Papst Benedikt XVI.: Ansprache während der Generalaudienz am 24.5.08:

Romanus Melodus

Liebe Brüder und Schwestern!

In der Reihe der Katechesen über die Kirchenväter möchte ich heute über eine wenig bekannte Gestalt sprechen: Romanus Melodus, der um 490 in Emesa (dem heutigen Homs) in Syrien geboren wurde. Der Theologe, Dichter und Komponist gehört zu der großen Schar von Theologen, welche die Theologie in Dichtung umgesetzt haben. Denken wir etwa an seinen Landsmann, den heiligen Ephräm von Syrien, der zweihundert Jahre vor ihm gelebt hat. Denken wir aber auch an die Theologen des Westens wie den heiligen Ambrosius, dessen Hymnen noch heute Teil unserer Liturgie sind und unser Herz berühren; oder an einen Theologen – einen großen Denker – wie den heiligen Thomas, der uns auch die Hymnen für das morgige Fronleichnamsfest geschenkt hat; denken wir an den heiligen Johannes von Kreuz und an viele andere. Der Glaube ist Liebe und bringt daher Dichtung und Musik hervor. Der Glaube ist Freude und bringt daher Schönheit hervor.

Romanus Melodus ist also einer von ihnen, ein Theologe, der dichtet und komponiert. Nachdem er in seiner Heimatstadt die ersten Elemente der griechischen und syrischen Kultur gelernt hatte, ist er nach Berytos (Beirut) gezogen und hat dort seine klassische Ausbildung und seine rhetorischen Kenntnisse vervollständigt.

Maria forderte ihn im Traum auf, ein Blatt Papier zu schlucken

Nach seiner Weihe zum ständigen Diakon (ca. 515) hat er hier drei Jahre lang als Prediger gelebt. Gegen Ende der Herrschaft von Anastasius I. (ca. 518) ist er dann nach Konstantinopel gezogen und hat sich dort im Kloster neben der Kirche der „Theotókos“, der Mutter Gottes, niedergelassen. Hier hat das Schlüsselerlebnis seines Lebens stattgefunden: das „Sinaxarium“ berichtet uns über die Erscheinung der Mutter Gottes im Traum und das Geschenk des dichterischen Charismas. Maria hatte ihn dazu aufgefordert, ein zusammengerolltes Blatt zu schlucken. Als Romanus am Morgen danach aufwachte – es war der Festtag der Geburt des Herrn – begann er vom Ambo aus vorzutragen: „Heute gebärt die Jungfrau den Himmlischen“ (Hymne „Auf Christgeburt“, I. Proömium). So wurde er ein dichtender Prediger bis zu seinem Tod (nach 555).

Romanus ist als einer der typischsten Autoren liturgischer Hymnen in die Geschichte eingegangen. Die Predigt war damals für die Gläubigen praktisch die einzige Gelegenheit zur katechetischen Erziehung. Romanus ist daher sowohl ein herausragender Zeuge für das religiöse Empfinden seiner Zeit als auch für die lebhafte und ursprüngliche Form der Katechese. Durch seine Kompositionen können wir uns ein Bild von der Kreativität dieser Form der Katechese, von der Kreativität des theologischen Denkens, der Ästhetik und der sakralen Hymnenschreibung jener Zeit machen. Der Ort, an dem Romanus predigte, war ein Heiligtum in der Umgebung von Konstantinopel: Er bestieg den Ambo, der im Zentrum der Kirche stand, und sprach mittels einer ziemlich aufwändigen Inszenierung zur Gemeinde: er benutzte Wandmalereien, auf dem Ambo aufgestellte Ikonen oder bediente sich des Dialogs. Die Predigten in metrischer Form – die sogenannten Kontakien – wurden gesungen. Der Begriff „kontákion“ (kleiner Stab) scheint auf den kleinen Stab zu verweisen, um den die Rolle eines liturgischen oder anderen Manuskripts gewickelt wurde. Neunundachtzig „kontákia“ sind uns unter dem Namen des Romanus überliefert, doch die Überlieferung schreibt ihm tausend zu.

Bei Romanus setzt sich jedes „kontákion“ aus Strophen – meistens zwischen achtzehn und vierundzwanzig – mit gleicher Silbenzahl zusammen, die sich nach dem Modell der ersten Strophe (heirmòs) richten. Die rhythmischen Akzente der Verse aller Strophen werden denen des „heirmòs“ nachgebildet. Jede Strophe schließt mit einem Refrain (Ephymnion), der meist gleich bleibt, um eine dichterische Einheit zu erzeugen. Außerdem zeigen die Anfangsbuchstaben der einzelnen Strophen den Namen des Autors an (Akrostichon), denen häufig das Adjektiv „demütig“ vorangestellt wird. Ein Gebet, das sich auf die Geschehnisse bezieht, die gefeiert oder evoziert wurden, beschließt den Hymnus. Nach der Lesung der Bibel sang Romanus das Proömium, meist in Form eines Gebets oder einer Bitte um Hilfe. So kündigte er das Thema der Predigt an und erklärte den Refrain, der am Ende jeder Strophe von ihm im Takt und mit lauter Stimme vorgetragen und von allen im Chor wiederholt wurde.

Ein typisches Beispiel liefert uns das „Kontákion“ zum Karfreitag: ein dramatischer Dialog zwischen Maria und ihrem Sohn, der auf dem Kreuzweg stattfindet. Maria sagt: „Sohn, wohin gehst du? Warum ging der Lauf deines Lebens so schnell zu Ende? / Niemals, o Sohn, hätte ich gedacht, dich in diesem Zustand zu sehen, / niemals hätte ich mir das Maß des Zorns vorstellen können, das die Gottlosen erreicht haben / um auf so unrechte Weise Hand an dich zu legen.“ Jesus erwidert: „Meine Mutter, warum weinst du? [...] Musste ich nicht leiden? Musste ich nicht sterben? / Wie könnte ich sonst Adam erlösen?“ Der Sohn Marias tröstet die Mutter, doch er erinnert sie an ihre Rolle in der Heilsgeschichte: „Lass also ab, Mutter, lass ab von deinem Schmerz: / das Trauern ziemt sich nicht für dich, da du ,voll der Gnade‘ genannt wurdest“ („Maria zu Füßen des Kreuzes“, 1–2; 4–5). In der Hymne über das Opfer Abrahams dann behält Sarah sich die Entscheidung über das Leben Isaaks vor. Abraham sagt: „Mein Herr, wenn Sarah alle deine Worte hören wird / und von diesem deinem Willen erfährt, dann wird sie mir sagen: / Wenn derjenige, der ihn uns geschenkt hat, ihn wieder zurückhaben will, warum hat er ihn uns dann gegeben? / [...] – Du, o Greis, überlass mir meinen Sohn / und wenn der, der dich gerufen hat, ihn haben will, dann wird er es mir sagen müssen“ („Das Opfer Abrahams“, 7).

Romanus bedient sich nicht des feierlichen byzantinischen Griechisch, das am Hofe gesprochen wurde, sondern eines einfachen Griechisch, das der Sprache des Volkes nachempfunden ist. Ich möchte hier ein Beispiel für seine lebhafte und sehr persönliche Art, vom Herrn Jesus zu sprechen, anführen: er nennt ihn „Lichtquelle, die nicht brennt und Licht gegen die Dunkelheit“ und sagt: „Ich erkühne mich, dich wie eine Leuchte in der Hand zu halten; / jemand, der ein Licht zu den Menschen bringt, wird erleuchtet, ohne zu verbrennen. / Erleuchte mich also, der Du das unauslöschliche Licht bist“ („Die Vorstellung oder das Fest der Begegnung“, 8). Die Überzeugungskraft seiner Verkündigung gründete auf der weitgehenden Übereinstimmung zwischen seinen Worten und seinem Leben. In einem Gebet sagt er: „Mein Erlöser, mache meine Sprache klar und deutlich, öffne meinen Mund / und wenn du ihn gefüllt hast, durchdringe mein Herz, damit mein Handeln / meinen Worten entspricht“ („Aussendung der Apostel“, 2).

Eine einfache, aber fundamentale Christologie

Wir wollen nun einige seiner Hauptthemen untersuchen. Ein grundsätzliches Thema seiner Verkündigung ist das einheitliche Handeln Gottes in der Geschichte, die Einheit von Schöpfung und Heilsgeschichte, die Einheit von Altem und Neuem Testament. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Pneumatologie, das heißt die Lehre über den Heiligen Geist. Am Pfingstfest unterstreicht er die Kontinuität, die zwischen Christus, der in den Himmel aufgefahren ist, und den Aposteln, also der Kirche besteht, und hebt ihr missionarisches Handeln in der Welt hervor: „[...] mit göttlicher Tugend haben sie alle Menschen erobert; / sie haben das Kreuz Christi wie eine Feder genommen / sie haben die Worte wie Netze benutzt und damit die Welt gefischt / das Wort war ihnen ein spitzer Angelhaken, / wie ein Köder ist für sie geworden / das Fleisch des Herrschers des Universums“ („Pfingsten“ 2, 18).

Ein anderes zentrales Thema ist natürlich die Christologie. Er dringt nicht in das Problem der schwierigen theologischen Begriffe ein, die zu jener Zeit so heftig diskutiert wurden, und die nicht nur die Einheit unter den Theologen, sondern auch unter den Christen in der Kirche so sehr verletzt haben. Er predigt eine einfache aber fundamentale Christologie, die Christologie der großen Konzile. Doch vor allem ist er der Volksfrömmigkeit nahe – auch die Begriffe der Konzile sind ja aus der Volksfrömmigkeit und aus der Erkenntnis des christlichen Herzens hervorgegangen – und so hebt Romanus hervor, dass Christus wahrer Mensch und wahrer Gott ist, und als wahrer Gott und Mensch eine einzige Person, die Synthese von Schöpfung und Schöpfer ist: in seinen menschlichen Worten hören wir das Wort Gottes selbst: „Christus – so sagt er – war Mensch, aber er war auch Gott / nicht jedoch in zwei geteilt: er ist Einer, Sohn eines Vaters, der ein Einziger ist“ („Die Passion“, 19). Was die Mariologie anbelangt, so gedenkt Romanus, der der Jungfrau für die Gabe des dichterischen Charismas dankbar ist, ihrer am Ende fast aller seiner Hymnen und widmet ihr seine schönsten „kontákia“: „Geburt“, „Verkündigung“, „Gottesmutterschaft“, „Neue Eva“.

Den Primat der Liebe hervorgehoben

Die moralischen Lehren beziehen sich schließlich auf das Jüngste Gericht („Die zehn Jungfrauen“ [II]). Er führt uns hin zu diesem Augenblick der Wahrheit in unserem Leben, der Begegnung mit dem gerechten Richter, und ruft daher zur Umkehr durch Buße und Fasten auf. Zudem soll der Christ die Liebe und das Almosengeben pflegen. Er unterstreicht den Primat der Liebe über die Enthaltsamkeit in zwei Hymnen: die „Hochzeit von Kanaan“ und die „Zehn Jungfrauen“. Die Liebe ist die größte unter den Tugenden: „[...] zehn Jungfrauen besaßen die Tugend der unversehrten Jungfräulichkeit / doch für fünf von ihnen war die harte Prüfung furchtlos. / Die anderen leuchteten mit den Lampen der Liebe für die Menschheit / und daher hat der Bräutigam sie eingeladen“ („Die zehn Jungfrauen“, 1).

Pulsierende Menschlichkeit, leidenschaftlicher Glaube und tiefe Demut durchziehen die Gesänge von Romanus Melodus. Dieser große Dichter und Komponist ruft uns den ganzen Schatz der christlichen Kultur in Erinnerung, die aus dem Glauben geboren wurde, aus dem Herzen, das Christus, dem Sohn Gottes, begegnet ist. Aus diesem Kontakt des Herzens mit der Wahrheit, welche die Liebe ist, geht die Kultur hervor, ist die gesamte große christliche Kultur hervorgegangen. Und wenn der Glaube lebendig bleibt, dann wird auch dieses kulturelle Erbe nicht sterben, sondern stets lebendig und gegenwärtig bleiben. Die Ikonen sprechen auch heute zu den Herzen der Gläubigen, sie gehören nicht der Vergangenheit an. Die Kathedralen sind keine mittelalterlichen Denkmäler, sondern Häuser des Lebens, wo wir uns „zu Hause“ fühlen: wir begegnen Gott und wir begegnen einander. Auch die große Musik – die Gregorianik oder Bach oder Mozart – gehört nicht der Vergangenheit an, sondern lebt aus der Lebendigkeit der Liturgie und unseres Glaubens. Wenn der Glaube lebendig ist, wird die christliche Kultur nicht „Vergangenheit“, sondern bleibt stets lebendig und gegenwärtig. Und wenn der Glaube lebendig ist, können wir auch heute die Aufforderung erfüllen, die in den Psalmen immer von neuem wiederholt wird: „Singt dem Herrn ein neues Lied“. Kreativität, Innovation, neues Lied, neue Kultur und Gegenwärtigkeit des gesamten kulturellen Erbes schließen einander in der Lebendigkeit des Glaubens nicht aus, sondern sind eine einzige Wirklichkeit; sie sind Gegenwart der Schönheit Gottes und der Freude, seine Kinder zu sein.

 

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