Papst Benedikt XVI.
Generalaudienz am 11.2.9
Johannes Climacus
Liebe Brüder und Schwestern!
Johannes lebte in den
Bergen des Sinai, wo Moses Gott begegnet war und Elias Gottes Stimme gehört
hatte, und berichtete dort über seine geistlichen Erfahrungen. Aussagen über
ihn sind in einer kurzen „Vita“ (PG 88, 596–608) überliefert, die der Mönch
Daniel von Raithu verfasst hat: Mit sechzehn Jahren wurde Johannes Mönch auf
dem Berg Sinai und Schüler des Abts Martyrius, eines „Ältesten“, das heißt
eines „Weisen“. Im Alter von etwa zwanzig Jahren beschloss er, in Thola, das
acht Kilometer vom derzeitigen Katharinenkloster entfernt liegt, als Eremit in
einer Höhle zu Füßen des Berges zu leben. Doch die Einsamkeit hielt ihn weder
davon ab, Menschen zu begegnen, die nach geistlicher Anleitung verlangten, noch
einige Klöster in der Nähe von Alexandria zu besuchen. Sein Rückzug in das
Einsiedlerleben war also keinesfalls eine Flucht aus der Welt und aus der
menschlichen Realität, sondern mündete vielmehr in eine glühende Liebe zu Gott
(Vita 7) und zu den Mitmenschen (Vita 5) ein. Nachdem er vierzig Jahre lang als
Eremit in der Gottes- und Nächstenliebe gelebt hatte, Jahre, während derer er
weinte, betete und gegen den Teufel kämpfte, wurde er zum Hegumenos [Vorsteher]
des großen Klosters am Berg Sinai ernannt und kehrte so zum Klosterleben
zurück. Doch einige Jahre vor seinem Tod sehnte er sich nach dem Eremitenleben
zurück und übergab seinem Bruder, der im selben Kloster als Mönch lebte, die
Leitung der Gemeinschaft. Er verschied nach dem Jahr 650. Das Leben des Johannes
spielte sich zwischen zwei Bergen ab, dem Sinai und dem Tabor, und man kann
wirklich sagen, dass von ihm das Licht ausgestrahlt ist, das von Moses auf dem
Sinai gesehen und von den drei Aposteln auf dem Tabor betrachtet worden war!
Wie ich bereits gesagt
habe, wurde er durch das Werk „Die Leiter“ („klimax“) bekannt, das im Westen
„Himmelsleiter“ (PG 88, 632–1164) heißt. Das Werk, das auf die eindringliche
Bitte des Hegumenos des benachbarten Klosters von Raitho in der Nähe des Sinai
verfasst wurde, ist eine vollständige Abhandlung über das spirituelle Leben, in
dem Johannes den Weg des Mönchs vom Verzicht auf die Welt bis zur
Vollkommenheit in der Liebe beschreibt. Es handelt sich um einen Weg, der sich
– diesem Buch zufolge – über dreißig Stufen entwickelt, von denen jede mit der
folgenden verbunden ist. Der Weg kann in drei aufeinanderfolgende Abschnitte
zusammengefasst werden: Der erste äußert sich im Bruch mit der Welt, um wieder
zum Zustand der evangelischen Kindschaft zurückzukehren. Das Wesentliche ist
also nicht der Bruch, sondern die Verbindung mit dem, was Jesus gesagt hat,
nämlich zur wahren Kindschaft im spirituellen Sinne zurückzukehren und wieder
wie die Kinder zu werden. Johannes kommentiert: „Ein gutes Fundament besteht
aus drei Grundlagen und aus drei Säulen: Unschuld, Fasten und Keuschheit. Alle
Kinder in Christus (vgl. 1 Kor 3, 1) müssen mit diesen Dingen beginnen und sich
ein Beispiel an den leiblich Neugeborenen nehmen“ (1, 20; 636). Die freiwillige
Loslösung von lieb gewonnenen Menschen und Orten erlaubt der Seele, in eine
tiefere Gemeinschaft mit Gott einzutreten. Dieser Verzicht mündet in den
Gehorsam, der durch die Erniedrigungen seitens der Brüder – an denen es niemals
fehlt – ein Weg zur Demut ist. Johannes kommentiert: „Selig ist derjenige, der
seinen eigenen Willen ganz und gar abgetötet und die Sorge um seine Person
seinem Lehrmeister im Herrn anvertraut hat: er wird zur Rechten des
Gekreuzigten stehen!“ (4, 37; 704).
Der zweite Abschnitt des
Weges besteht aus dem geistlichen Kampf gegen die Leidenschaften. Jede Sprosse
der Leiter ist mit einer der Hauptleidenschaften verbunden, die erklärt und
diagnostiziert werden; dann wird eine Therapie angegeben und die entsprechende
Tugend angeführt. Die Gesamtheit dieser Stufen stellt zweifellos die wichtigste
Abhandlung über eine spirituelle Strategie dar, die wir besitzen. Der Kampf
gegen die Leidenschaften ist jedoch durch das Bild vom„Feuer“ des Heiligen
Geistes nichts Negatives, sondern nimmt einen positiven Charakter an: „Alle,
die diesen guten Kampf kämpfen (vgl.1 Tim 6, 12), der hart und schwierig ist,
[...], sollen wissen, dass sie sich anschicken, sich in ein Feuer zu stürzen,
wenn sie wirklich danach verlangen, dass das geistige Feuer in ihnen wohnt“ (1,
18; 636), das Feuer des Heiligen Geistes, das das Feuer der Liebe und der
Wahrheit ist. Nur die Kraft des Heiligen Geistes gewährleistet den Sieg. Doch
nach Johannes Climacus ist es wichtig, sich bewusst zu werden, dass die
Leidenschaften nicht in sich schlecht sind; sie werden es durch den schlechten
Gebrauch, den die Freiheit des Menschen von ihnen macht. Wenn die
Leidenschaften geläutert sind, öffnen sie dem Menschen mit den vereinigten
Kräften der Askese und der Gnade den Weg zu Gott und „wenn sie vom Schöpfer
eine Ordnung und einen Anfang empfangen haben... ist die Tugend grenzenlos“
(26/2, 37; 1068).
Der letzte Abschnitt des
Weges ist die christliche Vollkommenheit, die sich auf den letzten sieben
Sprossen der „Leiter“ entfaltet. Es handelt sich um die höchsten Stufen des
geistlichen Lebens, die von den „Hesychasten“, den in sich Ruhenden, erfahren
wird, von denjenigen, die zur Ruhe und zum inneren Frieden gelangt sind; diese
Stufen sind jedoch auch den besonders eifrigen Mönchen zugänglich. Von den
ersten dreien – Einfachheit, Demut und Unterscheidungsvermögen – hält Johannes
gemeinsam mit den Wüstenvätern die letzte für die wichtigste, also die
Fähigkeit, zu unterscheiden. Jedes Verhalten muss dem Unterscheidungsvermögen
unterzogen werden; tatsächlich hängt alles von den tiefen Beweggründen ab, die
geprüft werden müssen. Hier dringt man mitten in die Person ein und es geht
darum, im Einsiedler, im Christen, die geistliche Empfindsamkeit und das
„Gespür des Herzens“, Geschenke Gottes, wachzurufen: „Nach Gott müssen wir
unserem Gewissen als Führer und Regel in allem folgen“ (26/1, 5; 1013). Auf
diese Weise erlangt man den Seelenfrieden, die „Hesychia“, dank dessen die
Seele sich dem Abgrund der göttlichen Geheimnisse nähern kann.
Der Zustand der Ruhe, des
inneren Friedens, bereitet den Hesychasten auf das Gebet vor, das bei Johannes
ein zweifaches ist: das „körperliche Gebet“ und das „Herzensgebet“. Ersteres
ist typisch für diejenigen, die der Unterstützung durch die Körperhaltung
bedürfen: die Hände ausstrecken, Seufzer ausstoßen, sich an die Brust schlagen,
etc. (15, 26, 900); zweiteres geschieht spontan, da es die Folge der erwachten
geistlichen Empfindsamkeit ist, ein Geschenk Gottes an diejenigen, die sich dem
körperlichen Gebet weihen. Bei Johannes erhält dies die Bezeichnung „das
Jesusgebet“ (Iesou euché), und besteht allein in der Anrufung des Namens Jesu,
einer Anrufung, die so beständig ist wie das Atmen: „Die Erinnerung an Jesus
soll eins werden mit deinem Atem, dann wirst du den Nutzen der „Hesychia“, des
inneren Friedens erfahren“ (27/2, 26; 1112). Am Ende wird das Gebet ganz
einfach: das Wort, „Jesus“ ist einfach mit unserem Atem eins geworden.
Die letzte Sprosse der
Leiter (30), die mit der „nüchternen Trunkenheit des Geistes“ übergossen ist,
ist der höchsten „Dreiheit der Tugenden“ gewidmet: dem Glauben, der Hoffnung
und vor allem der Liebe. Johannes bezeichnet die Liebe auch als „éros“
(menschliche Liebe), als Gestalt der ehelichen Vereinigung der Seele mit Gott.
Und er wählt nochmals das Bild des Feuers, um die Glut, das Licht, die
Läuterung der Liebe zu Gott darzustellen. Die Kraft der menschlichen Liebe kann
auf Gott gerichtet werden, wie dem wilden Ölbaum ein Zweig aus dem edlen Ölbaum
eingepfropft werden kann (vgl. Röm 11, 24) (15, 66; 893). Johannes ist
überzeugt, dass eine intensive Erfahrung dieses „éros“ die Seele sehr viel
weiter voranbringen kann, als der harte Kampf gegen die Leidenschaften, da er
große Macht hat. Auf unserem Weg herrscht also der positive Charakter vor. Doch
die Liebe wird auch in einer engen Beziehung zur Hoffnung gesehen: „Die Kraft
der Liebe ist die Hoffnung: dank ihrer erwarten wir die Belohnung der Liebe...
Die Hoffnung ist die Pforte zur Liebe ... Das Fehlen der Hoffnung vernichtet
die Liebe: mit ihr ist unsere Mühsal verbunden, von ihr werden unsere
Bemühungen unterstützt und dank ihrer sind wir von der Barmherzigkeit Gottes
umgeben“ (30, 16; 1157). Das Ende der „Leiter“ enthält die Zusammenfassung des
Werks mit Worten, die der Verfasser Gott selbst aussprechen lässt: „Diese
Leiter lehrt dich die geistliche Anordnung der Tugenden. Ich stehe ganz oben
auf dieser Leiter, wie mein großer Initiierter (der heilige Paulus) gesagt hat:
„Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am größten unter
ihnen ist die Liebe (1 Kor 13, 13)!“ (30, 18; 1160).
An dieser Stelle drängt
sich eine letzte Frage auf: Kann die „Leiter“, das Werk eines Einsiedlermönchs,
der vor eintausendvierhundert Jahren gelebt hat, uns heute noch etwas sagen?
Kann der existenzielle Weg eines Menschen, der in einer so lange
zurückliegenden Zeit stets auf dem Berg Sinai gelebt hat, von irgendeiner
Aktualität für uns sein? In einem ersten Moment könnte es scheinen, dass die
Antwort „Nein“ lauten muss, dass Johannes Climacus zu weit von uns entfernt
ist. Doch wenn wir ihn ein wenig näher betrachten, sehen wir, dass dieses
Mönchsleben nur ein großes Symbol für das Leben aus der Taufe, das Leben als
Christen ist. Es zeigt sozusagen in Großbuchstaben, was wir Tag für Tag mit
kleinen Buchstaben schreiben. Es handelt sich um ein prophetisches Symbol, das
aufzeigt, was der Weg des Getauften in der Gemeinschaft mit Christus, mit
seinem Tod und seiner Auferstehung bedeutet. Für mich ist die Tatsache
besonders wichtig, dass der höchste Punkt der „Leiter“, die letzten Sprossen, gleichzeitig
die fundamentalen, die ersten, die einfachsten Tugenden sind: der Glaube, die
Hoffnung und die Liebe. Diese Tugenden sind nicht nur moralischen Helden
zugänglich, sondern sie sind ein Geschenk Gottes an alle Gläubigen: in ihnen
entfaltet sich auch unser Leben. Der Anfang ist auch das Ende, der
Ausgangspunkt ist auch das Ziel: der ganze Weg führt zu einer immer radikaleren
Verwirklichung des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. In diesen Tugenden ist
der gesamte Aufstieg enthalten. Grundlegend ist der Glauben, da diese Tugend
beinhaltet, dass ich meine Überheblichkeit, mein Denken zurückstelle; meinen
Anspruch alleine entscheiden zu können, ohne mich anderen anzuvertrauen. Dieser
Weg zur Demut, zur geistlichen Kindschaft ist notwendig: Man muss die Haltung
der Überheblichkeit überwinden, die sagen lässt: Ich weiß es in dieser meiner
Zeit des einundzwanzigsten Jahrhunderts besser als die von damals es wissen
konnten. Man muss sich hingegen nur der Heiligen Schrift anvertrauen, dem Wort
des Herrn, sich demütig dem Horizont des Glaubens nähern, um so in die
ungeheure Weite der ganzen Welt, der Welt Gottes einzutreten. In dieser Welt
entfaltet sich unsere Seele, entfaltet sich die Empfindsamkeit des Herzens hin
zu Gott. Zu Recht sagt Johannes Climacus, dass nur die Hoffnung uns befähigt,
die Liebe zu leben. Die Hoffnung, in der wir die Dinge des Alltags übersteigen;
wir erwarten keinen Erfolg in unserem irdischen Leben, sondern wir erwarten am
Ende die Offenbarung Gottes. Nur in dieser Ausweitung unserer Seele, in dieser
Selbstübersteigung, wird unser Leben groß und können wir die Mühsal und die
Enttäuschungen des Alltags ertragen, können wir gut zu den anderen sein, ohne
eine Belohnung zu erwarten. Nur wenn Gott da ist, diese große Hoffnung, auf die
ich mich ausrichte, kann ich jeden Tag die kleinen Schritte meines Lebens gehen
und so die Liebe lernen. In der Liebe verbirgt sich das Geheimnis des Gebets,
der persönlichen Kenntnis Jesu: ein einfaches Gebet, das nur darauf abzielt,
das Herz des göttlichen Meisters zu berühren. Und so öffnet sich das eigene
Herz, lernt man Seine Güte, Seine Liebe von Ihm. Bedienen wir uns also dieses
„Aufstiegs“ des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe; so werden wir zum wahren
Leben gelangen.