Papst Benedikt XVI.: Ansprache während der Generalaudienz am 31.5.08:

Gregor der Große (1)

Liebe Brüder und Schwestern!

Am vergangenen Mittwoch habe ich über den im Abendland wenig bekannten Kirchenvater Romanus Melodus gesprochen, heute möchte ich die Gestalt eines der größten Kirchenväter in der Geschichte der Kirche vorstellen, einen der vier westlichen Kirchenlehrer, den heiligen Papst Gregor, der von 590 bis 604 Bischof von Rom war und dem die Überlieferung den Titel „Magnus/der Große“ zugesprochen hat. Gregor war wirklich ein großer Papst und ein großer Kirchenlehrer! Er wurde um das Jahr 540 in einer reichen Patrizierfamilie der „gens Anicia“ (das Geschlecht der Anicier) in Rom geboren, die sich nicht nur durch ihr adliges Blut, sondern auch durch ihre Zugehörigkeit zum christlichen Glauben sowie durch die dem Apostolischen Stuhl geleisteten Dienste auszeichnete. Zwei Päpste waren aus dieser Familie hervorgegangen: Felix III. (483–492), Ururgroßvater von Gregor, und Agapet (535–536). Das Haus, in dem Gregor aufwuchs, lag am „Clivus Scauri“ inmitten prächtiger Gebäude, welche die Größe des alten Rom und die geistige Kraft des Christentums bezeugten. Tiefe christliche Empfindungen wurden ihm auch durch das Vorbild der Eltern Gordianus und Silvia eingegeben, die beide als Heilige verehrt werden, sowie durch zwei Tanten väterlicherseits, Emiliana und Tarsilia, die als geweihte Jungfrauen im eigenen Haus lebten und den Weg des Gebets und der Askese verfolgten.

Gregor schlug, wie sein Vater, bald die Verwaltungslaufbahn ein und erreichte 572, als er Stadtpräfekt wurde, den Höhepunkt seiner Karriere. Dieses Amt, das durch die schlechten Zeiten erschwert wurde, gestattete ihm, sich weitgehend mit jeder Art von Verwaltungsproblemen zu beschäftigen und Nutzen für künftige Aufgaben daraus zu ziehen. Im Besonderen hinterließ es ein tiefes Empfinden für Ordnung und Disziplin in ihm: nachdem er Papst geworden war, schlug er den Bischöfen vor, sich bei der Organisation der kirchlichen Angelegenheiten den den Staatsbeamten eigenen Fleiß und ihre Achtung vor dem Gesetz zum Vorbild zu nehmen. Dieses Leben sollte ihn jedoch nicht befriedigen, so dass er kurz darauf beschloss, alle zivilen Ämter aufzugeben, um sich in sein Haus zurückzuziehen und ein Leben als Mönch zu beginnen, indem er das Haus der Familie in das Kloster SantAndrea al Celio umwandelte. Nach dieser Zeit des Klosterlebens, eines Lebens des ständigen Dialogs mit dem Herrn, sollte er sich stets zurücksehnen, was in seinen Predigten immer wieder und immer öfter aufscheint: inmitten der quälenden Sorgen der pastoralen Probleme, wird er sich in seinen Schriften mehrmals an diese glückliche Zeit der Sammlung in Gott, des Gebets, der ruhigen Vertiefung in die Studien erinnern. So konnte er jene tiefe Kenntnis der Heiligen Schrift und der Kirchenväter erwerben, derer er sich dann in seinen Werken bediente.

Als Delegat des Papstes in Konstantinopel

Doch die klösterliche Zurückgezogenheit Gregors war von kurzer Dauer. Die wertvolle Erfahrung, die er in der zivilen Verwaltung während einer von schweren Problemen belasteten Zeit gewonnen, die Beziehungen, die er in diesem Amt zu den Byzantinern unterhalten und die allgemeine Wertschätzung, die er sich erworben hatte, führten Papst Pelagius dazu, ihn zum Diakon zu ernennen und ihn als seinen „Apokrisiar“ – heute würde man sagen als apostolischen Nuntius – nach Konstantinopel zu senden, um die Überwindung der letzten Nachwirkungen der monophysitischen Streitigkeiten zu fördern und vor allem, um in dem Bemühen, den Druck der Langobarden zu bremsen, die Unterstützung des Kaisers zu erhalten. Der Aufenthalt in Konstantinopel, wo er mit einer Gruppe von Mönchen das Klosterleben wieder aufgenommen hatte, war äußerst wichtig für Gregor, da es ihm sowohl die Gelegenheit gab, eine direkte Erfahrung der byzantinischen Welt zu erwerben, als auch das Langobardenproblem näher kennenzulernen, das dann in den Jahren des Pontifikats sein Geschick und seine Kraft auf eine harte Probe stellen sollte. Nach einigen Jahren wurde er vom Papst nach Rom zurückgerufen und zu seinem Sekretär ernannt. Es waren schwere Jahre: viele Gebiete Italiens und Rom selbst waren von ständigen Regenfällen, dem Übertreten der Flüsse, der Hungersnot betroffen. Schließlich brach auch noch die Pest aus, die zahlreiche Opfer forderte, unter ihnen auch Papst Pelagius II. Klerus, Volk und Senat beschlossen einstimmig eben ihn, Gregor, zu seinem Nachfolger auf dem Stuhl Petri zu wählen. Er versuchte Widerstand zu leisten und sogar zu fliehen, doch da war nichts zu machen: Am Ende musste er nachgeben. Es war das Jahr 590.

Nachdem er in dem, was geschehen war, den Willen Gottes erkannt hatte, machte sich der neue Papst sofort mit Eifer an die Arbeit. Von Anfang an bewies er eine ausgesprochen klare Auffassung von der Wirklichkeit, an der er sich messen musste, besondere Tüchtigkeit bei der Erledigung sowohl der kirchlichen als auch der bürgerlichen Angelegenheiten, sowie stete Ausgewogenheit in den zum Teil mutigen Entscheidungen, die das Amt ihm abverlangte. Eine umfangreiche Dokumentation seiner Amtszeit ist dank des „Registers“ seiner Briefe (etwa achthundert) erhalten, in denen sich der tägliche Umgang mit den komplexen Fragen wiederspiegelt, die auf seinen Tisch kamen. Es handelte sich um Fragen, die ihm von Bischöfen, von Äbten, von Priestern, sowie auch von den unterschiedlichsten zivilen Behörden vorgelegt wurden. Zu den Problemen, von denen Italien und Rom zu jener Zeit betroffen waren, zählte eines, das sowohl im bürgerlichen als auch im kirchlichen Bereich von besonderer Bedeutung war: die Langobardenfrage. Ihr widmete der Papst all seine Kraft, um eine wirklich friedliche Lösung zu finden. Im Unterschied zum byzantinischen Kaiser, der davon ausging, dass die Langobarden lediglich grobe Kerle und Räuber seien, die es zu besiegen oder zu vernichten galt, sah der heilige Gregor diese Menschen mit den Augen des guten Hirten, der darum besorgt ist, ihnen die frohe Botschaft zu verkünden und eine Beziehung der Brüderlichkeit zu ihnen herzustellen, im Hinblick auf einen künftigen Frieden, der sich auf gegenseitigen Respekt und ruhiges Zusammenleben zwischen Italienern, Byzantinern und Langobarden gründete. Er kümmerte sich um die Bekehrung der jungen Völker und um die neue bürgerliche Ordnung Europas: die Westgoten aus Spanien, die Franken, die Sachsen, die Einwanderer Britanniens und die Langobarden waren die bevorzugten Adressaten seines Evangelisierungsauftrags. Wir haben gestern den liturgischen Gedenktag des heiligen Augustinus von Canterbury, des Leiters einer Gruppe von Mönchen, gefeiert, die von Gregor beauftragt worden waren, nach Britannien zu gehen, um England zu evangelisieren.

Der Papst hat sich mit allen Kräften dafür eingesetzt, einen dauerhaften Frieden in Rom und Italien zu erwirken – er war ein wahrer Friedensstifter - und intensive Verhandlungen mit dem Langobardenkönig Agilulf aufgenommen. Diese führten zu einer Periode der Ruhe, die etwa drei Jahre dauerte (598–601), nach denen im Jahr 603 ein dauerhafterer Waffenstillstand vereinbart werden konnte. Dieses positive Ergebnis wurde auch dank der parallel laufenden Kontakte erwirkt, die der Papst währenddessen mit Königin Theodelinde unterhielt, einer bayerischen Prinzessin, die im Gegensatz zu den Anführern anderer germanischer Völker katholisch war – zutiefst katholisch. Es ist eine Reihe von Briefen von Papst Gregor an diese Königin erhalten, in denen er seine Wertschätzung und Freundschaft für sie zum Ausdruck bringt. Theodelinde gelang es allmählich, den König zum Katholizismus zu führen und so den Weg zum Frieden vorzubereiten. Der Papst sorgte auch dafür, dass ihr die Reliquien für die Johannes dem Täufer geweihte Basilika zugesandt wurden, die sie in Monza hatte errichten lassen, und er versäumte es nicht, ihr anlässlich der Geburt und der Taufe ihres Sohne Adaloald seine guten Wünsche und kostbare Geschenke für diese Kathedrale in Monza zukommen zu lassen. Die Geschichte dieser Königin bezeugt auf schöne Weise die Bedeutung der Frauen in der Geschichte der Kirche. Im Grunde waren es drei Ziele, die Gregor beständig verfolgte: die Ausbreitung der Langobarden in Italien zu beschränken; Königin Theodelinde dem Einfluss der Schismatiker zu entziehen und ihren katholischen Glauben zu stärken; zwischen Langobarden und Byzantinern im Hinblick auf ein Abkommen zu vermitteln, das den Frieden auf der Halbinsel garantieren und gleichzeitig eine Evangelisierungstätigkeit unter den Langobarden zulassen würde. In dieser komplexen Angelegenheit hatte er also stets zwei Dinge vor Augen: Übereinkünfte auf diplomatisch-politischer Ebene zu fördern und die Verkündigung des wahren Glaubens unter der Bevölkerung zu verbreiten.

Den unehrlichen Verwaltern das Handwerk gelegt

Neben dem rein geistigen und pastoralen Wirken kümmerte sich Papst Gregor auch um vielfältige soziale Fragen. Mit den Erträgen aus dem beträchtlichen Vermögen, das der römische Bischofssitz in Italien, vor allem in Sizilien, besaß, kaufte er Korn und ließ es verteilen, unterstützte er die Bedürftigen, half er den Priestern, Ordensmännern und Ordensfrauen, die im Elend lebten, bezahlte er Lösegelder für Bürger, die von den Langobarden gefangengenommen worden waren, kaufte er Ruhe und Waffenstillstände. Zudem sorgte er sowohl in Rom als auch in anderen Teilen Italiens für eine sorgfältige Neuordnung der Verwaltung und erließ genaue Anweisungen, damit die Güter der Kirche, die zu ihrem Unterhalt und für ihre Evangelisierungsarbeit in der Welt dienten, mit absoluter Rechtschaffenheit und den Regeln der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit entsprechend verwaltet würden. Er forderte, dass die Pächter vor Amtsmissbrauch durch die Verwalter der Ländereien, die im Besitz der Kirche waren, geschützt und im Fall eines Betrugs unverzüglich entschädigt werden sollten, damit das Antlitz der Braut Christi nicht durch unehrenhaften Profit beschmutzt würde.

Gregor übte diese intensive Tätigkeit trotz seiner schwachen Gesundheit aus, die ihn häufig dazu zwang, tagelang das Bett zu hüten. Das Fasten während der Jahre seines Klosterlebens hatte zu schweren Störungen im Digestionsapparat geführt. Zudem war seine Stimme sehr schwach, sodass er häufig gezwungen war, dem Diakon das Vorlesen seiner Predigten anzuvertrauen, damit die Gläubigen in den römischen Basiliken ihn hören konnten. Er tat jedenfalls sein Möglichstes, um an den Festtagen die „Missarum solemnia“, also die feierliche Messe zu feiern, und dann traf er persönlich das Volk Gottes, das ihm sehr zugeneigt war, da es in ihm eine glaubwürdige Bezugsperson sah, die ihm Sicherheit vermittelte: nicht zufällig wurde ihm bald der Titel „consul Dei“ (Konsul Gottes) zugeschrieben. Trotz der schwierigen Umstände unter denen er wirken musste, gelang es ihm, sich dank seines heiligmäßigen Lebens und seiner tiefen Menschlichkeit das Vertrauen der Gläubigen zu erwerben und für seine Zeit sowie für die Zukunft wirklich großartige Ergebnisse zu erzielen. Er war ein ganz von Gott durchdrungener Mann: Das Verlangen nach Gott war im Grunde seines Herzens immer lebendig, und gerade daher stand er seinem Nächsten, den Bedürfnissen der Menschen seiner Zeit, immer besonders nah. In einer furchtbaren, ja in einer verzweifelten Zeit, wusste er Frieden zu schaffen und Hoffnung zu vermitteln. Dieser Mann Gottes zeigt uns, wo die wahren Quellen des Friedens sind, woher die wahre Hoffnung kommt, und so wird er auch für uns zu einem Ratgeber.

 

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