kluges Abwägen von Anspruch und Erreichbarkeit Entscheidungen ermöglicht. Um die selbst erkannten und festgelegten Ordnungen einzuhalten, ist unablässige Wachsamkeit erforderlich, zu der Jesus aufruft: "Wacht und betet, damit ihr nicht in Versuchung geratet. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach" (Mk 14,38). Inwieweit bei einem Versagen der Teufel im Spiel ist, kann jeder in genauer Gewissenerforschung herauszufinden suchen. Häufig läßt sich eine Kette mehrerer Umstände ausmachen. Wesentlich bleibt, die selbstauferlegten und bewährte Ordnungen, Grundsätze und Vorsätze gewissenhaft durch Pflichtbewußtsein (Naturordnung) und Gebet (Gnadenordnung) einzuhalten. Schuld ist demütig vor Gott hinzutragen, dessen Verzeihung zur Neuausrichtung ermutigt. So gelingen Fortschritte in der Vollkommenheit und geistliches Wachstum.

Der Teufel wirkt in vielerlei Hinsicht, am meisten, wenn seine Existenz geleugnet oder ignoriert wird oder in Vergessenheit geraten ist. Er ist am Werk, wenn der Mensch sein Fehlverhalten oder Versagen verdrängt, beschönigt oder rechtfertigt, er hält die Seele des Menschen gefangen durch Leidenschaften, Begierden, Ängste, Selbstgerechtigkeit und Hochmut. Zu den Ängsten, die den Menschen gefangen halten, gehören auch Gewissensängste und Schuldbewußtsein, unter denen Luther furchtbar gelitten hatte und die er nach seiner "Entdeckung" der Rechtfertigung durch Glauben allein (sola fide) nicht nur für hinfällig ansah, sondern sie geradezu dem Wirken des Teufels zuschrieb. Eine so entsetzliche Angst hielt ihn gefangen, daß er Jahre später, 1530, in einem Brief an Hieronymus Weller (1499-1572), den Erzieher seiner Kinder, folgende Sätze schrieb:

Sooft der Teufel Dich mit diesen Gedanken quält, suche sogleich den Umgang mit Menschen, oder trinke noch mehr, vergnüge Dich, tu etwas ganz Heiteres.

Man muss zuweilen etwas mehr trinken, spielen, scherzen und zum Hass und zur Verachtung des Teufels sündigen, damit wir ihm nicht Ursache geben, uns ein Gewissen aus den leichtesten Dingen zu machen; wir werden sonst besiegt, wenn wir allzu ängstlich Sorge tragen, nicht zu sündigen.

Wenn Dir der Teufel also einmal sagt, Du sollst nicht trinken, erwidere ihm, gerade deswegen trinke ich so sehr, weil Du es mir verbietest, und will um so reichlicher im Namen Jesu Christi trinken. Tu daher immer das Gegenteil von dem, was Satan verbietet (!).

Aus welch anderem Grund, meinst Du, trinke ich so stark, unterhalte mich so leger und tafle so oft, als dadurch den Teufel zu verspotten und ihn zu ärgern, der mich zuvor hat ärgern und verspotten wollen.

Könnte ich doch nur eine ordentliche Sünde begehen, nur um den Teufel zu verspotten, damit er einsieht, dass ich keine Sünde anerkenne und mir keiner Sünde bewusst bin!

Die Zehn Gebote müssen wir ganz aus Augen und Sinn verbannen, wir, sage ich, die der Teufel so attackiert und quält. Wenn aber der Teufel einmal uns unsere Sünden vorwirft und uns des Todes und der Hölle schuldig spricht, dann müssen wir antworten:

Gut ich gestehe, dass ich des Todes und der Hölle schuldig bin, was aber dann? Wirst du also auf ewig verdammt werden? Keineswegs. Denn ich kenne jemand, der für mich gelitten hat und Genugtuung geleistet hat und Jesus Christus, Sohn Gottes, heißt. Wo dieser ist, werde auch ich sein.

Et quoties istis cogitationibus te vexaverit Diabolus, illico qaere confabulationem hominum, aut largius bibe, aut jocare, nugare, aut aliquid aliud hilarius facito.

Est nonnunquam largius bibendum, ludendum, nugandum, atque adeo peccatum aliquod faciendum in odium et cotemtum Diaboli, ne quid loci relinquamus illi, ut conscientiam nobis faciat de rebus levissimis, alioqui vincimur, si nimis anxie curaverimus, ne quid peccemus.

Proinde si quando dixerit Diabolus, noli bibere, tu sic fac illi respondeas: atqui ob eam causam maxime bibam, quod tu prohibes, atque adeo largius in nomine Jesu Christi bibam. Sic semper contraria facienda sunt eorum, quae Satan vetat.

Quid causae aliud esse censes, quod ego sic meracius bibam, liberius confabuler, commesser saepius, quam ut ludam Diabolum ac vexem, qui me vexare et ludere paraverat.

Utinam possem aliquid insigne peccati designare modo ad eludendum Diabolum, ut intelligeret, me nullum peccatum agnoscere ac me nullius peccati mihi esse conscium.

Omnino totus decalogus amovendus est nobis ex oculis et animo, nobis, inquam, quos sic petit ac vexat Diabolus. Quodsi quando Diabolus nobis objecerit nostra peccata, ac reos egerit mortis et inferni, tunc sic debemus dicere:

fateor quidem, me reum esse mortis ac inferni, quid tum postea? Ergo etiam in aeternum condemnaberis? minime: novi enim quendam, qui passus est pro me ac satisfecit, et vocatur Jesus Christus, Dei filius. Ubi is manebit, manebo et ego.

Quelle

Diese Sätze beinhalten Luthers Rechtfertigungslehre in letzter Konsequenz: Sündenbewußtsein schafft Angst, die vom Teufel stammt und eine Versuchung darstellt, der man tapfer widerstehen muß. Wird hier nicht als mutiger Wiederstand bezeichnet, was in Wirklichkeit erbärmliche Feigheit ist? Kämpft Luther gegen den Teufel nicht wie gegen Windmühlen? Schuldbewußtsein darf es nach Luther gar nicht geben. Indem der Teufel Schuldbewußtsein hervorruft, redet er dem Gewissen des Menschen ein, daß er etwas Verbotenes tut. Das ist das genaue Gegenteil dessen, was der Teufel wirklich tut: er redet dem Menschen ein, daß etwas Verbotenes nicht verboten oder nicht so schlimm sei. Hier ist Luther selbst ein diabolus, einer, der alles durcheinander wirft.

Soll man überhaupt erwähnen, daß sich für Luthers hier vertretene Auffassung nicht die geringsten Hinweise im Neuen Testament finden?

Man könnte vielleicht sagen: Weil Luther die bewährten Prinzipien rationalen Denkens, die in der Scholastik erarbeitet wurden und in der menschlichen Natur verankert sind, verlassen hat, ging bei ihm alles schief.

5.       Der evangelische Christ ist auf Luthers Lehren verpflichtet. Er kann sich nie von Luther im Innersten distanzieren. Das verursacht ein Problem, denn Luthers Rechtfertigungslehre stammt aus seinen ureigensten Glaubensproblemen. Alles Problematische in Luthers Charakter und seiner Lehre haftet daher auch der evangelischen Kirche an. Für sie ist Luther die Personifikation der Zeitumstände: Seine individuelle Persönlichkeit wird von ihr verallgemeinernd auf die Beschaffenheit der damaligen Kirche und der früheren Kirche insgesamt übertragen, bzw. umgekehrt, Luthers Gewissensnöte werden davon abgeleitet.

6.       Luthers Abweichen von der bisherigen Lehre der Kirche kann zu zwei Kernpunkten zusammengezogen werden: zur Ablehnung der Apostolizität und zur Rechtfertigungslehre. Erstere kündigt die Loyalität zum hierarchischen Amt auf, das im römischen Papst seinen höchsten Vertreter hat, letztere geht aus seinem unbewältigten Sündenbewußtsein hervor. Beide Aspekte bedingen sich: Die Heilsvermittlung durch die Kirche weicht einem subjektiven Glauben an die Heilsgewißheit.

7.       Eine weitere Trennung von der Kirche vollzog Luther in der Ablehnung der scholastischen Philosophie, für die Glaube und Vernunft eine Einheit war. Für ihn galt nicht mehr die Formel: Wahrheit ist die Übereinstimmung von Denken und Sein. Er folgte der Richtung des Nominalismus, der durch Wilhelm von Ockham (1286-1349) und Gabriel Biel (1408-1495) entwickelt worden war. Als Folge zerbricht die Einheit von Himmel und Erde. Es entsteht eine Kluft zwischen Welt und Glauben. Gottes Geist verschwindet aus der Schöpfung. Dabei gerät die Natur des Menschen selbst aus dem Blick. Daher versteht Luther nicht, was Paulus den Athenern über die seinshafte Beziehung zwischen Mensch und Gott sagt: "In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir" (Apg 17,28). Für seine Rechtfertigungslehre legt er daher eine falsche Definition der menschlichen Natur zugrunde.

Luther bezog und prüfte alle Lehrinhalte existentiell auf ihre Tauglichkeit für seine eigene Heilssituation. Er machte sich selbst zum radikalen Experimentierfeld, durchlief dabei schmerzliche Aporien und setzte seine endgültigen Heilserfahrungen absolut.

8.       Liest man Fachartikel über die Rechtfertigung, so kann man meinen, das menschliche Seelenheil hinge nur vom rechten Verständnis der hohen theologischen Erörterung ab. Man findet darin kaum eine Bezugnahme auf Worte Jesu, der einerseits gesagt hat: "Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. … Getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen" (Joh 15,5), und andererseits: "Sammelt nicht Schätze auf Erden, … sondern sammelt Schätze im Himmel, wo weder Motte noch Wurm sie zerstören und keine Diebe einbrechen und sie stehlen." (Mt 6,19f.) Man darf sich hier an das Wort Jesu erinnern: "Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast" (Mt 11,25). Diese Aussage läßt zwei Überlegungen zu: Erstens, gehörte Luther und seine Mitstreiter zu diesen "Weisen und Klugen"? Zweitens, es gab auch zu Beginn des 16. Jahrhunderts viele "Unmündige", die das Evangelium verwirklichten.

9.       1532 war Luther überzeugt, in wenigen Jahren werde die Papstkirche verschwunden sein. Luther und seine Anhänger konnten meinen, sie seien zur ursprünglichen Kirche Jesu Christi zurückgekehrt. Luther sei also ein zweiter Kirchengründer, von Gott als neuer Evangelist in der Nachfolge des heiligen Paulus berufen. Heute aber hat die katholische Kirche nicht nur die meisten Mitglieder weltweit, sondern genießt auch höchstes Ansehen. Wie zeigt sich in der evangelischen Kirche von heute ihr Bemühen um ihre eigene Existenzberechtigung? Vier Punkte scheinen mir erwähnenswert:

·      Sie steht unter beständigen Rechtfertigungszwang, die evangeliumsgemäße Kirche zu sein. Falls sie es nicht ist, muß sie alle biblischen und kirchengeschichtlichen Bezugstellen zurechtbiegen. So werden alle Fehldeutungen und Irrtümer Luthers weitergeschleppt.

·      Sie verweist auf die Früchte der Reformation in Kultur und Kunst. Ohne Reformation gäbe es z.B. nicht die Komponisten Bach und Händel.

·      Ohne Luther hätte sich die katholische Kirche nicht reformiert, wie der evangelische Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann erklärt: "Ohne die Reformation hätte die katholische Kirche die Profilschärfung nicht erreicht, die ihr überhaupt die Fähigkeit verliehen hat, als glaubwürdige Institution zu überleben". (Deutschlandfunk 10.7.2012)

·      Sie richtet sich in eine ökumenische Situation der "versöhnten Verschiedenheit" ein. Dazu gehört die Auffassung, daß Christus keine sichtbare Kirche wollte. Auf diese Weise kann sie sich auf gleiche Stufe wie die katholische Kirche stellen und die Wiederkunft Christi abwarten.

Papst Franziskus setzt auf die Sichtbarkeit der Kirche, nicht in einer endgültigen, sondern vorläufigen Form. Nach seinem Besuch in Lund anläßlich des 500. Jahresgedenkens des Lutherischen Weltbundes, äußerte sich der Papst in einem Interview mit der italienischen Tageszeitung Avvenire folgendermaßen: "In diesem historischen Moment wird die Einheit auf zwei Wegen gemacht: gemeinsam vorangehen mit den Werken der Nächstenliebe, miteinander beten, und das gemeinsame Bekenntnis anerkennen, das sich im gemeinsamen Martyrium im Namen Christi ausdrückt. … Miteinander beten ist sichtbar. Werke der Nächstenliebe miteinander zu tun ist sichtbar." Die Gebetsmeinung des Papster für Januar 1917 lautet: "Alle Christen mögen sich treu zur Lehre des Herrn in Gebet und Nächstenliebe intensiv um Wiederherstellung der kirchlichen Gemeinschaft bemühen und sich gemeinsam den humanitären Herausforderungen stellen."

1.       Wenn sich die evangelische Kirche als die ursprüngliche wiederhergestellte Kirche sieht, wie betrachtet sie die 1500 Jahre Kirchengeschichte vorher? Wie kann sie sich damit identifizieren, wenn sich die katholische Kirche von der wahren Kirche Christi entfernt hatte? Ab wann? Nach Luthers sola-scriptura Prinzip eigentlich von Anfang an. Allerdings, da sie das nicaeno-konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis übernommen hat, ist sie genötigt, Fehlentwicklungen ab einem späteren Zeitpunkt anzunehmen. Auch ist auf Augustinus Rücksicht zu nehmen, bei dem Luther eine Bestätigung für seine Rechtfertigungslehre fand. Tatsächlich läßt das EKD-Dokument "Der evangelische Gottesdienst – Eine Orientierungshilfe" (2009) die Entwicklung des Opfercharakters der heiligen Messe "bald nach 400" beginnen. Doch finden sich bereits davor Zeugnisse (s. Wikipedia: Meßopfer). Die Absicht ist klar: Man hält daran fest, die ursprüngliche und somit wahre Kirche Jesu Christi zu vertreten. Es ist ein Fingerhakeln unter dem Tischtuch gemeinsamer Erklärungen.

2.       Die Umstände von Luther Eintritt ins Augustiner Kloster Erfurt am 17. 7. 1505 sind auch nach evangelischer Geschichtsschreibung rational nicht völlig erklärbar. Was bekannt ist, geht auf ein Selbstzeugnis Luthers drei Jahrzehnte nach dem Ereignis zurück: Bei einem heftigen Gewitter habe er der hl. Anna gelobt, Mönch zu werden. Nichts sprach davor für eine geistliche Laufbahn. Nach seinem Magister-Examen im Januar 1505 bereitete sich Luther auf ein Rechtsstudium vor. Sein Vater schenkte ihm den Codex Iustinianus. Der Autor Dietrich Emme legte in seinem Buch "Martin Luther – Jugend und Studienzeit" (1983) zahlreiche Indizien dafür vor, daß sich Luther mit einem Mitkandidaten des Magister-Examens namens Hieronymus Buntz nach dem Examen ein Duell geliefert habe, an dessen Folge dieser kurz darauf starb. Einige Monate später habe er sich einer drohenden Verhaftung durch den Eintritt in Kloster entzogen. Aus einem späteren Tischgespräch im Jahr 1532 ist die Aussage Luthers überliefert: "Nach einem einzigartigen Ratschluß Gottes bin ich zum Mönch gemacht worden, damit sie mich nicht gefangennehmen. Andernfalls wäre ich nämlich sehr leicht gefasst worden." In einer Predigt vom 24. Januar 1529, die die Verfolgung der Christen durch Paulus in Apg. 9,1ff. zum Ausgangspunkt hat, gesteht Luther offen, ein übler Bursche und Mörder gewesen zu sein (ein bub et homicida fui). Aber wie Paulus Barmherzigkeit widerfuhr, obwohl er ein großer Sünder war, so sind auch ihm seine Sünden nachgelassen worden. Gedeckt durch Paulus kann Luther bei dieser Gelegenheit sein Gewissen erleichtern. Es gibt keinen Grund, hier Luther nicht wörtlich zu nehmen.

Wenn das Duell oder Messerstechen in der genannten Weise stattgefunden hat, wäre das Gewitter von Stotternheim lediglich der letzte Anstoß, aber nicht die Ursache des Klostereintritts gewesen. Man kann sich vorstellen, daß Luther an seiner heftigen Natur verzweifelte und nach dem tödlichen Streit mit Buntz daran dachte, mit sich besser zurecht zu kommen, wenn er in ein Kloster einträte und Buße für sein sündhaftes Leben täte. So könnte auch die besondere Betonung der Buße in seiner ersten von 95 Thesen zu erklären sein. Er hatte also den "Abschied von der Welt" schon länger erwogen und bezog das Gewitter allein auf sich als ein zorniges Mahnzeichen Gottes, sein bisheriges Zögern aufzugeben.

Wenn Jesus sagt: "Viele sind gerufen, aber nur wenige auserwählt" (Mt 22,14), ist auch daran zu denken, daß jemand im geistlichen Stand große Schwierigkeiten haben wird, wenn er nicht wirklich in den geistlichen Stand berufen ist. Später gestand Luther, daß er unfreiwillig Mönch wurde.

3.       Luthers Seele oder Gewissen kam nach seinem Klostereintritt nicht zur Ruhe. Das Bewußtsein ständiger Sündhaftigkeit und seine Angst vor dem Zorn Gottes brachten ihn zu schierer Verzweiflung. Seine unablässigen Bemühungen, Gebote und Regeln einzuhalten, sah er nach und nach als unerfüllbare Werkgerechtigkeit an. Wie kann der Mensch seines ewigen Heils gewiß sein? Das ist die Bedeutung des Begriffes Rechtfertigung. Schließlich überkam Luther die ihn beglückende Erkenntnis des "Turmerlebnisses": Der Glaube an Jesus Christus allein ist bereits Rechtfertigung, also Heilsgewißheit. Werke sind nicht erforderlich, sie sind allenfalls Folgewirkungen des Glaubens.

Die evangelische Kirche bezeichnet Luthers SOLA FIDE Prinzip als "Reformatorische Entdeckung". 1500 Jahre lang ist sie also von keinem anderen Theologen gesehen worden.

4.       Die evangelischen Christen der ersten Jahrzehnte verließen sich unerschütterlich auf Luthers Prophetengabe, der den Untergang der Papstkirche vorausgesagt habe. Jhr Vertrauen gründete auf die Grabinschrift, die Luther 1537 seinem treuesten Mitstreiter Philipp Melanchthon anvertraute:

"Mein epitaphium sol war bleyben:

PESTIS ERAM VIVENS MORIENS ERO MORS TUA PAPA

Lebend war ich (dir) eine Pest, sterbend werde ich dein Tod sein, Papst.

(Statt VIVENS wird später VIVUS verwendet.)

Tatsächlich wurden solche Epitaphien errichtet, wie z.B. in der St. Marienkirche in Göttingen. Dort erhielt Luther die Titel PROPHETA GERMANIAE und ULTIMUS ELIAS. Letzterer setzt Luther in Beziehung zu Johannes dem Täufer, dem Vorläufer Jesu. Die neuen Gläubigen betrachteten Luther als Vorläufer der Wiederkunft Christi, die sie für nahe bevorstehend hielten.

Luthers angebliche Prophetengabe erwies sich als Täuschung. Luthers Lehren wurden auf dem Konzil von Trient als Irrlehren verurteilt und die katholische Kirche breitete sich durch viele Missionsbemühungen weiter aus. Es wurden zahlreiche Orden gegründet, die sich der Armen und Ungebildeten in den Gesellschaften annahmen. Der Zölibat brachte in vielen heiligmäßigen Männern und Frauen viele Früchte. Die Rechtmäßigkeit der katholischen Kirche wurde weiter bestätigt durch mystisch begnadete Männer und Frauen, die von Gott Botschaften erhielten, darunter die von La Salette, von Lourdes und Fatima. Über 60 Wunderheilungen in Lourdes sind anerkannt, weiterhin viele Wunder, die sich auf Fürsprache von heiligmäßigen Personen ereigneten und zu Selig- und Heiligsprechungen führten.

Zu all diesen Geschehnissen steht die evangelische Kirche spröde abseits. Es herrschen gegen die reformatorisch abgelehnten Lehren schwer überwindbare Vorbehalte. Die Heiligenverehrung beispielsweise, so der Eindruck, ist evangelischen Christen ein ähnliches Greuel wie den Muslimen der Verzehr von Schweinefleisch. Die Aufgabe des apostolischen Amtes und die Trennung von Himmel und Erde, von Theologie und Vernunft haben die evangelische Kirche des MYSTERIUMS beraubt. Im Mysterium schließt sich der Mensch Gottes Wirken in besonderer Weise auf. Daher gibt er auch sichtbare Beweise seines Wirkens in geistlichen Berufungen und privaten Offenbarungen.

5.       Vom katholischen Standpunkt möchte ich ein Bild gebrauchen: Martin Luther hat das Porzellan von 1500-jähriger gewachsener kirchlicher Lehre zerbrochen und an seiner Stelle irdene Gefäße hergestellt, aus der auch heute noch die offizielle evangelische Kirche und vieler ihrer Theologen glauben, die wahre Lehre Jesu Christi trinken zu können. Die Schriften Luthers gelten vielen immer noch als der Schatz im Acker, den es zu hüten gilt, sie sind aber ähnlich geschichtsbedingte Ergebnisse ihrer Zeit wie der Koran des Mohammed. In einer Zeit grenzenlosen Wissens und globaler Sichtweisen erscheinen sie einseitig und anachronistisch. Wenn in ihnen Gültiges enthalten ist, dann immer vermischt mit Subjektivem und Irrigem. Luthers Lehren als Maßstab des Evangeliums weiter zu verteidigen, hilft der Einheit der Kirche so wenig weiter wie die sprichwörtliche Bemühung, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen.

Die Kontinuität der katholischen Kirche macht es für evangelische Christen, Theologen und Amtsträger möglich, die ganze Wahrheit ohne Luthers Schriften zu erkennen und diese nur zu studieren, um die Gründe für ihre Abweichung von der Wahrheit zu ermitteln. Auf diese Weise kann eine beständige Selbstbezogenheit protestantischer Theologie überwunden werden.

6.       Ich frage mich, ob Luther und mit ihm die Theologen und Amtsträger der evangelischen Kirche die Paulusbriefe nicht höher einschätzen und gewichten als die vier Evangelien, in denen uns Jesus selbst in seinen ermutigenden Worten und Taten entgegentritt. Seine Botschaft läßt sich in zwei Szenen und Ebenen beispielhaft aufzeigen: im Gleichnis vom Mitleid des Samariters (Lk 10, 30-37) und im Endgericht des Menschensohnes (Mt 25, 31-46): Der barmherzige Samariter unterbricht seine Reise, um dem ihm unbekannten von Räubern Mißhandelten erste Hilfe zu leisten; in der Gerichtsszene werden die Menschen nicht danach beurteilt, ob sie "durch den Glauben allein" an Jesus, den Gerechten, "gerecht gemacht" werden, wie Luther lehrte, sondern ob sie an ihren Mitmenschen Barmherzigkeit geübt haben. Aus der erstaunten Rückfrage: "Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen?" usw. läßt sich schließen, daß zu den Geretteten alle Menschen gehören, auch die Nichtchristen.

Jesus bietet für das ewige Heil keinen "Persilschein" an, den Dietrich Bonhoeffer "die billige Gnade" nennt, sondern macht es abhängig von den "Früchten", also von guten Werken. In vier Aussagen der Kapitel 14 und 15 des Johannesevangeliums werden drei Heilsaspekte sichtbar:

"Wer an mich glaubt, wird die Werke, die ich vollbringe, auch vollbringen" (14,12).

"Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten" (14,15).

"Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht" (15,5).

"Wenn ihr meine Gebote haltet, werdet ihr in meiner Liebe bleiben" (15,10).

·      Nicht "der Glaube allein" an Jesus, sondern Glaube und Liebe zusammen bestimmen das Verhältnis seiner Jünger zu ihm.

·      Die Beziehung zu Jesus ist auf das Vollbringen von Werken und Hervorbringen von Früchten ausgerichtet. Werke zu vollbringen und Früchte hervorzubringen, sind Gebote Jesu, die in seinen vielfältigen, in den Evangelien überlieferten Worten enthalten sind.

·      Die zweite Aussage führt in der vierten zu einer Umkehrung: Die Gebote Jesu zu halten, ist eine Selbstverpflichtung des Christen, durch die er sich der liebenden Zuwendung Jesu versichern kann.

Mehr Heilsgewißheit als in der Liebe Jesu zu bleiben, indem man treu Jesu Gebote befolgt, gibt es nicht. In seiner Liebe zu bleiben, erfordert jedoch Ausdauer und Wachsamkeit: erstere in Zeiten der Verfolgung (Mt 10,23; Mk 13,14) und der Verführung durch falsche Propheten (Mt 24,13) – von denen Luther nicht kategorisch ausgeschlossen werden kann – letztere, um genügend Öl des Glaubens in der Lampe zu haben, da sonst die Tür verschlossen ist (Mt 25, 1-12; Lk 13, 26).

Das Rechtfertigungsfrage mit Paulus beantworten zu wollen, erscheint letztlich als ein aufwendiger, steiniger und deutungsgefährlicher Umweg, statt sie durch Jesu eigene Worte und Taten zu lösen. Man muß also vom Nebenschauplatz zum Hauptschauplatz wechseln.

7.       Die evangelische Kirche hat wichtige Lehren der katholischen Kirche aufgegeben: Apostolizität, Heiligenverehrung, Fegefeuer (Läuterungsort), Meßopfer, sie ist eine defizitäre Kirche. Aufgabe des Katholiken ist es, die volle Lehre der Kirche so glaubwürdig vorzuleben, daß evangelische Christen davon angezogen werden.

 

s.a. Römer 1,17: "aus Glauben zum Glauben": eine Textanalyse

 

 

 

 

Eingestellt: Januar 2017

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Reflexio