C2 (II): Passer, der Dritte im Bunde
C 2 (I)
Dank ausgezeichneter Vorarbeit früherer
Philologen konnte ich in Abgleichung mit den Zahlenwertergebnissen
den unsicher überlieferten Originaltext wiederherstellen.
Passer, deliciae meae puellae,
quicum ludere, quem in sinu tenere,
cui primum digitum dare appetenti
et acres solet incitare morsus,
cum desiderio meo nitenti
karum nescioquid libet iocari,
credo, ut, cum gravis acquiescat ardor,
sit solaciolum sui doloris:
tecum ludere, sicut ipsa, possem
et tristis animi levare curas.
Wörtliche Übersetzung
Sperling, du Liebling meines
Mädchens,
mit dem sie zu spielen, den am
Busen/im Schoß zu halten,
dem als Verlangendem die Fingerspitze
zu geben,
und (dessen) scharfen Bisse zu
erregen sie gewohnt ist,
wenn es meiner strahlenden
Sehnsucht beliebt,
irgendetwas Liebes zu scherzen
ich glaube, damit, wenn ihre
heftige Glut zur Ruhe kommt,
es einen kleinen Trost in ihrem Liebesschmerz
gibt,
könnte ich doch mit dir spielen
wie sie selbst
und die traurigen Sorgen meines
Herzens lindern.
Freiere Übersetzung
Sperling, du Liebling meines Mädchens,
mit dem sie zu spielen gewohnt ist, den sie
Busen/im Schoß hält,
dem sie die Fingerspitze gibt, nach der er begierig
pickt,
und den sie zu scharfen Bissen reizt,
wenn es meiner wunderbaren Geliebten gefällt,
mit irgendetwas Liebem Scherz zu treiben –
ich glaube, damit, wenn ihre heftige Glut nachläßt,
sie einen kleinen Trost in ihrem Liebesschmerz hat
–
könnte ich doch mit dir spielen wie sie selbst
und die traurigen Sorgen meines Herzens lindern.
Zum Verständnis von Carmen 2
1. In der 1. Zeile dieses Gedichts spricht
Catull einen Sperling an, der der Liebling seiner Geliebten Lesbia (Clodia)
ist. Die 2. bis 8. Zeile beschäftigt sich mit der Beziehung Lesbias zu ihrem
zahmen Vogel. Erst in der 9. u. 10. Zeile folgt der eigentliche Hauptsatz, in
dem Catull von sich selbst spricht.
2. Catull hat zu dem Sperling keine direkte
Beziehung. Was eine Anrede rechtfertigt, ist, daß er mit ihm Lesbias Liebe
gemeinsam hat. Durch zweimaligen Gebrauch des Possessivpronomens meae puellae
und desiderio meo drückt Catull nämlich nicht nur aus, daß er Lesbia liebt,
sondern auch, daß er ihre Liebe besitzt.
3. Eine weitere Beziehung zwischen Catull und
dem Sperling entsteht durch die alliterierenden und synonymen Wörter deliciae und desiderio. Demnach scheint eine Konkurrenzsituation zu bestehen:
Catull sehnt sich nach der Geliebten, diese aber zieht es vor, mit einem Vogel
zu spielen.
4. Aber der Schein trügt. Catull ist von
Gefühlen des Glücks erfüllt. Er preist die Schönheit der Geliebten durch das
Wort nitenti und versetzt sich
hingebungsvoll in ihre seelische Stimmung. Er ist glücklich, weil seine Liebe
leidenschaftlich (gravis ardor)
erwidert wird. Das ist für ihn eine wunderbare Erfahrung, da Lesbia ja 10 Jahre
älter und verheiratet ist.
5. Wenn Catull die Schönheit seiner Geliebten
preist, er ihrer Liebe also sicher ist, kann sich gravis ardor nur auf ihre Leidenschaft zu ihm beziehen. Sie leidet
aber Liebesschmerzen, weil Catull fern von ihr ist. Die Entstehung des Gedichts
setzt also Catulls Fernsein von Lesbia voraus. Was Catull beschreibt, kann der
wirklichen Situation entsprechen, ist aber wesentlich aus der Phantasie seiner
Liebe geboren.
6. Lesbias Spiel mit dem Sperling dürfte
Catull von unmittelbarer Anschauung kennen. Ihr Lieblingsspiel besteht
offensichtlich darin, daß sie ihm ihren Zeigefinger hinstreckt und er danach
pickt. Daß dem Vogel das Spiel selbst gefällt, wird durch das Wort appetenti deutlich. Er zeigt damit
seiner Herrin seine Zuneigung.
7. Normalerweise besteht zwischen zwei
Spielern Gleichrangigkeit, wenn das Spiel von Reiz sein soll. Gegenüber dem
Sperling ist Lesbia jedoch die Überlegene. An sich braucht sie diese
Überlegenheit nicht zu zeigen, wenn sie den Vogel entsprechend seiner
Andersartigkeit behandelt, so daß er seine Freiheit behält. Nun aber wird
Lesbia von unerfüllter Liebesglut beherrscht. Unversehens macht sie den
Sperling zu einem Ersatzpartner. Das Spiel drängt auf die Befriedigung von
Gefühlen hin. Sie stupst den Schnabel des Vogels heftiger an und dieser
reagiert mit entsprechend größerer Heftigkeit, nicht als ginge es ihm um Befriedigung
seines Bedürfnisses nach Zuwendung, sondern weil der Zuneigung der Herrin Liebe
und Rücksicht fehlt. Aus dem Spiel der Zuneigung wird Lust an der Aggression.
Die acres morsus bereiten Lesbia
einen heftigen physischen Schmerz, der aber willkommen ist, weil er Potential
angestauter Liebespein ableitet und abbaut.
8. Nun nimmt Catull in seiner Phantasie an
diesem Spiel einfühlsamen Anteil. Er wird durch Vorstellung von Lesbias
Liebesglut selbst von Liebe erfüllt. Er freut sich darüber, daß sie auf diese
Weise einen kleinen Trost erfährt.
9. Daß Lesbia den Sperling zu einem
Ersatzpartner macht, deutet Catull selbst an, wenn er mit gespielter
Unwissenheit sagt, daß sie mit irgendetwas (nescioquid) Liebem
scherzt, was Lesbia (und den Leser) anregt, nach der Lösung eines Rätsels zu
suchen. Auf diese Weise lenkt Catull zunächst die Aufmerksamkeit darauf, was er
mit der ungewöhnlichen Schreibung von KARVM meint. Denn die Verwendung des K statt C bezieht sich auf Catulls
Vornamen: Das G
in Gaius ist nämlich der 7. Buchstabe des Alphabets, wird aber nach früherer
Rechtschreibgewohnheit mit C, dem 3.
Buchstaben im Alphabet, wiedergegeben. Beide Zahlen ergeben K, den 10. Buchstaben des Alphabets.
Vielleicht macht Catull mit irgendetwas Liebem auch eine diskrete erotische Andeutung, die auch in dem
gleichen ZW 60 von SINV
und KARVM eine Grundlage besitzt.
10. Catull sagt zum Sperling, er würde gerne mit
ihm ebenso spielen, um die traurigen Sorgen seines Herzens zu lindern. Catull
fällt nicht etwa aus der Höhe sinnlicher Liebesempfindungen in plötzliche
Desillusion und Niedergeschlagenheit, sondern bereits am Ausgangspunkt seiner
Phantasie steht die geistige Erkenntnis eines unlösbaren Konflikts, den er in
seinen verschiedenen Ausprägungen imaginativ und dichterisch durchläuft. Catull
ist sich bewußt, daß seiner Sehnsucht nach einer dauerhaften und vollkommenen
Liebesgemeinschaft schwer überwindbare Hindernisse im Wege stehen. In der
letzten Zeile stellt er seine eigene seelische Verfassung der Clodias
gegenüber. Die entscheidenden Begriffe sind in Zeile 7 und 10 parallel
angeordnet:
gravis acquiescat ardor
tristis animi levare
curas
Die Freude am Spiel der
Liebesphantasie weicht plötzlich existentieller Sorge, ähnlich wie in der
letzten Strophe von c.51. Wenn sich Catull in die Situation des Sperlings
versetzt, liegt für ihn die Vorstellung nahe, Clodia könnte mit ihm ebenso
spielen und seiner bald überdrüssig werden. Mehr jedoch dürfte ihm Sorge
bereiten, daß Clodias Leidenschaft auch ihn mitreißt und eine personale, auf
geistige Gemeinsamkeit beruhende Liebe unmöglich macht. Wir wissen nicht, wie
sehr sich Catull der Aporie seiner Liebesbeziehung bewußt war. Echte Liebe
zwischen Mann und Frau braucht eine legale Lebensverankerung. Das personale
Spiel der Liebe, so wunderbare Entdeckungen sie auch hervorbringen mag, wird zu
einem theoretischen Experimentierfeld in einem Niemandsland der Gesellschaft
und führt zu keiner Entwicklung und Reifung der Liebe. Alle geistigen und
poetischen Höhenflüge können Catull nicht darüber hinwegtäuschen, daß er ein
Eindringling in eine fremde Ehe ist und daß er damit Schuld auf sich lädt. Er
ist ihm nicht möglich, diesen Konflikt zu beenden, aber er möchte seine
Wahrhaftigkeit dadurch wahren, daß er ihn in dichterischem Selbstbekenntnis
darstellt.
11. Trotz des Stimmungsumschwungs
in den letzten beiden Zeilen bleibt Spiel Thema
des Gedichts.
19. Zwar beschreibt Catull das
Spiel zwischen Lesbia und dem Sperling, aber die Möglichkeiten des Gedichts
machen ihn zum Mitspieler. Denn er hat die Worte des Gedichts so gewählt, daß
er sich an die Stelle des Sperlings setzen kann. Die Anrede an den Sperling
kann sich auch an die Geliebte richten, wenn man meae auf deliciae
bezieht:
Deliciae meae, tecum ludere possem!
Mein
Schatz, könnte ich doch mit dir spielen!
Außerdem kann man das cum in Z.5 als eine Präposition auffassen und mit desiderio verbinden:
Cum meo desiderio nitenti ludere possem!
Könnte ich
doch mit meiner strahlenden Sehnsucht spielen!
Doch unversehens fällt
auf diese Wünsche ein Schatten. Denn Catull hat nicht den freien Zugang zu
Clodia, den seine Liebe sich wünscht. Ähnliches gilt für Clodia selbst, sonst
müßte sie keine unerfüllte Liebesglut ertragen.
20. Eine weitere Dimension des Verständnisses
erschließt sich unter dem Gesichtspunkt der Zahlenwerte der Wörter. Hier sind
zu beachten gleiche Zahlenwerte (ZW) oder vergleichbare Teilungsverhältnisse.
Eine Parallele besteht z.B. zwischen karum
nescioquid (9x19) und solaciolum sui
doloris (13x19), da beide durch 19 teilbar sind. Catull weiß also, daß er Lesbias Trost ist.
21. Die Adressatin für Catulls Gedicht ist in
besonderer Weise Lesbia-Clodia selbst. Es ist einerseits ein Lobpreis ihrer
gegenseitigen Liebe, andererseits aber auch ein Appell an die Geliebte, sich
ihrer Verantwortung für das Gelingen ihrer Liebesbundes bewußt zu sein.
Carmen 2
besteht wie Carmen 1 aus 10 Zeilen und
ist somit in besonderer Weise auf die Gesetzmäßigkeiten des Dezimalsystems
ausgerichtet. Dieses ist Abbild der innergöttlichen Ordnung. Catull hat
Freundschaft und Liebe als göttliches Prinzip zum Thema seines Lebens gemacht.
Mit Clodia will Catull dieses Prinzip verwirklichen. Er hat sich einem hohen
Ziel verschrieben, dessen Verwirklichung aber schwerwiegende Hindernisse im
Wege stehen. Carmen 2 ist als Opfer und Bitte an die Gottheit gedacht, diese
Liebesgemeinschaft gelingen zu lassen. Menschliche Liebe ist nur so groß, weil
sie Abbild und Teilhabe an der göttlichen Liebe ist.
è Die
Zahlenwerte des Gedichts
è Spiegelbildlichkeit
von Mann und Frau in c2 (I)
Erstellt: August 2002
Letzte Änderung: Oktober 2004