Generalaudienz am 23. August 2006
Liebe Brüder und Schwestern!
Das Buch muß vor dem Hintergrund der
dramatischen Erfahrungen der sieben Gemeinden der Provinz Asien (Ephesus,
Smyrna, Pergamon, Thyatira, Sardes, Philadelphia, Laodizea) verstanden werden, die
gegen Ende des ersten Jahrhunderts große Schwierigkeiten in ihrem Zeugnis für
Christus zu bewältigen hatten: Verfolgungen und auch innere Spannungen. An sie
wendet sich Johannes mit lebendigem pastoralem Einfühlungsvermögen gegenüber
den verfolgten Christen, die er ermahnt, im Glauben standhaft zu bleiben und
sich nicht der so starken heidnischen Umwelt anzugleichen. Sein Thema ist im
letzten die Enthüllung des Sinns der Menschheitsgeschichte, ausgehend vom Tod
und der Auferstehung Christi. Die erste und grundlegende Vision des Johannes
betrifft die Gestalt des Lammes, das geschlachtet wurde und dennoch aufrecht
steht (vgl. Offb 5,6), es steht in der Mitte vor dem Thron, auf dem Gott selbst
bereits sitzt. Damit will uns Johannes vor allem zwei Dinge sagen: Erstens, daß
Jesus, obwohl er einen gewaltsamen Tod erlitten hat, nicht auf die Erde
niedergestreckt ist, sondern paradoxerweise fest auf seinen Füßen steht, weil
er mit der Auferstehung den Tod endgültig besiegt hat. Zweitens, daß Jesus
gerade aufgrund seines Todes und seiner Auferstehung bereits vollkommen an der
königlichen und rettenden Macht des Vaters Anteil hat. Dies ist die
grundlegende Vision. Jesus, der Sohn Gottes, ist auf dieser Erde ein
schutzloses, verletztes, getötetes Lamm. Und dennoch steht er aufrecht, auf
seinen Füßen, er steht vor dem Thron Gottes und hat Anteil an der göttlichen
Macht. Er hält die Geschichte der Welt in seinen Händen. Und so möchte uns der
Seher sagen: Habt Vertrauen in Jesus, habt keine Angst vor den feindlichen Mächten,
vor der Verfolgung! Das verletzte und getötete Lamm siegt! Folgt dem Lamm
Jesus, vertraut euch Jesus an, folgt seinem Weg! Auch wenn er in dieser Welt
nur ein Lamm ist, das schwach zu sein scheint, so ist er doch der Sieger!
Eine der Hauptvisionen der Offenbarung hat
dieses Lamm zum Gegenstand: Es ist im Begriff ein Buch zu öffnen, das zuvor mit
sieben Siegeln verschlossen war, die niemand öffnen konnte. Es wird sogar
gesagt, daß Johannes weint, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch zu
öffnen und es zu lesen (vgl. Offb 5,4). Die Geschichte kann nicht entschlüsselt
werden, sie bleibt unverständlich. Niemand kann sie lesen. Vielleicht ist
dieses Weinen des Johannes vor dem dunklen Geheimnis der Geschichte Ausdruck
der Erschütterung der Gemeinden Asiens aufgrund des Schweigens Gottes
angesichts der Verfolgungen, denen sie in jener Zeit ausgesetzt waren. Es ist
eine Erschütterung, in der sich auch unsere Bestürzung widerspiegelt angesichts
der großen Schwierigkeiten, dem Unverständnis und der Feindseligkeit, die die
Kirche auch heute in verschiedenen Teilen der Welt erleidet. Es sind Leiden,
die die Kirche sicher nicht verdient hat, so wie Jesus selbst seine Hinrichtung
nicht verdient hat. Sie enthüllen jedoch sowohl die Bosheit des Menschen, wenn
er den Versuchungen des Bösen erliegt, als auch die höhere Führung der
Ereignisse durch Gott. Nur das geopferte Lamm ist in der Lage, das versiegelte
Buch zu öffnen, seinen Inhalt zu offenbaren und dieser scheinbar oft so
absurden Geschichte Sinn zu verleihen. Nur das Lamm kann aus ihr Weisungen und
Lehren für das Leben der Christen ableiten, denen sein Sieg über den Tod die
Verkündigung und die Zusicherung des Sieges überbringt, den auch sie zweifellos
erringen werden. Die gesamte, sehr bildreiche Sprache, derer sich Johannes
bedient, zielt darauf ab, diesen Trost zu vermitteln.
Im Mittelpunkt der Visionen, von denen die
Offenbarung berichtet, stehen auch die sehr bedeutungsvollen Visionen von der
Frau, die einen Sohn gebiert, sowie die ergänzende Vision vom Drachen, der
bereits vom Himmel herabgestürzt, aber noch sehr machtvoll ist. Die Frau steht
für Maria, die Mutter des Erlösers, aber zugleich steht sie für die ganze
Kirche, das Gottesvolk aller Zeiten, die Kirche, die zu jeder Zeit unter großen
Schmerzen Christus immer von neuem gebiert. Und sie wird immer von der Macht
des Drachens bedroht. Sie scheint schutzlos, schwach zu sein. Aber während sie
bedroht und vom Drachen verfolgt wird, wird sie auch vom Trost Gottes
beschützt. Und am Ende siegt diese Frau und nicht der Drache. Das ist die große
Prophezeiung dieses Buches, die uns Vertrauen schenkt! Die Frau, die in der
Geschichte leidet, die Kirche, die verfolgt wird, erscheint am Ende als
prächtige Braut, Vorausbild des neuen Jerusalem, wo es keine Tränen und kein
Weinen mehr geben wird, Bild der verwandelten Welt, der neuen Welt, deren Licht
Gott selbst ist und dessen Leuchte das Lamm ist.
Aus diesem Grund ist die Offenbarung des
Johannes, obwohl sie beständige Hinweise auf Leiden, Qualen und Tränen – die
dunkle Seite der Geschichte – enthält, gleichermaßen von häufigen Lobgesängen
durchzogen, die gleichsam die leuchtende Seite der Geschichte darstellen. So
ist zum Beispiel von einer großen Schar zu lesen, die mit lautem Ruf singt:
»Halleluja! Denn König geworden ist der Herr, unser Gott, der Herrscher über
die ganze Schöpfung. Wir wollen uns freuen und jubeln und ihm die Ehre
erweisen. Denn gekommen ist die Hochzeit des Lammes, und seine Frau hat sich
bereit gemacht« (Offb 19,6–7). Wir stehen vor dem typischen christlichen
Paradoxon, nach dem das Leiden nie als das letzte Wort wahrgenommen wird,
sondern als Durchgangsstadium zur Glückseligkeit verstanden wird und sogar
selbst schon auf geheimnisvolle Weise von der Freude durchdrungen ist, die aus
der Hoffnung entspringt. Gerade deswegen kann Johannes, der »Seher von Patmos«,
sein Buch mit einem letzten Wunsch sehnsuchtsvoller Erwartung schließen. Er
erfleht das endgültige Kommen des Herrn: »Komm, Herr Jesus!« (Offb 22,20). Es
ist eines der wichtigsten Gebete der frühen Christenheit, das vom hl. Paulus
auch in seiner aramäischen Form überliefert wurde: »Marána tha«. Und dieses
Gebet – »Unser Herr, komm!« (1 Kor 16,22) – hat verschiedene Dimensionen.
Natürlich ist es vor allem die Erwartung des endgültigen Sieges des Herrn, des
neuen Jerusalem, des Herrn, der kommt und die Welt verwandelt. Aber zugleich
ist es auch ein eucharistisches Gebet: »Komm Jesus, komm jetzt!« Und Jesus
kommt, nimmt sein endgültiges Kommen vorweg. So sagen wir voll Freude zugleich:
»Komm jetzt und komm in endgültiger Weise!« Dieses Gebet hat noch eine dritte
Bedeutung: »Du bist schon gekommen, Herr! Wir sind uns deiner Gegenwart unter
uns sicher. Sie ist unsere freudige Erfahrung. Aber komme endgültig! « Und so
beten wir mit dem hl. Paulus, mit dem »Seher von Patmos« und mit der frühen
Christenheit: »Komm, Herr Jesus! Komm und verwandle die Welt! Komm schon heute,
und es siege der Frieden!« Amen