Die Rolle der Götter in der Aeneis

Dichtung ist ein Werk der Ordnung und Schönheit und ein Abbild der Vollkommenheit der Schöpfung. In die Vollkommenheit der Ordnung bricht jedoch Unordnung von Haß und Gewalt herein.

Die Götter sind Schöpfungen der Menschen, Objektivationen des suchenden und von Gott geleiteten menschlichen Geistes. Sie sind Ersatz für den unbekannten wahren Gott. Die Götter spiegeln die Doppelnatur des Menschen wider: seine göttliche Würde einerseits und seine sittliche Unvollkommenheit andererseits. Die Götter besitzen Hoheit und Macht, lassen sich aber wie die Menschen, nach deren Bild sie geschaffen sind, von unvollkommenen Wünschen und Begierden beherrschen.

Die Ereignisse der Aeneis werden hauptsächlich von drei Gottheiten gelenkt: Iuno, Venus und Iuppiter. Während Iuno Aeneas Hindernisse in den Weg legt, spinnt Venus törichte und verderbliche Liebesintrigen. Iuppiter aber steht über den Parteien, er hält das Fatum sicher in der Hand. Iuppiter allein ist die Verkörperung der Vollkommenheit Gottes, von dem jeder Mensch zu seiner glücklichen Bestimmung geführt wird, wenn er sich wie PIUS AENEAS leiten läßt.

Das treue Festhalten an den überlieferten Kultformen ist in sich der Weg Roms zu einer geläuterten Gottesvorstellung. Götternamen und Götterverehrung sind als evolutionäre Werkzeuge Gottes für die Entfaltung menschlicher Geschichte zu verstehen. Die Götternamen sind voll in das gematrische System integriert und können von daher als legitime Metaphern des einen Gott in drei Personen gelten. Die Erkenntnis des dreifaltigen Gottes geht immer und immer wieder aus den gematrischen Werten hervor.

Sichtbarer Ausdruck für die Läuterung des Gottesbildes ist die Metamorphose der griechischen Götternamen in italische. Vergil verwendet in der Aeneis zwar die Namen Iuno und Venus für die griechischen Entsprechungen Hera und Aphrodite, aber ihre Mentalität gehört der alten Götterwelt an, die ein sehr unvollkommenes Gottesbild verkörpert.

Opfer der unvollkommenen Götterwelt und mit ihr die geschichtliche Kultur Karthagos ist Dido. Sie vermag den Machenschaften der intrigierenden Göttinnen (Iunos Pakt mit Venus, 4, 90-128) kein moralisches Gegenmittel entgegenzusetzen und geht zugrunde. Auch Aeneas ist Opfer, aber dank seiner Erwählung für den Fortschritt einer besseren Menschheit wird er aus seiner Verstrickung herausgeholt. Sowohl er selbst als auch die Göttinnen Iuno und Venus machen im Verlauf der epischen Handlung eine Läuterung durch und kennzeichnen so den religiösen Fortschritt von der Vorzeit und dem Beginn der römische Geschichte bis hin zur Zeit Vergils.

Die Veränderlichkeit der Gottheiten erweisen sie als Gedankengebilde der Menschen. Zwar behandelt sie Vergil hoheitsvoll und in rühmender Redeweise, wie es die epische Tradition verlangt, aber indem er sie in der Beziehung zwischen Dido und Aeneas Willkürhandlungen verüben läßt, distanziert er sich von ihrer objektiven Existenz. Ihre unvollkommenen Handlungsweise ist als kulturelle Bewertung karthagischer Geschichte zu verstehen. Nach Ausweis schriftlicher Überlieferungen und archäologische Zeugnisse werden in Karthago bis zum Ende seiner Geschichte dämonische Kulthandlungen mit Menschenopfer nicht überwunden. Roms Sieg über Karthago ist also auch Sieg einer überlegenen Gottesvorstellung.

Zwar stürzen Venus und Iuno menschliche Beziehungen in sittliche Unordnung, aber Vergil ist gewissenhaft bemüht, die sittliche Selbstverantwortung von Dido und Aeneas nicht in Abhängigkeit von der epischen Staffage der göttlichen Ebene erscheinen zu lassen. Mit großer formaler Präzision wird die wachsende Abhängigkeit Didos von Gefühlen unstatthafter Liebe bereits im thematischen Auftakt der Zeilen 1-5 sichtbar.

 

 

Erstellt: 16.3.2003

Letzte Änderung: 7.4.2003

 

domum

index