Papst Benedikt XVI.: Ansprache während der Generalaudienz
am 3.12.08:
Paulus (15)
Liebe Brüder und Schwestern!
Andererseits weist Paulus gerade deshalb auf die
Sünde Adams hin, um das unermessliche Geschenk der Gnade in Christus
herauszustellen: Man könnte sagen, dass er, wenn es nicht darum gegangen wäre,
die Zentralität der Gnade zu zeigen, sich nicht damit aufgehalten hätte, die
Sünde zu behandeln, die „durch einen einzigen Menschen in die Welt kam, und
durch die Sünde der Tod“ (vgl. Röm 5, 12). Wenn daher im Glauben der Kirche das
Bewusstsein über das Dogma der Erbsünde gereift ist, dann deswegen, weil es
untrennbar mit dem anderen Dogma, dem Dogma des Heils und der Freiheit in
Christus verbunden ist. Die Folge davon ist, dass wir die Sünde Adams und der
Menschheit niemals losgelöst vom heilsgeschichtlichen Kontext betrachten
dürfen, das heißt, ohne sie vor dem Hintergrund der Rechtfertigung in Christus
zu verstehen.
Doch als Menschen von heute müssen wir uns
fragen: Was ist diese Erbsünde? Was lehrt der heilige Paulus, was lehrt die
Kirche? Ist diese Lehre heute noch haltbar? Viele denken, im Licht der
Evolutionsgeschichte sei kein Platz mehr für die Lehre einer ersten Sünde, die
sich dann auf die ganze Menschheitsgeschichte ausbreiten würde. Und folglich
würde auch die Frage der Erlösung und des Erlösers ihre Grundlage verlieren.
Existiert also die Erbsünde oder nicht? Um darauf antworten zu können, müssen
wir zwei Aspekte der Lehre über die Erbsünde voneinander unterscheiden. Es gibt
einen empirischen Aspekt, das heißt eine konkrete, sichtbare, ich würde sagen
für alle berührbare Realität. Und einen das Geheimnisvolle betreffenden Aspekt,
der das ontologische Fundament dieser Tatsache betrifft. Das Empirische besteht
darin, dass es in unserem Sein einen Widerspruch gibt. Auf der einen Seite weiß
der Mensch, dass er das Gute tun soll und in seinem tiefsten Inneren möchte er
das auch.
Doch gleichzeitig verspürt er auch den Impuls,
das Gegenteil zu tun, dem Weg des Egoismus, der Gewalt zu folgen und nur das zu
tun, was ihm gefällt, obwohl er weiß, dass er gegen das Gute, gegen Gott und
gegen seinen Nächsten handelt. Der heilige Paulus hat in seinem Brief an die
Römer diesen Widerspruch unseres Daseins folgendermaßen ausgedrückt: „Das
Wollen ist bei mir vorhanden, aber ich vermag das Gute nicht zu verwirklichen.
Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht
will“ (7, 18–19). Dieser innere Widerspruch unseres Daseins ist keine Theorie.
Jeder von uns erfährt das jeden Tag. Und vor allem sehen wir ständig um uns die
Vorherrschaft dieses zweiten Willens. Man braucht nur an die täglichen
Nachrichten über Ungerechtigkeiten, Gewalt, Lüge und Schamlosigkeit zu denken.
Wir sehen das jeden Tag: Das ist eine Tatsache.
Als Folge dieser Macht des Bösen in unseren
Seelen ist in der Geschichte ein Strom an Unrat entstanden, der die Geografie
der Menschheitsgeschichte vergiftet. Der große französische Denker Blaise Pascal
hat von einer „zweiten Natur“ gesprochen, die unsere ursprüngliche, gute Natur
überlagert. Diese „zweite Natur“ lässt dem Menschen das Böse als etwas Normales
erscheinen. So hat auch der geläufige Ausdruck „das ist menschlich“ eine
zweifache Bedeutung. „Das ist menschlich“ kann bedeuten: Dieser Mensch ist gut,
er handelt wirklich so, wie ein Mensch handeln sollte. Doch „das ist
menschlich“ kann auch das Gegenteil besagen wollen: Das Böse ist normal, ist
menschlich. Das Böse scheint eine zweite Natur geworden zu sein. Dieser
Widerspruch des Menschen, unserer Geschichte, muss auch heute noch den Wunsch nach Erlösung hervorrufen. In Wirklichkeit sind
der Wunsch, dass die Welt verwandelt werde und die Verheißung, dass eine Welt
der Gerechtigkeit, des Friedens, des Guten geschaffen werde, überall präsent:
In der Politik zum Beispiel sprechen alle von dieser Notwendigkeit, die Welt zu
verändern, eine gerechtere Welt zu schaffen. Und gerade das ist der Ausdruck
des Wunsches, dass es eine Befreiung von diesem Widerspruch geben möge, den wir
in uns selbst erfahren.
Die Tatsache, dass es eine Macht des Bösen im
Herzen des Menschen und in der Menschheitsgeschichte gibt, kann also nicht
geleugnet werden. In der Geschichte des Denkens gibt es, abgesehen vom
christlichen Glauben, ein Haupterklärungsmodell mit verschiedenen Varianten.
Dieses Modell besagt: Das Sein selbst ist widersprüchlich, es trägt sowohl das
Gute als auch das Böse in sich. In der Antike implizierte diese Vorstellung die
Meinung, dass es zwei ursprüngliche Prinzipien gebe: ein Prinzip des Guten und
ein Prinzip des Bösen. Dieser Dualismus wäre unüberwindlich; die beiden
Prinzipien befinden sich auf derselben Ebene, daher wird es diesen Widerspruch,
von Beginn des Daseins an, immer geben. Der Widerspruch unseres Daseins würde
also sozusagen nur den Gegensatz der beiden göttlichen Prinzipien
widerspiegeln. In der atheistischen, evolutionistischen Version der Welt kehrt
die gleiche Vision auf neue Weise wieder.
Auch wenn in dieser Auffassung die Sicht des Seins
monistisch ist, nimmt man an, dass das Sein als solches von Anfang an das Böse
und das Gute in sich trägt. Das Sein selbst ist nicht einfach gut, sondern für
das Gute und das Böse offen. Das Böse ist genauso ursprünglich wie das Gute.
Und die Menschheitsgeschichte würde nur das bereits in der gesamten
vorhergehenden Entwicklung präsente Modell fortführen. Das, was die Christen
Erbsünde nennen, wäre in Wirklichkeit nur die vermischte Natur des Seins, eine
Vermischung von Gut und Böse, die dieser Theorie entsprechend, zum gleichen
Seinsstoff gehörte. Im Grunde handelt es sich hier um eine Sicht der
Hoffnungslosigkeit: wenn das so ist, ist das Böse unbesiegbar. Am Ende zählt
nur das eigene Interesse. Und der Preis für jeden Fortschritt wäre zwangsläufig
ein Fluss von Bösem, und wer dem Fortschritt dienen wollte, müsste bereit sein,
diesen Preis zu bezahlen. Die Politik baut im Grunde genau auf diesen Vorgaben
auf: und die Folgen sehen wir. Dieses moderne Denken kann am Ende nur Betrübnis
und Zynismus hervorrufen.
Und so fragen wir von Neuem:
Was sagt der Glaube, den der heilige Paulus bezeugt? Als erstes bestätigt er
die Tatsache des Wettstreits zwischen den zwei Naturen, die Tatsache dieses
Bösen, dessen Schatten auf der ganzen Schöpfung lastet. Wir haben das Kapitel 7
aus dem Brief an die Römer gehört und könnten das 8. Kapitel hinzufügen. Das
Böse existiert einfach. Als Erklärung, im Gegensatz zum Dualismus und zum
Monismus, die wir kurz betrachtet und als wenig trostreich empfunden haben,
sagt uns der Glaube: Es gibt zwei Geheimnisse des Lichts und ein Geheimnis der
Nacht, das jedoch von den Geheimnissen des Lichts umfasst wird. Das erste
Geheimnis des Lichts ist folgendes: der Glaube sagt uns, dass es keine zwei
Prinzipien gibt, ein Prinzip des Guten und ein Prinzip des Bösen, sondern nur
ein einziges Prinzip, den Schöpfergott, und dieses Prinzip ist gut,
ausschließlich gut, ohne einen Schatten des Bösen. Und daher ist auch das Sein
keine Mischung von Gut und Böse; das Sein als solches ist gut und daher ist es
gut, zu sein, ist es gut, zu leben. Das ist die freudige Verkündigung des
Glaubens: Es gibt nur einen guten Ursprung, den Schöpfer. Und daher ist das
Leben etwas Gutes, es ist etwas Gutes, ein Mann zu sein, eine Frau zu sein, das
Leben ist gut. Dann folgt ein Geheimnis des Dunklen, der Nacht. Das Böse stammt
nicht vom Ursprung des Seins selbst her, es hat nicht denselben Ursprung. Das
Böse stammt aus einer geschaffenen Freiheit, aus einer missbrauchten Freiheit.
Wie war das möglich, wie ist das passiert? Das
bleibt im Dunkeln. Das Böse ist nicht logisch. Nur Gott und das Gute sind
logisch, sind Licht. Das Böse bleibt geheimnisvoll. Man hat es sich in großen
Bildern vorgestellt, wie in Kapitel 3 der Genesis, mit jener Vision der beiden
Bäume, der Schlange, dem sündigen Menschen. Ein großartiges Bild, dass uns erahnen lässt, aber nicht erklären kann, was in
sich selbst unlogisch ist. Wir können erahnen, nicht erklären; wir können
darüber auch nicht wie über eine Tatsache neben anderen reden, da es sich um eine
tiefergehende Realität handelt. Es bleibt ein Geheimnis des Dunkeln, der Nacht.
Doch es kommt sofort ein Geheimnis des Lichts hinzu. Das Böse hat einen
untergeordneten Ursprung. Gott mit seinem Licht ist stärker. Und daher kann das
Böse überwunden werden. Daher ist das Geschöpf, der Mensch, heilbar. Die
dualistischen Visionen, auch der Monismus des Evolutionismus, können nicht
sagen, dass der Mensch heilbar ist; wenn das Böse aber nur einen
untergeordneten Ursprung hat, bleibt es wahr, dass der Mensch heilbar ist. Und
das Buch der Weisheit sagt: „Heilbar sind die Generationen des Weltkreises“ (1,
14 Vulg.).
Und schließlich, ein letzter Punkt: Der Mensch
ist nicht nur heilbar, er ist tatsächlich geheilt. Gott hat die Heilung
eingeleitet. Sie ist als Person in die Geschichte eingetreten. Der ständigen
Quelle des Bösen hat er eine Quelle des reinen Guten gegenübergestellt.
Christus, gekreuzigt und auferstanden, der neue Adam, stellt dem schmutzigen
Fluss des Bösen einen Fluss des Lichts gegenüber. Und dieser Fluss ist in der
Geschichte gegenwärtig: Wir sehen die Heiligen, die großen Heiligen aber auch
die kleinen Heiligen, die einfachen Gläubigen. Wir sehen, dass der Fluss des
Lichts, der von Christus kommt, gegenwärtig ist, dass er stark ist.
Brüder und Schwestern, es ist die Zeit des
Advents. In der Sprache der Kirche hat das Wort Advent zwei Bedeutungen:
Gegenwart und Erwartung. Gegenwart: Das Licht ist gegenwärtig, Christus ist der
neue Adam, er ist mit uns und in unserer Mitte. Schon leuchtet das Licht, und
wir müssen die Augen des Herzens öffnen, um das Licht zu sehen und in den Fluss
des Lichts einzudringen. Vor allem dankbar für die Tatsache sein, dass Gott
selbst als neue Quelle des Guten in die Geschichte eingetreten ist. Doch Advent
bedeutet auch Erwartung. Die dunkle Nacht des Bösen ist noch stark. Und daher
beten wir im Advent mit dem alten Volk Gottes: „Rorate caeli desuper“. Und wir
bitten eindringlich: Komm Jesus; komm, stärke das Licht und das Gute; komm
dorthin, wo die Lüge herrscht, die Unkenntnis Gottes, die Gewalt, die
Ungerechtigkeit; komm, Herr Jesus, stärke das Gute in der Welt und hilf uns
Träger deines Lichts zu sein, Arbeiter für den Frieden, Zeugen der Wahrheit.
Komm Herr Jesus!