MARIA IM GESPRÄCH MIT IHREN ELTERN
Kap.11
Die innigen Gespräche zwischen Maria und ihren Eltern
geben Aufschluß über einige theologische Fragen hinsichtlich der
Messiaserwartung und Marias innere Haltung dazu:
–
Die religiös Gebildeten in Israel sind
überzeugt, daß die Prophezeiungen Daniels (Dan 9,24-27) sich in wenigen Jahren
erfüllen. Anna spricht von 30 Jahren bis zur Ankunft des Messias. Das dürfte
jedoch nicht stimmen, da Maria ein wenig später meint, die Mutter des Messias
werde bereits Tempeldienst in Jerusalem tun. Richtiger wäre etwa die Zahl 13.
Als der 12-jährige Jesus den Tempel betritt, streiten die Schriftgelehrten gerade darüber, wann der Messias
geboren werde. Gamaliel ist der Auffassung, der Messias müsse schon über 10
Jahren geboren sein, da "die geweissagten siebzig Jahrwochen ... seit dem
Dekret über den Wiederaufbau des Tempels" bereits erfüllt seien. (Die
Berechnung der 70 Jahrwochen ist für uns heute schwer nachzuvollziehen.)
–
Für Maria ist es Gewißheit, daß der Messias
von einer Jungfrau geboren werden wird und daß seine Mutter Tempeljungfrau
gewesen sein muß. Sie will der Mutter des Messias im freiwillig gewählten Stand
der Jungfräulichkeit dienen. Diese Absicht findet sich auch bei den Seherinnen
Maria von Agreda und Anna Katharina Emmerick.
–
Maria will durch ihre Gebete die Ankunft des
Messias beschleunigen. In Kap.711, kurz vor ihrem Tod, sagt Maria: "Durch
die Macht der Liebe entriß ich dem Himmel das Wort vor der Zeit, damit es
Mensch und Erlöser werde." Um welche Zeitspanne es sich handelt, ist nicht
ersichtlich. Einen Hinweis darauf könnte die historische Fügung geben, daß als
Geburtsjahr Jesu Christi ein um einige Jahre späteres Datum berechnet wurde als
es in Wirklichkeit war.
–
Maria spricht den Wunsch aus, zu sündigen,
damit der Messias bald komme, um sie zu erlösen. Sie will sündigen, ohne
wirklich zu sündigen. Diese absurde Vorstellung deutet auf Marias einzigartiges
Vorrecht hin, ohne Erbschuld empfangen zu sein. Diese übernatürliche Tatsache
war ihr jedoch nicht bekannt.
Am Ende der Laube sieht man Schnitter, die mit Sicheln das
Gras mähen. Doch es kann wohl kein Maiheu sein, denn die Weintraube beginnt
sich schon zu färben, und ein großer Apfelbaum zeigt zwischen dunklen Blättern
seine Früchte, die beginnen, wachsgelb und rosa zu werden. Das Kornfeld ist nur
mehr ein Stoppelfeld, auf dem sich die Flämmchen der Mohnblumen wiegen, während
sich die Kornblumen steif und frei aufrichten, strahlend wie die Sterne in
einem Blau, das dem des orientalischen Himmels ähnelt.
Aus der schattigen Laube kommt eine ganz kleine, aber
schon flinke und selbständige Maria. Ihr kurzer Schritt ist sicher, und die
Füße in den weißen Sandälchen stolpern nicht über die Steinchen. Sie hat schon
andeutungsweise den lieblichen, leicht wiegenden Gang der Taube; sie ist weiß
wie ein Täubchen in ihrem Leinenkleidchen, das bis zu den Fußknöcheln reicht
und weit ist. Es ist durch himmelblaue Schnürchen aufgekrempelt am Hals und an
den kurzen Ärmeln, die die rosigen und molligen Vorderärmchen sehen lassen. Mit
ihrem seidiges Haar, das honigblond leuchtet, nicht dicht ist, aber sanfte
Wellen hat, die in Löckchen enden; mit ihren himmelblauen Augen und dem
lieblichen, leicht geröteten, lächelnden Antlitz gleicht sie einem kleinen
Engel. Auch der zarte Wind, der in ihre weiten Ärmel greift und das Linnen
ihres Kleidchens an den Schultern bläht, trägt dazu bei, ihr das Aussehen eines
Engelchens mit schon zum Flug geöffneten Flügeln zu verleihen.
In ihren Händchen hat sie Mohn- und Kornblumen und andere
Blümchen, die zwischen dem Korne wachsen, deren Namen ich aber nicht kenne. Als
sie in die Nähe der Mutter kommt, beginnt sie zu laufen, stößt mit ihrem
Stimmchen einen kurzen, freudigen Schrei aus und eilt wie ein Turteltäubchen im
Flug an die Knie der Mutter, die sich ein wenig geöffnet haben, um sie zu
empfangen. Die Mutter hat ihre Arbeit beiseitegelegt, damit sich das Kind nicht
steche. Sie hat ihm die Arme entgegengestreckt, um es zu umarmen.
«Mama, Mama!» Das weiße Täubchen ist nun ganz im Nest der
mütterlichen Knie, mit den Füßchen auf dem niedrigen Gras und dem Gesichten im
mütterlichen Schoß. Und man sieht nichts als das blasse Gold ihrer Härchen im
feinen Nacken, den Anna liebevoll küßt, wozu sie sich niederbeugt. Dann erhebt
das Täubchen sein Köpfchen und gibt ihr Blumen. Alle gibt sie der Mutter und zu
jeder Blume erzählt sie eine Geschichte, die sie sich selbst erdacht hat:
«Diese, blau und groß, ist ein Stern, der vom Himmel
heruntergekommen ist, um den Kuß des Herrn seiner Mutter zu überbringen. Küsse,
küsse sie auf das Herz, küsse das Herz dieses himmlischen Blümleins, und du
wirst fühlen, daß es den Duft Gottes hat.
Diese andere hingegen ist blaßblau, wie die Augen Papas;
auf ihren Blütenblättern steht geschrieben, daß der Herr Papa sehr liebt, weil
er so gut ist.
Und dieses kleine, kleine, das einzige, das ich gefunden
habe (ein Vergißmeinnicht), hat der Herr gemacht, um Maria zu sagen, daß er sie
lieb hat. Und diese roten, weißt du, Mama, was das für Blumen sind? Das sind
Stücke vom Kleid des Königs David, eingetaucht in das Blut der Feinde Israels,
gesät auf den Kampfes- und Siegesfeldern. Sie sind aus dem Saum des heroischen
Königsgewandes entsprungen, das zerrissen ward im Kampf für den Herrn (2 Sam
5-8).
Dieses weiße und liebliche Blümchen hingegen, das aus
sieben Seidenschalen gemacht zu sein scheint, die von Wohlgeruch erfüllt zum
Himmel schauen, und das dort geboren wurde, dort bei der Quelle – Papa hat es
ihr aus dem Dorngebüsch herausgeholt – ist aus dem Gewand gemacht worden, das
der König Salomon in demselben Monat trug, als ihm sein Enkelkind geboren
wurde... aber viele, viele Jahre früher, als er in der weißen Pracht seiner
Gewänder einherging mit einer großen Schar aus Israel vor der Bundeslade und
dem Zelt, aufjubelte wegen der Wolke, die zurückgekehrt war, um seinen Ruhm zu
umgeben, und den Lobgesang anstimmte und das Gebet seiner Freude verrichtete.
Ich will immer wie diese Blume sein, und wie der weise König will ich singen
das ganze Leben und beten vor dem Zelt.» (1 Kön 8). Damit schloß sich der
kleine Mund Marias.
«Mein Schatz! Woher weißt du diese heiligen Dinge? Wer hat
sie dir gesagt? Dein Vater?»
«Nein, ich weiß nicht, wer es ist. Es scheint mir, als ob
ich sie immer gewußt hätte. Aber vielleicht ist es einer, der sie mir sagt und
den ich nicht sehe. Vielleicht einer der Engel, die Gott schickt, um mit den
Menschen zu reden, die gut sind. Mama, erzählst du mir noch mehr davon? ...»
«Oh, meine Tochter! Von was soll ich dir erzählen?»
Maria denkt nach, ernst und gesammelt. Man sollte sie
malen, um den Ausdruck festzuhalten. In den kindlichen Geschichten spiegeln
sich die Schatten ihrer Gedanken wieder: Lächeln und Seufzer, Strahlen der
Sonne und Schatten der Wolken bei dem Gedanken an die Geschichte Israels...
Dann wählt sie: «Noch einmal die Geschichte von Gabriel und Daniel, in der der
Gesalbte versprochen wird» (Dan 9).
Und nun hört sie mit geschlossenen Augen zu und wiederholt
leise die Worte der Mutter, um sie besser behalten zu können. Nachdem Anna ihre
Erzählung beendet hat, fragt sie: «Wieviel fehlt noch, bis Emmanuel kommt?»
«Ungefähr noch dreißig
Jahre, mein Liebling.» «Oh, wie lange noch! Dann werde ich im Tempel
sein... Sage mir, wenn ich beten würde, viel, sehr viel, Tag und Nacht, Nacht
und Tag, und wenn ich ganz Gottes sein wollte, das ganze Leben lang, würde mir
der Ewige dann die Gnade schenken und den Messias seinem Volk schneller geben?»
«Das weiß ich nicht, meine Liebe; der Prophet sagt:
siebzig Wochen. Ich glaube, daß die Prophezeiung nicht irrt. Aber der Herr ist
so gut», beeilt Anna sich hinzuzufügen, als sie sieht, daß sich schon
Tränenperlen auf den goldigen Wimpern ihres Kindleins bilden, «daß ich glaube,
wenn du viel, viel, viel betest, wird er dich erhören.»
Das Lächeln kehrt auf ihr Gesichtchen zurück, das zur
Mutter aufschaut, und ein Sonnenstrahl, der zwischen zwei Weinblättchen
durchscheint, läßt die Tropfen des schon gestillten Weinens aufleuchten, wie
Tautröpfchen an den so feinen Stengelchen des Bergmooses.
«Dann will ich beten, und werde mich als Jungfrau dafür
weihen.»
«Aber weißt du, was das besagen will?»
«Das will besagen, nicht die Liebe eines Mannes
kennenlernen, sondern nur die Liebe Gottes. Das will besagen, keinen Gedanken
haben, der sich nicht auf Gott bezieht. Das will besagen, Kind im Fleisch
bleiben und Engel im Herzen. Das will besagen, die Augen nur zu gebrauchen, um
auf Gott zu schauen; die Ohren, um auf ihn zu hören; den Mund, um ihn zu loben;
die Hände, um sich ihm als Opfer darzubringen; die Füße, um ihm schnell zu
folgen; das Herz und das Leben, um sie ihm zu schenken.»
«Oh, du Gesegnete! Aber dann wirst du nie Kindlein haben,
du, die du die Kinder so liebst, und die Lämmlein und die Täubchen... Weißt du,
ein Kindlein ist für eine Frau wie ein weißes, krauses Lämmlein; wie ein
Täubchen mit Flaumfedern aus Seide und einem Korallenmündchen, das man lieben
und küssen kann, und das zu einem sagt: "Mama."»
«Das macht nichts. Ich will Gottes sein. Im Tempel werde
ich beten, und dann werde ich vielleicht eines Tages Emmanuel sehen. Die Jungfrau, die seine Mutter sein wird, muß, wie
der große Prophet sagt, schon geboren und im Tempel sein... Ich werde
ihre Gefährtin sein... und ihre Magd! O ja! Wenn ich sie nur erkennen könnte im
Licht Gottes, ich würde ihr dienen, der Glücklichen! Dann würde sie mir ihren
Sohn bringen, und ich würde ihm dienen. Denke dir, Mama! ... Dem Messias
dienen!» Maria ist ganz überwältigt von diesem Gedanken, der sie erhebt und
zugleich vernichtet. Mit den auf der Brust gekreuzten Armen, dem ein wenig
vorgebeugten Köpfchen und vor Aufregung entzückt, wie sie ist, scheint sie eine
kindliche Nachbildung der Annunziata, die ich einmal in ihrem Heiligtum in
Florenz gesehen habe. Sie fährt fort: «Aber wird es mir der König von Israel,
der Gesalbte Gottes, erlauben, ihm zu dienen?»
«Daran zweifle nicht! Sagt der König Salomon nicht:
"Sechzig sind die Königinnen und achtzig die übrigen Frauen, und die
Mädchen sind ohne Zahl?" (Hohel 6.7). Du siehst, im Palast des Königs
werden zahllose Jungfrauen und Mädchen sein, die ihrem Herrn dienen werden.»
«Oh! Siehst du nun, daß ich Jungfrau sein muß? Ich muß es
sein, ich muß! Wenn er als Mutter eine Jungfrau haben will, ist das ein Zeichen
dafür, daß er die Jungfräulichkeit über alles liebt. Ich will, daß er mich
liebt, mich, seine Dienerin, wegen meiner Jungfräulichkeit; daß er mich ein
wenig seiner geliebten Mutter ähnlich macht... das will ich... Ich möchte aber
auch Sünderin sein, eine große Sünderin, wenn ich nicht fürchten muß, den Herrn
dadurch zu beleidigen... Sage mir, Mama, kann man Sünderin sein aus Liebe zu
Gott?»
«Aber was sagst du, Schatz? Ich verstehe dich nicht.»
«Ich will sagen: sündigen, um von Gott geliebt zu werden;
damit er zum Erlöser wird. Man rettet den, der verloren ist, nicht wahr? Ich
möchte gerettet werden vom Erlöser, um seinem Blick der Liebe zu begegnen.
Deswegen möchte ich sündigen; aber ohne eine Sünde zu begehen, die ihm
mißfallen könnte. Wie kann er mich retten, wenn ich nicht verlorengehe?»
Anna ist ganz verblüfft. Sie weiß nicht, was sie sagen
soll.
Da kommt ihr Joachim zu Hilfe, der, auf dem Gras
schreitend, sich geräuschlos hinter dem Zaun der niederen Weinreben genähert
hatte. «Er hat dich schon im voraus gerettet, weil er weiß, daß du ihn liebst
und ihn allein lieben willst. Deswegen bist du schon erlöst und kannst Jungfrau
sein, wie du es willst», sagt Joachim.
«Wirklich, mein Vater?» Maria umschlingt seine Knie und
blickt ihn an mit den hellen Sternlein ihrer Augen, die den väterlichen Augen
so sehr ähneln und die nun glücklich sind in der Hoffnung, die ihr der Vater
gegeben hat.
«Wirklich, meine Liebe. Schau! Ich bringe dir hier dieses
Spätzlein. Es kam bei seinem ersten Flug zum Quellbrunnen. Ich hätte es sich
selbst überlassen können; aber die schwachen Flügel und die Füßchen aus Seide
hatten nicht die Kraft, sich zu neuem Flug zu erheben oder sich aufrecht zu
erhalten auf dem moosigen, schlüpfrigen Stein. Es wäre in die Quelle gefallen.
Ich habe nicht gewartet, bis es soweit kam. Ich habe es genommen und gebe es
dir. Tu damit, was du willst! So ist es gerettet worden, bevor es in der Gefahr
umgekommen ist. Dasselbe hat Gott mit dir getan. Jetzt sage mir, Maria: Habe
ich das Vöglein mehr geliebt, indem ich es jetzt gerettet habe, oder hätte ich
es mehr geliebt, wenn ich es später gerettet hätte ... ?»
«Du hast es mehr geliebt, indem du es jetzt gerettet hast;
denn du hast nicht erlaubt, daß es sich weh tue im kalten Wasser.»
«Auch Gott hat dich mehr geliebt, indem er dich gerettet
hat, bevor du sündigen konntest.»
«Und nun werde ich ihn ganz lieben. Ganz! Ganz! Schönes
Spätzlein, ich bin wie du. Der Herr hat uns in gleicher Weise geliebt; er gab
uns das Heil... Jetzt werde ich dich aufziehen, und dann lasse ich dich
fliegen. Und du wirst im Wald und ich im Tempel das Lob des Herrn singen, und
wir werden sagen: "Schicke, schicke deinen Verheißenen dem, der ihn
erwartet!" Oh, Papa! Wann wirst du mich in den Tempel führen?»
«Bald, meine Perle. Aber schmerzt es dich nicht, deinen
Vater zu verlassen?»
«Sehr! Aber du wirst kommen... ! Wenn es mir nicht Schmerz
bereiten würde, wäre es dann noch ein Opfer?»
«Und wirst du dich unser erinnern?»
«Immer. Nach dem Gebet für Emmanuel werde ich für euch
beten. Möge Gott euch Freude und ein langes Leben schenken... bis zum Tag, da
er der Erlöser sein wird. Dann werde ich ihm sagen, daß er euch nehme, um euch
ins himmlische Jerusalem zu bringen.»
Die Vision entschwindet, während Maria von den väterlichen
Armen umschlungen wird.
September 2006