Generalaudienz am 11.
Oktober 2006
Simon und Judas Thaddäus
Liebe Brüder und Schwestern!
Simon erhält in den vier Listen verschiedene Beinamen: während
Matthäus und Markus ihn als "Kananäus" bezeichnen, nennt Lukas ihn
den "Zeloten". In Wirklichkeit bedeuten die beiden Bezeichnungen
dasselbe: in der hebräischen Sprache bedeutet das Wort qana "eifersüchtig,
leidenschaftlich sein", und das kann sowohl von Gott gesagt werden, insoweit
er eifersüchtig auf das von ihm erwählte Volk ist (vgl. Ex 20, 5) als auch von
den Menschen, die wie Elija mit leidenschaftlichem Eifer für den einzigen Gott
eintreten (vgl. 1 Kön 19, 10). Es ist also gut möglich, dass für diesen Simon,
wenn er nicht gerade der nationalistischen Bewegung der Zeloten angehörte,
zumindest ein glühender Eifer für die jüdische Identität charakteristisch war,
also für Gott, für sein Volk und für das göttliche Gesetz.
Wenn die Dinge so liegen, ist Simon dem Matthäus entgegengesetzt,
der als Zöllner, im Gegenteil zu ihm, eine Tätigkeit ausgeübt hatte, die als
ganz und gar unrein angesehen wurde. Ein offensichtliches Zeichen, dass Jesus
seine Jünger und Mitarbeiter aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen und
religiösen Schichten beruft, ohne irgend jemanden auszuschließen. Ihn
interessieren die Personen und nicht die sozialen Klassen oder die
Äußerlichkeiten! Und das Schöne ist, dass in der Gruppe seiner Anhänger alle,
obwohl sie verschieden waren, miteinander gelebt und die vorstellbaren Schwierigkeiten
überwunden haben: Jesus selbst war in der Tat der Grund für diesen
Zusammenhalt, in dem sich alle miteinander vereint fanden. Das soll uns
eindeutig eine Lehre erteilen, die wir doch häufig dazu neigen, die
Unterschiede oder vielleicht sogar die Gegensätze zu betonen und zu vergessen,
dass uns in Jesus Christus die Kraft gegeben ist, unsere Konfliktsituation zu
schlichten. Halten wir uns auch vor Augen, dass die Gruppe der Zwölf die
Vorwegnahme der Kirche ist, in der alle Charismen, Völker, Rassen, alle
menschlichen Eigenschaften Platz haben müssen, die sowohl ihre Zusammensetzung
als auch ihre Einheit in der Gemeinschaft mit Jesus finden.
Was dann Judas Thaddäus anbelangt, wird er der Überlieferung nach
so genannt, die dabei zwei verschiedene Namen miteinander vereint: während
Matthäus und Markus ihn nämlich einfach Thaddäus nennen (Mt 10, 3; Mk 3, 18),
nennt Lukas ihn Judas, den "Sohn des Jakobus" (Lk 6, 16; Apg 1, 13).
Der Beiname Thaddäus ist unsicherer Herkunft und wird entweder als Ableitung aus
dem aramäischen tadda erklärt, was "Brust" heißt und folglich
"großherzig" bedeuten würde oder aber als Abkürzung eines
griechischen Namens wie "Teodoro, Teodoto". Von ihm ist wenig
überliefert. Nur Johannes weist auf eine Frage hin, die er Jesus während des
Letzten Abendmahls gestellt hat: Thaddäus sagt zum Herrn: "Herr, warum
willst du dich nur uns offenbaren und nicht der Welt?"
Das ist eine Frage von großer Aktualität, die auch wir dem Herrn
stellen: warum hat sich der Auferstandene seinen Gegnern nicht in seiner ganzen
Herrlichkeit geoffenbart, um zu zeigen, dass Gott der Sieger ist? Warum hat er
sich nur seinen Jüngern geoffenbart? Jesus gibt darauf eine geheimnisvolle und
tiefsinnige Antwort. Der Herr sagt: "Wenn jemand mich liebt, wird er an
meinem Wort festhalten; mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm
kommen und bei ihm wohnen" (Joh 14, 22–23). Das soll bedeuten, dass der
Auferstandene auf eine Weise gesehen und auch mit dem Herzen wahrgenommen
werden muss, dass Gott in uns wohnen kann. Der Herr erscheint nicht wie eine
Sache. Er will in unser Leben eintreten und daher ist seine Offenbarung eine
Offenbarung, die ein offenes Herz einschließt und voraussetzt. Nur so sehen wir
den Auferstandenen.
Judas Thaddäus ist die Urheberschaft eines der Briefe des Neuen
Testaments zugeschrieben worden, die als "katholische" Briefe
bezeichnet werden, weil sie nicht an eine bestimmte Ortskirche gerichtet sind,
sondern an einen weiteren Adressatenkreis. Er ist in der Tat "an die
Berufenen, die von Gott, dem Vater, geliebt und für Jesus Christus bestimmt und
bewahrt sind" (V. 1), gerichtet. Das Hauptanliegen dieses Schreibens
besteht darin, die Christen vor allen zu warnen, welche die Gnade Gottes als
Vorwand benutzen, um die eigenen Ausschweifungen zu entschuldigen und um andere
Brüder durch unannehmbare Lehren vom rechten Weg abzubringen, indem diese
"Träumer" (V. 8) – so bezeichnet Judas ihre Doktrin und ihre
besonderen Ideen – Spaltungen innerhalb der Kirche einführen. Er vergleicht sie
sogar mit gefallenen Engeln und mit ausdrucksstarken Worten sagt er: "Sie
sind den Weg Kains gegangen" (V. 11). Er brandmarkt sie ohne
Zurückhaltung: "Wasserlose Wolken sind sie, von den Winden dahingetrieben;
Bäume, die im Herbst keine Frucht tragen, zweimal verdorrt und entwurzelt;
wilde Meereswogen, die ihre eigene Schande ans Land spülen; Sterne, die keine
feste Bahn haben; ihnen ist auf ewig die dunkelste Finsternis bestimmt"
(V. 12–13).
Heute sind wir vielleicht nicht mehr daran gewöhnt, eine solch
polemische Sprache zu benutzen, die uns jedoch etwas Wichtiges mitteilt.
Inmitten aller Versuchungen und aller Strömungen des modernen Lebens müssen wir
die Identität unseres Glaubens bewahren. Gewiss, der Weg der Nachsicht und des
Dialogs, den das Zweite Vatikanische Konzil freudig beschritten hat, soll
sicher entschlossen und beharrlich fortgesetzt werden. Doch dieser Weg des
Dialogs, der so notwendig ist, darf nicht die Pflicht in Vergessenheit geraten
lassen, mit der gleichen Energie über die unverzichtbaren Hauptlinien unserer
christlichen Identität nachzudenken und sie hervorzuheben. Dabei muss man sich
stets vor Augen halten, dass diese unsere Identität angesichts der Widersprüche
der Welt, in der wir leben, Kraft, Klarheit und Mut verlangt. Daher heißt es im
Text des Briefes weiter: "Ihr aber, liebe Brüder" – das richtet sich
an uns alle – "gründet euch auf euren hochheiligen Glauben, und baut
darauf weiter, betet in der Kraft des Heiligen Geistes, haltet fest an der
Liebe Gottes , und wartet auf das Erbarmen Jesu Christi, unseres Herrn, der
euch das ewige Leben schenkt. Erbarmt euch derer, die zweifeln" (V.
20–22).
Der Brief schließt mit diesen wunderschönen Worten: "Dem
einen Gott aber, der die Macht hat euch vor jedem Fehltritt zu bewahren und
euch untadelig und voll Freude vor seine Herrlichkeit treten zu lassen, ihm,
der uns durch Jesus Christus, unseren Herrn, rettet, gebührt die Herrlichkeit,
Hoheit, Macht und Gewalt vor aller Zeit und jetzt und für alle Zeiten.
Amen" (V. 24–25).
Man sieht deutlich, dass der Verfasser dieser Zeilen in Fülle den
eigenen Glauben lebt, zu dem bedeutende Dinge gehören, wie die moralische
Integrität und die Freude, das Vertrauen und schließlich der Lobpreis, wobei
das Ganze nur durch die Güte unseres einzigen Gottes und durch die Barmherzigkeit
unseres Herrn Jesus Christus hervorgerufen wird. Mögen uns daher sowohl Simon
"Kananäus" als auch Judas Thaddäus helfen, die Schönheit des
christlichen Glaubens immer wieder von neuem zu entdecken und unermüdlich zu
leben, damit wir so ein starkes und gleichzeitig gelassenes Zeugnis für ihn
ablegen können.