Generalaudienz am 6.
September 2006
Philippus
Liebe Brüder und Schwestern!
Das Vierte Evangelium berichtet, dass Philippus, nachdem er von
Jesus berufen worden ist, Natanaël trifft und ihm sagt: "Wir haben den
gefunden, über den Mose im Gesetz und auch die Propheten geschrieben haben:
Jesus aus Nazaret, den Sohn Josefs" (Joh 1, 45). Auf die eher skeptische
Antwort des Natanaël (Aus Nazaret? Kann von dort etwas Gutes kommen?) gibt
Philippus nicht nach, sondern erwidert entschlossen: "Komm und sieh!"
(Joh 1, 46). In dieser knappen aber klaren Antwort zeigt Philippus die
Eigenschaften des wahren Zeugen: Er gibt sich nicht damit zufrieden, die
Verkündigung als Theorie darzustellen, sondern bezieht den Gesprächspartner
gleich mit ein, indem er ihm empfiehlt, selbst eine persönliche Erfahrung
dessen zu machen, was verkündet worden ist. Dieselben beiden Worte werden von
Jesus verwendet, als zwei Jünger von Johannes dem Täufer ihm folgen, um ihn zu
fragen, wo er wohnt. Jesus antwortet: "Kommt und seht" (vgl. Joh 1,
38–39).
Wir können uns denken, dass sich Philippus mit diesen beiden
Worten, die ein persönliches Beteiligtsein erfordern, auch an uns wendet. Wie
zu Natanaël sagt er auch zu uns: "Komm und sieh". Der Apostel fordert
uns dazu auf, Jesus aus der Nähe kennen zu lernen. Tatsächlich bedarf die
Freundschaft der wahren Kenntnis des anderen, der Nähe – ja, sie besteht zum
Teil aus dieser Nähe. Des weiteren darf man nicht vergessen, dass nach dem, was
Markus schreibt, Jesus die Zwölf mit dem vorrangigen Ziel ausgewählt hat, sie
"bei sich zu haben" (vgl. Mk 3, 14), damit sie also sein Leben teilen
und direkt von ihm nicht nur seine Verhaltensweise lernen konnten, sondern vor
allem, wer Er wirklich war. Nur so, indem sie an seinem Leben teilhatten,
konnten sie ihn kennen lernen und dann verkünden. Später wird man im Brief des
Paulus an die Epheser lesen, das Wichtige sei "von Christus zu
lernen" (vgl. 4, 20), also nicht nur und so sehr, seine Lehre und seine
Worte zu hören, als vielmehr Ihn persönlich kennen zu lernen, also seine
Menschheit und seine Gottheit, sein Geheimnis, seine Schönheit. Er ist eben
nicht nur ein Meister, sondern ein Freund, ja sogar ein Bruder. Wie könnten wir
ihn genau kennen lernen, wenn wir ihm fern bleiben? Das Persönliche, die
Vertrautheit, die Gewohnheit lassen uns die wahre Identität Jesu Christi
erkennen. Und genau daran erinnert uns der Apostel Philippus. So lädt er uns
ein, zu "kommen" und zu "sehen", das heißt Tag für Tag in
einen Kontakt des Hörens, des Antwortens und der Lebensgemeinschaft mit Jesus
zu treten.
Jesus hat ihm dann bei der Brotvermehrung eine präzise, ziemlich
überraschende Frage gestellt: nämlich wo sie Brot kaufen könnten, um all den
Leuten, die ihm folgten, zu essen zu geben (vgl. Joh 6, 5). Darauf hat
Philippus mit großem Realismus geantwortet: "Brot für zweihundert Denare
reicht nicht aus, wenn jeder von ihnen auch nur ein kleines Stück bekommen
soll" (Joh 6, 7). Hier zeigen sich die Konkretheit und der Realismus des
Apostels, der die tatsächlichen, verschiedenen Aspekte einer Situation zu
beurteilen weiß. Wie die Dinge sich dann zugetragen haben, das wissen wir. Wir
wissen, dass Jesus das Brot genommen und es, nachdem er gebetet hatte, verteilt
hat. So hat sich die Brotvermehrung ereignet.
Doch es ist interessant, dass Jesus sich gerade an Philippus
gewendet hat, um einen ersten Hinweis darauf zu erhalten, wie das Problem zu
lösen sei: ein offensichtliches Zeichen, dass er Teil jener kleinen Gruppe war,
die ihn umgab. In einem anderen Moment vor der Passion, der für die zukünftige
Geschichte sehr wichtig ist, sind einige Griechen, die zum Paschafest in
Jerusalem waren, an Philippus herangetreten und haben ihm gesagt: "Herr,
wir möchten Jesus sehen. Philippus ging und sagte es Andreas; Andreas und Philippus
gingen und sagten es Jesus" (Joh 12, 20–22). Noch einmal haben wir einen
Hinweis auf sein besonderes Ansehen innerhalb des Apostelkollegiums. Vor allem
in diesem Fall fungiert er als Vermittler zwischen der Frage einiger Griechen –
wahrscheinlich hat er Griechisch gesprochen und konnte sich als Übersetzer
anbieten – und Jesus; auch wenn er sich mit Andreas zusammenschließt, dem
anderen Apostel mit einem griechischen Namen, ist doch er es, an den sich die
Fremden wenden. Das lehrt uns, dass auch wir immer bereit sein müssen, sowohl
auf Fragen und Bitten, von welcher Seite sie auch kommen mögen, zu hören, als
auch sie auf den Herrn auszurichten, dem Einzigen, der sie ganz erfüllen kann.
Es ist in der Tat wichtig zu wissen, dass nicht wir die letzten Adressaten der
Bitten derjenigen sind, die sich uns nähern, sondern der Herr: Auf ihn müssen
wir jeden verweisen, der sich in Not befindet. Ja: Jeder von uns muss als
offener Weg zu ihm führen!
Es gibt dann noch eine weitere, ganz besondere Gelegenheit, bei der
Philippus auftaucht. Nachdem Jesus beim Letzten Abendmahl gesagt hatte, dass
Ihn zu erkennen auch bedeute, seinen Vater zu erkennen (Joh 14, 7), hat
Philippus ihn beinahe naiv gebeten: "Herr, zeig uns den Vater; das genügt
uns" (Joh 14, 8). Jesus hat ihm im Ton eines wohlwollenden Vorwurfs
geantwortet: "Schon so lange bin ich bei euch, und du hast mich nicht
erkannt, Philippus? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen. Wie kannst du
sagen: Zeig uns den Vater? Glaubst du nicht, dass ich im Vater bin und dass der
Vater in mir ist?... Glaubt mir doch, dass ich im Vater bin und dass der Vater
in mir ist" (Joh 14, 9–11). Diese Worte zählen zu den erhabensten im
Evangelium des Johannes. Sie erhalten eine wahre und wahrhaftige Offenbarung.
Am Schluss des Prologs seines Evangeliums sagt Johannes: "Niemand hat Gott
je gesehen. Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat
Kunde gebracht" (Joh 1, 18).
Diese Erklärung, die vom Evangelisten stammt, wird von Jesus
selbst aufgenommen und bestätigt. Doch mit einer neuen Nuance. Während nämlich
der Prolog des Johannes von einem ausdrücklichen Eingreifen Jesu durch die
Worte seiner Lehre spricht, bezieht sich Jesus in seiner Antwort an Philippus
auf seine eigene Person als solche und gibt damit zu verstehen, dass es möglich
ist, ihn nicht nur durch das, was er sagt, sondern mehr noch, durch das, was er
einfach ist, zu verstehen. Wenn wir uns gemäß dem Paradox der Menschwerdung
ausdrücken wollen, können wir wohl sagen, dass Gott sich ein menschliches Antlitz
gegeben hat, das Antlitz Jesu und dass wir folglich, von nun an, wenn wir das
Antlitz Gottes wirklich erkennen wollen, nur das Antlitz Jesu zu betrachten
brauchen! In seinem Antlitz sehen wir wirklich, wer Gott ist und wie Gott ist!
Der Evangelist sagt uns nicht, ob Philippus den Satz Jesu voll und
ganz verstanden hat. Sicher ist, dass er ihm sein Leben ganz geweiht hat. Nach
einigen späteren Erzählungen (Philippusakten und andere), hat unser Apostel
zunächst Griechenland und dann Phrygien evangelisiert, wo er dann in
Hierapolis, durch ein Martyrium, das unterschiedlich als Kreuzigung oder als
Steinigung beschrieben wird, den Tod gefunden hat. Wir wollen zum Abschluss
unserer Betrachtungen an das Ziel erinnern, auf das unser Leben sich ausrichten
muss: Jesus zu begegnen, so wie Philippus ihm begegnet ist und versuchen, in
ihm Gott selbst, den himmlischen Vater zu sehen. Wenn wir uns darum nicht
bemühen, dann werden wir wie in einem Spiegel immer nur auf uns selbst
zurückverwiesen und immer einsamer! Philippus hingegen lehrt uns, uns von Jesus
einnehmen zu lassen, bei ihm zu bleiben und auch die anderen dazu einzuladen,
diese unentbehrliche Gesellschaft zu teilen. Und sehend, Gott findend, das
wahre Leben zu finden.