Papst Benedikt XVI.
Generalaudienz am 18.1.12
Gebetswoche für die Einheit der Christen
Liebe Brüder und Schwestern!
In den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde die Gebetsoktav
von Abbé Paul Couturier von Lyon entwickelt und ausgearbeitet, der das Gebet
„für die Einheit der Kirche, wie Christus sie will, und mit den Mitteln, die er
will“ unterstützte. In seinen letzten Schriften sieht Abbé Couturier diese
Woche als Mittel, das dem allumfassenden Gebet Christi erlaubt, „in den
gesamten christlichen Leib einzudringen“; es muss wachsen, bis es „ein
gewaltiger einmütiger Ruf des ganzen Gottesvolkes“ wird, das Gott um diese
große Gabe bittet. Und gerade in der Gebetswoche für die Einheit der Christen
findet der Impuls, den das Zweite Vatikanische Konzil der Suche nach der vollen
Gemeinschaft aller Jünger Christi gegeben hat, jedes Jahr eine seiner
wirksamsten Ausdrucksformen. Dieser geistliche Termin, zu dem sich Christen
aller Traditionen vereinen, macht uns die Tatsache stärker bewusst, dass die
Einheit, nach der wir streben, nicht nur das Ergebnis unserer Bemühungen sein
kann, sondern vielmehr ein vom Himmel empfangenes Geschenk sein wird, um das
wir stets bitten müssen.
Jedes Jahr werden die Hilfen für die Gebetswoche von einer ökumenischen
Gruppe aus einer anderen Region der Welt vorbereitet. Ich möchte mich
eingehender mit diesem Punkt befassen. Dieses Jahr wurden die Texte von einer
gemischten Gruppe vorgeschlagen, die aus Vertretern der katholischen Kirche und
des Ökumenischen Rats in Polen zusammengesetzt war, der verschiedene Kirchen
und kirchliche Gemeinschaften des Landes umfasst. Die Dokumentation wurde dann
von einem Komitee durchgesehen, das aus Mitgliedern des Päpstlichen Rats zur
Förderung der Einheit der Christen sowie der Kommission „Glaube und
Kirchenverfassung“ des Ökumenischen Weltrats der Kirchen bestand. Auch diese
gemeinsame, in zwei Etappen erfolgte Arbeit ist ein Zeichen für den Wunsch nach
Einheit, der die Christen beseelt, sowie für das Bewusstsein, dass das Gebet
der vorrangige Weg ist, um die volle Gemeinschaft zu erreichen, denn vereint
auf den Herrn hin gehen wir auf die Einheit zu.
Polen, ein Beispiel der Stärke des christlichen Glaubens
Das Thema der Gebetswoche dieses Jahres ist – wie wir gehört haben –
dem ersten Brief an die Korinther entnommen: „Wir werden alle verwandelt durch
den Glauben an Jesus Christus“ (vgl. 1 Kor 15, 51–58), sein Sieg wird uns
verwandeln. Dieses Thema wurde von der erwähnten ökumenischen Gruppe in Polen
vorgeschlagen, die in der Reflexion über ihre eigene Erfahrung als Nation
herausstellen wollte, wie stark die Hilfe des christlichen Glaubens in
Prüfungen und Erschütterungen wie denen, die die polnische Geschichte geprägt
haben, sein kann. Nach ausführlichen Diskussionen ist ein Thema ausgesucht
worden, das sich mit der verwandelnden Kraft des Glaubens an Christus befasst,
vor allem hinsichtlich seiner Bedeutung für unser Gebet zugunsten der
sichtbaren Einheit der Kirche, des Leibes Christi. Angeregt worden war diese
Reflexion durch die Worte des heiligen Paulus, der, als er sich an die Kirche
in Korinth wandte, von der Vergänglichkeit dessen sprach, was zu unserem
gegenwärtigen Leben gehört, das auch von der Erfahrung der „Niederlage“ von
Sünde und Tod geprägt ist, gegenüber dem, was uns der „Sieg“ Christi über Sünde
und Tod in seinem österlichen Geheimnis bringt.
Die besondere Geschichte der polnischen Nation, die – etwa im
sechzehnten Jahrhundert – Zeiten des demokratischen Zusammenlebens und der
Religionsfreiheit gekannt hat, war in den letzten Jahrhunderten von Invasionen
und Niederlagen, aber auch vom ständigen Kampf gegen Unterdrückung und von
Freiheitsdurst geprägt. Alles das hat die ökumenische Gruppe dazu veranlasst,
auf vertiefte Weise über die wahre Bedeutung von „Sieg“ – was ist der Sieg –
und „Niederlage“ nachzudenken. Im Gegensatz zu einem triumphalistisch
verstandenen „Sieg“ schlägt Christus uns einen ganz anderen Weg vor, der nicht
über Macht und Gewalt führt. So sagt er: „Wer der Erste sein will, soll der
Letzte von allen und der Diener aller sein“ (Mk 9, 35). Christus spricht von
einem Sieg durch die leidende Liebe, durch das gegenseitige Dienen, durch die
Hilfe, die neue Hoffnung und den konkreten Trost, die den Letzten geschenkt
werden, den Vergessenen, den Zurückgestoßenen. Für alle Christen ist der
höchste Ausdruck dieses demütigen Dienens Jesus Christus selbst, seine
vollkommene Selbsthingabe, der Sieg Seiner Liebe über den Tod am Kreuz, der im
Licht des Ostermorgens aufleuchtet.
Wir können an diesem verwandelnden „Sieg“ teilhaben, wenn wir uns von
Gott verwandeln lassen, wenn wir eine Umkehr in unserem Leben bewirken und die
Verwandlung in Form der Umkehr erfolgt. Das ist der Grund, warum die
ökumenische Gruppe aus Polen die Worte des heiligen Paulus: „Wir werden alle
verwandelt werden“ (vgl. 1 Kor 15, 51–58) durch den Sieg Christi, unseres
Herrn, als Thema für die eigene Meditation für besonders angemessen erachtete.
Die volle und sichtbare Einheit der Christen, nach der wir streben,
erfordert, dass wir uns verwandeln und auf immer vollkommenere Weise nach dem
Bild Christi formen lassen. Die Einheit, um die wir beten, erfordert eine
gemeinschaftliche und persönliche innere Umkehr. Es handelt sich nicht einfach
um Freundlichkeit oder Zusammenarbeit, es bedarf vor allem der Stärkung unseres
Glaubens an Gott, den Gott Jesu Christi, der zu uns gesprochen hat und einer
von uns geworden ist; es bedarf des Eintretens in ein neues Leben in Christus,
der unser wahrer und endgültiger Sieg ist; es bedarf der Öffnung füreinander,
durch das Erfassen aller Elemente der Einheit, die Gott uns bewahrt hat und
immer von Neuem schenkt; es bedarf des Gefühls der Dringlichkeit, den Menschen
unserer Zeit den lebendigen Gott zu bezeugen, der sich in Christus zu erkennen
gegeben hat.
Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Suche nach Ökumene in den
Mittelpunkt des Lebens und des Wirkens der Kirche gestellt: „Dieses Heilige
Konzil (mahnt) alle katholischen Gläubigen, dass sie, die Zeichen der Zeit
erkennend, mit Eifer an dem ökumenischen Werk teilnehmen“ (Unitatis
redintegratio, 4). Der selige Johannes Paul II. hat hervorgehoben, wie wichtig
diese Aufgabe ist: „Diese Einheit, die der Herr seiner Kirche geschenkt hat und
in der er alle umfangen wollte, ist nicht etwas Nebensächliches, sondern steht
im Zentrum seines Wirkens. Und sie ist auch nicht gleichbedeutend mit einem
zweitrangigen Attribut der Gemeinschaft seiner Jünger. Sie gehört vielmehr zum
Wesen dieser Gemeinschaft selbst“ (Ut unum sint, 9). Die ökumenische Aufgabe ist
also eine Verantwortlichkeit der ganzen Kirche und aller Getauften, welche die
bereits unter den Christen bestehende Teilgemeinschaft bis zur vollen
Gemeinschaft in der Wahrheit und in der Liebe wachsen lassen müssen. Daher ist
das Gebet für die Einheit nicht auf diese Gebetswoche beschränkt, sondern muss
integrierender Bestandteil unseres Betens werden, des Gebetslebens aller
Christen, immer und überall, vor allem, wenn Menschen verschiedener Traditionen
einander begegnen und sich gemeinsam für den Sieg in Christus über alles
einsetzen, was Sünde, Böses, Ungerechtigkeit und Verletzung der menschlichen
Würde bedeutet.
Spaltungen betreffen auch ethische Fragen
Seit Entstehen der modernen ökumenischen Bewegung vor mehr als einem
Jahrhundert war man sich stets der Tatsache deutlich bewusst, dass die fehlende
Einheit unter den Christen eine wirksamere Verkündigung des Evangeliums
verhindert, da sie unsere Glaubwürdigkeit gefährdet. Wie können wir überzeugend
Zeugnis ablegen, wenn wir gespalten sind? Gewiss, was die fundamentalen
Wahrheiten des Glaubens anbelangt, vereint uns weitaus mehr, als was uns
trennt. Doch die Spaltungen bleiben und betreffen auch verschiedene praktische
und ethische Fragen, was zu Verwirrung und Misstrauen führt und unser Vermögen
schwächt, das Heilswort Christi zu verkünden. In diesem Sinn müssen wir uns an
die Worte des seligen Johannes Paul II. erinnern, der in seiner Enzyklika „Ut
unum sint“ von dem Schaden spricht, den das Fehlen der Einheit für das
christliche Zeugnis und die Verkündigung des Evangeliums bedeutet (vgl. Nr. 98,
99). Es handelt sich um eine große Herausforderung für die Neuevangelisierung,
die fruchtbarer werden kann, wenn alle Christen gemeinsam die Wahrheit des
Evangeliums Jesu Christi verkünden und eine gemeinsame Antwort auf das
spirituelle Verlangen unserer Zeit geben.
Der Weg der Kirche liegt wie der Weg der Völker in der Hand Christi,
der siegreich über den Tod und über die Ungerechtigkeit, die Er getragen und im
Namen aller erlitten hat, auferstanden ist. Er lässt uns an Seinem Sieg
teilhaben. Nur Er vermag uns zu verwandeln und uns aus schwachen und
unschlüssigen zu starken und mutigen Menschen im Wirken des Guten zu machen.
Nur Er kann uns von den negativen Folgen unserer Spaltungen erlösen. Liebe
Brüder und Schwestern, ich lade alle ein, sich während dieser Gebetwoche für
die Einheit zu vereinen und intensiv für das Wachsen des gemeinsamen
Zeugnisses, der Solidarität und der Zusammenarbeit unter den Christen zu beten,
in Erwartung des glorreichen Tages, an dem wir gemeinsam den von den Aposteln
überlieferten Glauben bekennen und gemeinsam die Sakramente unserer Verwandlung
in Christus feiern werden können. Danke.