A. Freiheit und Leidenschaft

è B. Das Opfer

è C. Die Folgen

è D. Einige relevante Zahlenwerte (I-III)

I. Das Gesetz der Leidenschaft

Das moralische Gesetz (LEX) ist der Seele (ANIMVS) eines jeden Menschen eingeschrieben. Die ersten 5 Zeilen des 4. Buches sind von Vergil als das objektive Gesetz gestaltet (vgl. D.). Zugleich mit dem Gesetz ist PVDOR (Z.27)– das Zentrum des Ich und der Selbstachtung – verankert. Wenn der Mensch sich Einflüssen öffnet, die die Reinheit des Gewissens und der gewählten Lebensordnung gefährdet, entsteht ein seelischer Konflikt (CVRA, Z.1).

Aufgabe der menschlichen Freiheit ist es, die Ordnungen des moralischen Gesetzes zu erkennen und zu verwirklichen. Kriterien menschlicher Ordnung sind das Gute und Richtige.

Die Freiheit behauptet sich, indem sie sich für das Gute und Richtige bzw. für das jeweils Bessere entscheidet. Sie wendet alle Mittel an, die der Verwirklichung des Guten und Richtigen dienen. Wer das Gesetz der Freiheit nicht beachtet, erliegt dem Gesetz der Unfreiheit (SUCCUMBERE CULPAE, Z.19). Wie die Freiheit den Menschen zur Verwirklichung des Guten und Richtigen antreibt, so die Unfreiheit zur Erfüllung von Begierden und Leidenschaften. Alle Fehlformen des Begehrens entstehen aus einer mangelnden Pflege und Kontrolle des sittlichen Gewissens. Anzeichen für unvollkommenes Begehren sind Hast, Ungeduld, unnötiges Abweichen von der gewählten Lebensordnung (INFLEXIT SENSUS, Z.22) und Überschreiten des rechten Maßes.

Die Leidenschaft drängt das Denken, sich mit dem Gegenstand der Leidenschaft so lange zu beschäftigen, bis sie ihr Ziel erreicht hat. Jeder neue Gedanke dient der Leidenschaft als Nahrung (ALIT, Z.2) und verstärkt sie. Das Feuer (IGNIS) der Leidenschaft erfaßt immer mehr den ganzen Körper und zehrt ihn aus (CARPITVR). Gleichzeitig verlangt er weiteren Brand und nimmt das Denken und Wollen in Besitz.

Leidenschaft ist die freie Zustimmung zu allem, was der Vernunft des sittlich Guten und Richtigen sowohl allgemein als auch in der konkreten Situation widerspricht.

Leidenschaft schwächt den Willen zum Guten und läßt es aus dem Blickfeld der Verantwortung schwinden. Die Arbeiten am Aufbau der neuen Stadt kommen nicht mehr voran, weil Dido das organisatorische Interesse daran verloren hat und keine Weisungen mehr gibt (Z.86-89):

Non coeptae adsurgunt turres, non arma iuventus

exercet, portusve aut propugnacula bello

tuta parant; pendent opera interrupta, minaeque

murorum ingentes aequataque machina caelo.

Es wachsen nicht die begonnenen Türme, die Jugend übt sich nicht mehr

in den Waffen oder macht den Hafen oder die Befestigungen vor dem Krieg sicher.

Es stocken die unterbrochenen Arbeiten, die gewaltige Drohung der Mauern

und die dem Himmel gleich gemachten (in den H. ragenden) Kräne.

Der Leidenschaft ist schwer zu begegnen, weil sie den Menschen drängt, sich mit ihr als etwas Erstrebenswertem zu identifizieren. Je weiter die Leidenschaft fortschreitet und sich in der Seele festsetzt (HAERENT INFIXI PECTORE, Z.4), umso mehr geht die sittliche Erkenntnisfähigkeit verloren.

Eine einmal als sittlich richtig befundene Entscheidung ist schwer aufzuheben. Die Möglichkeit einer Aufhebung ist gewissenhaft zu prüfen.

Der Loyalitätswechsel

Eine Reihe menschlicher Eigenschaften,Verhaltensweisen und Seelenzustände können dem sittlich Guten oder der Leidenschaft dienen. Ein Zusammentreffen beider ist in dem Wort FLAMMAE (Z.23) zu sehen. Didos brennende Liebe zu Sychäus war berechtigt und gut, ist aber unberechtigt und verderblich in ihrer Zuwendung zu Äneas, da sie Sychäus Treue über seinen Tod hinaus geschworen hat. In Zeile 23 wagt Dido nach wortreicher Vorbereitung endlich ihrer Schwester Anna ihren wahren Seelenzustand zu offenbaren:

Adgnosco veteris vestigia flammae.

Ich erkenne Spuren der früheren Flamme.

In dem Augenblick, da Dido diese Worte ausspricht, konvergieren ihre Gefühle für Aeneas und Sychäus: Der Charakter und die Erscheinung des Aeneas wecken in Dido die Erinnerung an ihren Gemahl, mit dem sie sich innerlich über seinen Tod hinaus verband. Dieses Band der Treue und Liebe wird für einen Augenblick lebendig und erscheint Dido als wertvoll und erhaltenswert. Dem Impuls sittlicher Standhaftigkeit folgend möchte sie die drohende Veränderung ihres Seelenzustandes verhindern, indem sie mit ungewöhnlicher Heftigkeit den Göttern einen Treueschwur leistet. Das Pathos ihrer Worte ist auch bedingt durch eine gewisse Scham über das intime Geständnis, das sie ihrer Schwester gerade gemacht hat und dessen Eindruck sie schnell durch eine entgegengesetzte Aussagen verwischen will. Durch die Weckung der VETERIS FLAM-MAE wird Aeneas auf dieselbe Stufe wie Sychäus gehoben und tritt gewissermaßen in seine Rechte ein. Eine Ablösung der Loyalität steht unmittelbar bevor.

Die Ermöglichung eines Loyalitätswechsels geht aus den Zeilen 4 und 15 hervor, erkennbar an etymologisch gleichen oder synonymen Wörtern:

haerent infixi pectore voltus

si mihi non animo fixum inmotumque sederet

Es haften in der Brust eingeheftet die Gesichtszüge

Wenn es mir nicht in meiner Seele eingeheftet und unverrückt festsäße, daß ...

Die Leidenschaft, die sich im Herzen festgesetzt hat, kann eine ebenso fest verankerte frühere Entscheidung überlagern, verdrängen und aushebeln.

Das Hindernis, das der neuen Liebe entgegensteht, ist PVDOR. Dido wagt nicht, ihr Treuegelöbnis aus eigenem Antrieb aufzuheben. Sie wendet sich an ihre Schwester um Rat. Anna rät nach praktischen Erwägungen gegen die Fortsetzung eines ideellen Treuebandes. Ihr stärkstes Argument ist ein religiöses:

Tu modo posce deos veniam, sacrisque litatis (Z.50)

Rufe du nur die Götter um ihre Gunst an und wenn du unter günstigen Vorzeichen geopfert hast ...

Durch die Gunst und Nachsicht der Götter erhofft sich Dido eine Entbindung von ihrer Treueverpflichtung, nimmt aber mit leidenschaftlicher Ungeduld deren Urteil in den Z. 54 u. 55 vorweg:

His dictis incensum animum flammavit amore

spemque dedit menti dubiae solvitque pudorem.

Mit diesen Worten entflammte sie die (=Didos) in Brand gesetzte Seele,

gab Hoffnung ihrem schwankenden Sinn und löste die Treueverpflichtung.

Durch die Wortentsprechungen von PVDOR und SOLVERE korrespondiert Z.55 mit Z.27:

Ante, pudor, quam te violo aut tua iura resolvo.

Bevor ich dich, Keuschheit, verletze oder deine Rechte aufhebe.

Durch die Zeilen 4 und 15 wird der Loyalitätswechsel grundgelegt, durch die Zeilen 27 und 55 vollzogen.

 

Erstellt: April 2003

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