Papst Benedikt XVI.
Generalaudienz am 6.10.10
Gertrud die Große
Liebe Brüder und
Schwestern!
In Helfta tauscht sie sich sozusagen systematisch mit ihrer Lehrerin
Mechthild von Hackeborn aus, über die ich während der Audienz am vergangenen
Mittwoch gesprochen habe; sie tritt mit Mechthild von Magdeburg in Verbindung,
einer weiteren Mystikerin aus dem Mittelalter; sie wächst auf unter der
mütterlichen, liebevollen und festen Obhut der Äbtissin Gertrud. Von diesen
drei Mitschwestern empfängt sie Schätze der Erfahrung und der Weisheit; sie
verarbeitet sie zu einer eigenen Synthese, während sie ihren Weg des Glaubens
mit unendlichem Vertrauen auf den Herrn verfolgt. Sie bringt nicht nur mit
einer ganz persönlichen Note und großem kommunikativem Geschick den Reichtum
der Spiritualität ihrer klösterlichen Welt, sondern auch und vor allem der
biblischen, liturgischen, patristischen und benediktinischen Welt zum Ausdruck.
Sie wird am 6. Januar 1256 geboren, dem Fest der Erscheinung des Herrn, doch
weder über ihre Eltern, noch über ihren Geburtsort ist etwas bekannt. Gertrud
schreibt, dass der Herr selbst ihr den Sinn dieser ihrer ersten Entwurzelung
offenbart: „Ich habe sie zu meiner Wohnstatt erwählt, weil es mir gefällt, dass
alles Liebenswerte in ihr mein Werk ist [...]. Gerade deswegen habe ich sie von
allen ihren Verwandten ferngehalten: damit niemand sie aus verwandtschaftlichen
Gründen liebe und ich der einzige Grund der Liebe bin, die man ihr
entgegenbringt“ (Offenbarungen I, 16).
1261 tritt sie im Alter von fünf Jahren ins Kloster ein – wie es
zu jener Zeit oftmals üblich war –, um dort erzogen und unterrichtet zu werden.
Hier verbringt sie ihr ganzes Leben, dessen wichtigste Abschnitte sie selbst
darstellt. In ihren Erinnerungen berichtet sie, dass der Herr sie mit
nachsichtiger Geduld und unendlicher Barmherzigkeit beschützt hat, die Jahre
ihrer Kindheit und Jugend vergessend, die sie, wie sie schreibt „in solch
geistiger Blindheit“ verbrachte, „dass ich wenn möglich ohne irgendwelche
Bedenken alles hätte denken, sagen oder tun können, was mir gefiel, wenn du
mich nicht bewahrt hättest – sowohl mit einer angeborenen Abscheu vor dem Bösen
und einer natürlichen Neigung zum Guten, als auch von außen, durch die
Wachsamkeit der Anderen. Ich hätte mich wie eine Heidin verhalten [...] und
das, obwohl du gewollt hattest, dass ich von Kindheit, also von meinem fünften
Lebensjahr an, im gesegneten Ort des Klosters wohnte, um inmitten deiner
ergebensten Freunde erzogen zu werden“ (ebd. II, 23).
Gertrud ist eine hervorragende Studentin, sie lernt alles, was es
über das Trivium und das Quadrivium zu lernen gibt, die zu jener Zeit den
Inhalt der Ausbildung darstellten; sie ist von der Wissenschaft fasziniert und
widmet sich mit Eifer und Ausdauer dem weltlichen Studium, wobei sie schulische
Erfolge erreicht, die alle Erwartungen übersteigen. Wenn wir auch nichts über
ihre Herkunft wissen, so sagt sie uns doch viel über ihre jugendlichen
Neigungen: Literatur, Musik und Gesang sowie die Kunst der Miniaturmalerei
nehmen sie gefangen; sie hat einen starken, entschlossenen, spontanen und
impulsiven Charakter; häufig sagt sie, sie sei nachlässig; sie erkennt ihre
Fehler und bittet demütig um Verzeihung. Demütig bittet sie um Rat und Gebete
für ihre Bekehrung. Es gibt Züge ihres Temperaments und Fehler, die sie bis zum
Schluss begleiten werden, so dass einige Menschen sich erstaunt fragen, wie es
kommt, dass der Herr sie so sehr bevorzugt. Nach ihrem Leben als Studentin
weiht sie sich ganz Gott im klösterlichen Leben, und zwanzig Jahre lang
geschieht nichts Außergewöhnliches: Studium und Gebet stellen ihre
Hauptbeschäftigung dar. Aufgrund ihrer Begabung tut sie sich unter ihren
Mitschwestern hervor; zielstrebig vertieft sie ihre Bildung in den
verschiedenen Bereichen. Doch während der Adventszeit des Jahres 1280 beginnt
alles das ihr Überdruss zu bereiten, sie entdeckt die Nutzlosigkeit dieser
Dinge, und am 27. Januar 1281, wenige Tage vor dem Fest Mariä Lichtmess, am
Abend, zur Stunde der Komplet, bringt der Herr Licht in ihre dichte Finsternis.
Voller Süße und Zärtlichkeit beruhigt er die Unruhe, die sie quält, eine
Unruhe, die Gertrud wie ein Geschenk Gottes betrachtet, „um jenen Turm der
Selbstgefälligkeit und der Neugier niederzureißen, den ich leider, obwohl ich
sowohl den Namen als auch die Tracht einer Ordensfrau trug, mit meinem Hochmut
errichtet hatte, um so wenigstens den Weg zu finden, mir dein Heil zu zeigen“
(ebd. II, 1). Sie hat die Vision eines Jungen, der sie bei der Hand nimmt und
sie aus dem Dickicht der Dornen hinausführt, das ihre Seele erstickt. In jener
Hand erkennt Gertrud „die kostbare Spur jener Wunden, die alle Anklagen unserer
Feinde aufgehoben haben“ (ebd. II, 1), erkennt sie den, der uns am Kreuz mit
seinem Blut erlöst hat: Jesus.
Von jenem Moment an führt sie ein Leben noch innigerer
Gemeinschaft mit dem Herrn, vor allem während der wichtigsten liturgischen
Zeiten – Advent und Weihnachten, Fastenzeit und Ostern, die Marienfeste – auch
wenn sie aus Krankheitsgründen verhindert ist, sich in den Chor zu begeben. Es
ist derselbe liturgische „Nährboden“ wie bei Mechthild, ihrer Lehrerin, den
Gertrud jedoch mit einfacheren und geradlinigeren, realistischeren Bildern, Symbolen
und Worten beschreibt, sowie mit direkteren Verweisen auf die Bibel, auf die
Kirchenväter und auf die Welt der Benediktiner.
Ihre Biografin gibt an, dass das, was wir ihre persönliche
„Bekehrung“ nennen könnten, in zwei Richtungen erfolgte: der radikale Wechsel
von den weltlichen humanistischen zu den theologischen Wissenschaften im
Studium sowie, was die Einhaltung der Ordensregel anbelangt, der Übergang von
einem Leben, das sie als nachlässig bezeichnet, zu einem Leben des intensiven,
mystischen Gebets, mit einem außergewöhnlichen missionarischen Eifer. Der Herr,
der sie früh erwählt hat und sie von klein an am Festmahl des Klosterlebens
teilhaben lässt, ruft sie mittels seiner Gnade „von den äußeren Dingen des
Lebens zum inneren Leben und von der Beschäftigung mit weltlichen Dingen zur
Liebe der geistlichen Dinge“ zurück. Gertrud versteht, dass sie sich von Ihm
entfernt hatte, in die „Region der Unähnlichkeit“, wie sie es mit Worten des
heiligen Augustinus ausdrückt; dass sie sich mit zu großer Begier den Artes
liberales, der menschlichen Weisheit gewidmet hatte, dass sie das geistliche
Wissen vernachlässigt und sich um den Genuss der wahren Weisheit gebracht
hatte; nun wird sie zum Berg der Betrachtung geleitet, wo sie den alten
Menschen ablegt, um sich mit dem neuen zu bekleiden. „Von einer
Sprachforscherin wird sie zu einer Theologin, durch unermüdliche und
aufmerksame Lektüre aller religiösen Bücher, derer sie habhaft werden konnte,
füllte sie ihr Herz mit den sinnvollen und süßen Weisheiten der Bibel. Sie
hatte daher stets ein angemessenes und erbauliches Wort parat, mit dem sie
diejenigen zufrieden stellen konnte, die zu ihr kamen, um ihren Rat zu suchen,
sowie gleichzeitig die passenden Texte, um jede irrige Meinung zu widerlegen
und ihre Gegnern zum Schweigen zu bringen“ (ebd. I, 1). Gertrud verwandelt
alles dies in Apostolat: sie widmet sich der Aufgabe, die Wahrheit des Glaubens
klar und verständlich, gefällig und überzeugend aufzuschreiben und zu
verbreiten und dient voller Liebe und Treue der Kirche, so dass sie den
Theologen und den Gläubigen gefällt und von Nutzen ist. Von dieser ihrer
intensiven Tätigkeit ist uns wenig überliefert, auch aufgrund der Umstände, die
zur Zerstörung von Kloster Helfta führten. Neben dem „Gesandten der göttlichen
Liebe“ und den „Offenbarungen“ bleiben uns die „Geistlichen Übungen“, ein
seltenes Juwel der mystischen geistlichen Literatur. Was die religiöse
Observanz betrifft ist unsere Heilige „eine feste Säule [...], eine
entschlossene Verfechterin der Gerechtigkeit und der Wahrheit“ (ebd. I, 1),
sagt ihre Biografin. Mit ihrem Wort und ihrem Beispiel ruft sie in den Anderen
großen Eifer hervor. Den Gebeten und Bußübungen des Klosterlebens fügt sie
weitere hinzu, mit solcher Hingabe und solchem Gottvertrauen, dass sie in
allen, denen sie begegnet, das Bewusstsein schafft, in der Gegenwart des Herrn
zu sein.
Und tatsächlich gibt Gott selbst ihr zu verstehen, dass er sie
berufen hat, Werkzeug seiner Gnade zu sein. Gertrud empfindet sich dieses
immensen göttlichen Schatzes als unwürdig, sie bekennt, ihn nicht recht bewahrt
und genutzt zu haben. Sie ruft aus: „O weh! Wenn du mir, unwürdig wie ich bin,
auch nur einen einzigen Strohhalm zu deinem Gedächtnis gegeben hättest, so
hätte ich ihn doch mit größerem Respekt und größerer Ehrerbietung betrachten
müssen, als ich diesen deinen Gaben entgegengebracht habe!“ (ebd. II, 5).
Doch indem sie ihre Armseligkeit und ihre Unwürdigkeit erkennt,
willigt sie in Gottes Willen ein, „denn – so erklärt sie – ich habe so wenig
Nutzen aus deiner Gnade gezogen, dass ich kaum glauben mag, dass sie für mich
allein gespendet worden ist. Andererseits kann deine ewige Weisheit von
niemandem vereitelt werden. Mach also, o Spender alles Guten, der du mir
grundlos solch unverdiente Gaben geschenkt hast, dass beim Lesen dieser Schrift
das Herz wenigstens eines deiner Freunde durch den Gedanken bewegt werden möge,
dass das eifrige Bemühen der Seelen dich dazu geführt hat, für so lange Zeit
einen Edelstein von so unschätzbarem Wert mitten im abscheulichen Morast meines
Herzens zu lassen“ (ebd. II, 5).
Vor allem zwei Gnadenerweise liegen ihr mehr am Herzen als andere,
wie Gertrud selbst schreibt: „Die Male deiner heilbringenden Wunden, die du mir
als kostbaren Schmuck ins Herz eingeprägt hast sowie die tiefe und heilsame
Wunde der Liebe, mit der du es gezeichnet hast. Du hast mich durch diese deine
Gaben mit solcher Seligkeit überhäuft, dass, selbst wenn ich tausend Jahre ohne
inneren oder äußeren Trost leben müsste, die Erinnerung an sie ausreichen würde,
um mich zu trösten, zu erleuchten und mit Dankbarkeit zu erfüllen. Du wolltest
mich weiter in die unermessliche Vertrautheit deiner Freundschaft einführen,
indem du mir auf verschiedene Weise jenes erhabenste Heiligtum deiner Gottheit
geöffnet hast: dein göttliches Herz [...]. Dieser Fülle von Wohltaten hast du
noch jene hinzugefügt, mir die allerseligste Jungfrau Maria, deine Mutter, als
Fürsprecherin zur Seite zu stellen, und mich ihrer Zuneigung häufig anempfohlen
zu haben, wie der treueste Bräutigam seiner Mutter die geliebte Braut
anempfehlen würde“ (ebd. II, 23). Ausgerichtet auf die ewig währende
Gemeinschaft, beschließt sie ihr irdisches Leben am 17. November 1301 oder 1302
im Alter von etwa 46 Jahren. In der siebten geistlichen Übung, die auf den Tod
vorbereitet, schreibt die heilige Gertrud: „O Jesus, der du mir so unendlich
lieb bist, sei immer bei mir, damit mein Herz bei dir bleibt und deine Liebe
bei mir bleibt und wir nicht getrennt werden können, und mein Übergang in das
andere Leben sei von dir gesegnet, so dass mein Geist, gelöst von den Banden
des Fleisches, sogleich in dir Ruhe finden kann. Amen“ (Geistliche Übungen).
Mir scheint es eindeutig, dass dies nicht nur etwas Vergangenes,
Historisches ist; das Leben der heiligen Gertrud bleibt vielmehr eine Schule
des christlichen Lebens, des rechten Weges, und zeigt uns, dass im Zentrum
eines glücklichen Lebens, eines wahren Lebens, die Freundschaft mit Jesus, dem
Herrn steht. Und diese Freundschaft lernt man in der Liebe zur Heiligen Schrift,
in der Liebe zur Liturgie, im tiefen Glauben und in der Liebe zu Maria, so dass
man immer besser Gott selbst und so das wahre Glück, das Ziel unseres Lebens
kennen lernen kann. Danke.