Papst Benedikt XVI.
Generalaudienz am 23.9.09
Anselm von Canterbury
Liebe Brüder und Schwestern!
Der heilige Anselm wurde
1033 (oder zu Beginn des Jahres 1034) als ältestes Kind einer adligen Familie
in Aosta geboren. Der Vater war ein grober Mann, der sich den Vergnügungen des
Lebens hingab und sein Habe verprasste; die Mutter hingegen war eine Frau von
guten Sitten und tiefer Religiosität (vgl. Eadmer, Vita s. Anselmi, PL 159, col
49). Die Mutter war es, die sich um die erste menschliche und religiöse
Ausbildung des Sohnes kümmerte, den sie dann den Benediktinern eines Priorats
von Aosta anvertraute. Anselm, der sich – wie sein Biograph berichtet – als
Kind vorstellte, der gute Gott wohne in den hohen und schneebedeckten Gipfeln
der Alpen, träumte eines Nachts, Gott selbst habe ihn in seinen prächtigen
Palast eingeladen, sich dort lange und auf vertraute Weise mit ihm unterhalten
und ihm schließlich „reinweißes Brot“ zu essen angeboten (ebd., col 51). Dieser
Traum verlieh ihm die Überzeugung, er sei dazu berufen, eine wichtige Mission
zu erfüllen.
Im Alter von fünfzehn
Jahren bat er darum, in den Benediktinerorden aufgenommen zu werden, doch sein
Vater widersetzte sich mit aller Gewalt und gab auch dann nicht nach, als der
schwer erkrankte Sohn, der sich dem Tod nahe fühlte, das Ordensgewand als
letzten Trost erflehte. Nach der Genesung und dem frühzeitigen Tod der Mutter,
durchlebte Anselm eine Zeit moralischer Ausschweifung: Er vernachlässigte sein
Studium und wurde, von irdischen Leidenschaften überwältigt, taub gegenüber dem
Ruf Gottes. Er ging von zu Hause fort und begann auf der Suche nach neuen
Erfahrungen durch Frankreich zu reisen. Als er nach drei Jahren in die
Normandie kam, begab er sich in die Benediktinerabtei Bec, angezogen von dem
Ruf, in dem der Prior des Klosters, Lanfrank von Pavia, stand. Es war eine von
der Vorsehung bestimmte Begegnung für ihn, die für den Rest seines Lebens
entscheidend sein sollte. Unter der Anleitung von Lanfrank nahm Anselm
entschlossen das Studium wieder auf, und in kurzer Zeit wurde er nicht nur der
Lieblingsschüler, sondern auch der Vertraute seines Lehrmeisters. Seine
Berufung zum Klosterleben wurde erneut entfacht, und nach gründlicher
Überlegung trat er im Alter von 27 Jahren in den Mönchsorden ein und wurde zum
Priester geweiht. Die Askese und das Studium eröffneten ihm neue Horizonte und
ließen ihn in weitaus größerem Maß jene Vertrautheit mit Gott wiederfinden, die
er als Kind verspürt hatte.
Als Lanfrank 1063 Abt von
Caen wurde, wurde Anselm nach knapp drei Jahren, die er im Kloster verbracht
hatte, zum Prior des Klosters von Bec ernannt und Lehrer der Klosterschule,
wobei er sich als äußerst begabter Erzieher erwies. Die autoritären Methoden
gefielen ihm nicht; er verglich die Jugendlichen mit jungen Pflanzen, die sich
besser entwickeln, wenn sie nicht in ein Treibhaus eingeschlossen sind, und
gewährte ihnen eine „gesunde“ Freiheit. Was die Befolgung der Mönchsregel
anbelangte setzte er äußerst hohe Ansprüche an sich selbst und an die anderen,
doch statt sie zur Disziplin zu zwingen, bemühte er sich durchzusetzen, dass
sie die Regel aus Überzeugung befolgten.
Beim Tod des Abts Erluin,
des Gründers der Abtei von Bec, wurde Anselm einstimmig zu dessen Nachfolger
ernannt: das geschah im Februar 1079. Währenddessen waren viele Mönche nach
Canterbury berufen worden, um den Brüdern jenseits des Ärmelkanals die auf dem
Kontinent sich vollziehende Erneuerung zu bringen. Ihr Werk war sehr
willkommen, so dass Lanfrank von Pavia, der Abt von Caen, neuer Erzbischof von
Canterbury wurde und Anselm bat, eine gewisse Zeit mit ihm zu verbringen, um
die Mönche auszubilden und ihm in der schwierigen Situation zu helfen, in der
sich seine kirchliche Gemeinschaft nach der Invasion der Normannen befand. Der
Aufenthalt Anselms erwies sich als äußerst fruchtbar; er erwarb sich Sympathie
und Achtung, so dass er nach dem Tod Lanfranks als dessen Nachfolger auf den
Sitz des Erzbischofs von Canterbury gewählt wurde. Im Dezember 1093 empfing er
die feierliche Bischofsweihe.
Anselm nahm sogleich
energisch den Kampf für die Freiheit der Kirche auf und setzte sich mutig für
die Unabhängigkeit der geistlichen von der weltlichen Macht ein. Er verteidigte
die Kirche vor unrechtmäßigen Übergriffen der politischen Machthaber, vor allem
der Könige Wilhelm Rufus und Heinrich I., wobei er Ermutigung und Unterstützung
beim Papst fand, dem Anselm immer mutige und herzliche Verbundenheit erwies.
Diese Treue musste er im Jahr 1103 gar mit der Verbannung von seinem
Bischofssitz Canterbury bezahlen. Erst 1106, als Heinrich I. auf den Anspruch
verzichtete, die kirchliche Investitur vorzunehmen, sowie darauf, Steuern der
Kirche einzutreiben und ihre Güter zu konfiszieren, konnte Anselm nach England
zurückkehren, wo er von den Geistlichen und vom Volk freudig empfangen wurde.
Der lange Kampf, den er mit den Waffen der Beharrlichkeit, der Würde und der
Güte geführt hatte, kam so zu einem glücklichen Abschluss. Dieser heilige
Erzbischof, der, wo immer er sich hinbegab, von allen Seiten so große
Bewunderung erregte, widmete die letzten Jahre seines Lebens vor allem der
moralischen Ausbildung des Klerus und der geistigen Untersuchung theologischer
Fragen. Er starb am 21. April 1109, begleitet von den Worten des Evangeliums,
die während der Heiligen Messe jenes Tages gelesen wurden: „In allen meinen
Prüfungen habt ihr bei mir ausgeharrt. Darum vermache ich euch das Reich, wie
es mein Vater mir vermacht hat: Ihr sollt in meinem Reich mit mir an meinem
Tisch essen und trinken...“ (Lk 22, 28–30). Der Traum des geheimnisvollen
Festmahls, den er als kleiner Junge gerade zu Beginn seines geistlichen Weges
gehabt hatte, fand so seine Verwirklichung. Jesus, der ihn eingeladen hatte,
sich an seinen Tisch zu setzen, nahm den heiligen Anselm bei seinem Tod in das
ewige Reich des Vaters auf.
„Ich bitte, Gott, lass mich
Dich erkennen, lass mich Dich lieben, um mich an Dir zu erfreuen. Und wenn ich
(es) in diesem Leben nicht bis zur Vollendung kann, so lass mich wenigstens Tag
für Tag voranschreiten, bis es zur Vollendung kommt“ (Proslogion, Kap. 26).
Dieses Gebet lässt die mystische Seele dieses großen Heiligen aus dem
Mittelalter verstehen, des Gründers der scholastischen Theologie, dem die
christliche Überlieferung den Titel „Doctor Magnificus“ verliehen hat, da er
den innigen Wunsch verspürte, die göttlichen Geheimnisse tiefer zu ergründen,
in dem vollen Bewusstsein jedoch, dass der Weg der Gottessuche niemals zu einem
Abschluss gelangt, zumindest nicht in dieser Welt. Die Klarheit und die
logische Strenge seines Denkens hatten stets das Ziel, den „Geist zur Betrachtung
Gottes zu erheben“ (ebd. Vorwort). Deutlich erklärt er, dass jemand, der Theologie betreiben will, nicht allein auf seine
Intelligenz zählen darf, sondern sich gleichzeitig um eine tiefe
Glaubenserfahrung bemühen muss. Die Tätigkeit des Theologen entwickelt sich
nach Meinung des heiligen Anselm in drei Stadien: der Glaube, als
unentgeltliches Geschenk Gottes, das es demütig anzunehmen gilt; dann die
Erfahrung, die darin besteht, das Wort Gottes im eigenen täglichen Dasein
umzusetzen; und schließlich die wahre Erkenntnis, die niemals Frucht trockener
Denkarbeit ist, sondern Frucht kontemplativer Intuition.
Diesbezüglich bleiben auch
heute für eine gesunde theologische Forschung und für jeden, der die Wahrheit
des Glaubens tiefer ergründen möchte, seine berühmten Worte gültig: „Herr, ich
versuche nicht, in deine Höhe vorzudringen; meine Verstand kann dich ja auf
keine Weise erreichen. Ich wünsche nur, einigermaßen deine Wahrheit zu
begreifen, die mein Herz glaubt und liebt. Denn ich suche nicht zu begreifen,
um zu glauben, sondern ich glaube, um zu begreifen“ (Proslogion, 1).
Liebe Brüder und
Schwestern, die Liebe zur Wahrheit und das ständige Dürsten nach Gott, die für
das ganze Leben des heiligen Anselm kennzeichnend waren, mögen für jeden
Christen einen Anreiz darstellen, unermüdlich nach einer immer engeren
Verbindung mit Christus, dem Weg, der Wahrheit und dem Leben zu suchen. Zudem
möge der von Unerschrockenheit erfüllte Eifer, durch den sich Anselms
pastorales Handeln auszeichnete und der ihm zuweilen Unverständnis und Verdruss
und sogar das Exil eingebracht hat, die Hirten, die Ordensleute und alle
Gläubigen ermutigen, die Kirche Christi zu lieben, für sie zu beten, sich für
sie einzusetzen, für sie zu leiden und sie niemals zu verlassen oder zu verraten.
Möge die jungfräuliche Gottesmutter, die der heilige Anselm auf zärtliche und
kindhafte Weise verehrte, uns diese Gnade erwirken. „Maria, dich will mein Herz
lieben – schreibt der heilige Anselm – mein Mund verlangt glühend danach, dich
zu loben“.