Papst Benedikt XVI.
Generalaudienz am 6.4.11
Theresia von Lisieux
Liebe Brüder und Schwestern!
Diese „Wissenschaft“, die
in der Liebe die ganze Wahrheit des Glaubens erstahlen sieht, bringt Theresia
vor allem in dem Bericht über ihr Leben zum Ausdruck, der ein Jahr nach ihrem
Tod unter dem Titel „Histoire d'une Âme“ (Geschichte einer Seele)
veröffentlicht wurde. Das Buch hatte sofort großen Erfolg, wurde in mehrere
Sprachen übersetzt und in der ganzen Welt verbreitet. Ich möchte Euch dazu
einladen, diesen kleinen großen Schatz neu zu entdecken, diesen leuchtenden
Kommentar des vollkommen gelebten Evangeliums! Die „Geschichte einer Seele“ ist
eine wunderbare Liebesgeschichte, die mit einer solchen Authentizität,
Schlichtheit und Frische erzählt wird, dass der Leser einfach mitgerissen wird!
Doch was ist das für eine Liebe, die das ganze Leben Theresias von der Kindheit
bis zu ihrem Tod erfüllt hat? Liebe Freunde, diese Liebe hat ein Antlitz, sie
hat einen Namen: Jesus! Die Heilige spricht beständig von Jesus. Wir wollen nun
die großen Abschnitte ihres Lebens in Gedanken an uns vorbeiziehen lassen, um
in das Zentrum ihrer Lehre einzudringen.
Theresia wird am 2. Januar
1873 in Alençon geboren, einer Stadt in der Normandie in Frankreich. Sie ist
das letzte Kind von Louis und Zélie Martin, vorbildlichen Eheleuten und Eltern,
die gemeinsam am 19. Oktober 2008 seliggesprochen wurden. Sie hatten neun
Kinder, von denen vier in jungen Jahren starben. Es verblieben die fünf
Töchter, die alle Ordensfrauen wurden. Theresia litt im Alter von vier Jahren
zutiefst unter dem Tod ihrer Mutter (Ms A, 13r). Der Vater zog dann mit seinen
Töchtern nach Lisieux, wo sich das gesamte Leben der Heiligen abspielen wird.
Später wurde Theresia, die von einer schweren nervösen Erkrankung befallen
wurde, durch göttliche Gnade geheilt, die sie selbst als das „Lächeln der
Muttergottes“ (ebd., 29v–30v) bezeichnete. Sie empfing dann die erste heilige
Kommunion – ein intensives Erlebnis – (ebd., 35 r) und stellte den
eucharistischen Jesus in den Mittelpunkt ihres Daseins.
Die „Gnade des
Weihnachtsfestes“ 1886 bezeichnet die große Wende, die sie ihre „vollständige
Bekehrung“ (ebd., 44v–45r) nennt. Sie wird vollkommen von ihrer
Überempfindlichkeit als Kind geheilt und beginnt den „Lauf eines Riesen“. Im
Alter von vierzehn Jahren nähert sich Theresia mit großem Glauben immer mehr
dem gekreuzigten Jesus und nimmt sich den offenbar hoffnungslosen Fall eines
Verbrechers zu Herzen, der zum Tode verurteilt wird und nicht bereut (ebd.,
45v–46v). „Ich wollte unter allen Umständen verhindern, dass er in die Hölle
kommt“, schreibt die Heilige, mit der Gewissheit, dass ihr Gebet ihn mit dem
erlösenden Blut Jesu in Berührung bringen würde. Es ist ihre erste und
fundamentale Erfahrung „mütterlicher Spiritualität“: „Ich hatte so großes
Vertrauen in die unendliche Barmherzigkeit Jesu“, schreibt sie. Mit der
allerseligsten Jungfrau Maria liebt, glaubt und hofft die junge Theresia mit
dem „Herzen einer Mutter“ (vgl. PR 6/10r).
Im November 1887 begibt
sich Theresia gemeinsam mit ihrem Vater und ihrer Schwester Céline auf eine
Pilgerfahrt nach Rom (ebd., 55v–67r). Den Höhepunkt bildet für sie die Audienz
von Papst Leo XIII., den sie um die Erlaubnis bittet, als gerade einmal
Fünfzehnjährige in den Karmel von Lisieux eintreten zu dürfen. Ein Jahr später
wird ihr Wunsch erfüllt: sie wird Karmelitin, „um die Seelen zu retten und für
die Priester zu beten“ (ebd., 69v). Gleichzeitig beginnt auch die schmerzhafte
und demütigende Geisteskrankheit ihres Vaters. Es ist ein großes Leiden, das
Theresia zur Betrachtung des Antlitzes Jesu in seinem Leiden führt (ebd.,
71rv). So bringt ihr Name als Ordensfrau – Schwester Theresia vom Kinde Jesu
und vom heiligen Antlitz – das Programm ihres ganzen Lebens zum Ausdruck, in
der Gemeinschaft mit den zentralen Geheimnissen der Menschwerdung und der
Erlösung.
Ihre Ordensprofess am 8.
September 1890, dem Fest Mariä Geburt, ist für sie eine wirkliche geistliche
Hochzeit in der dem Evangelium gemäßen „Kleinheit“, die durch das Symbol der
Blume charakterisiert wird: „Was für ein schönes Fest, die Geburt Mariä, um
eine Braut Jesu zu werden“ – schreibt sie – Sie war die ,kleine‘ heilige
Jungfrau an ihrem ersten Tag, die ihre ,kleine‘ Blume dem ,kleinen‘ Jesus
darbrachte“ (ebd., 77r). Ordensfrau zu sein, bedeutete für Theresia, „Braut
Jesu und Mutter der Seelen“ (vgl. Ms B, 2v) zu sein. Am selben Tag verfasst die
Heilige ein Gebet, das die gesamte Ausrichtung ihres Lebens aufzeigt: Sie
bittet Jesus um das Geschenk seiner unendlichen Liebe, sie bittet darum, die
Kleinste zu sein und vor allem bittet sie um das Heil für alle Menschen: „Dass
heute keine Seele verdammt werden möge“ (Pr 2). Von großer Bedeutung ist ihr
„Ganzopfer an die barmherzige Liebe“ am Fest der Heiligsten Dreifaltigkeit 1895
(Ms A, 83v–84r; Pr 6): ein Opfer, dass Theresia gleich mit ihren Mitschwestern
teilt, da sie bereits stellvertretende Novizenmeisterin ist.
Zehn Jahre nach der „Gnade
des Weihnachtsfestes“ kommt 1896 die „Gnade des Osterfestes“, die mit dem
Beginn ihres Leidens in tiefer Gemeinschaft mit dem Leiden Jesu den letzten
Abschnitt in Theresias Leben einleitet; es handelt sich um ein körperliches
Leiden, aufgrund der Krankheit die sie unter großen Qualen zum Tod führen wird,
doch vor allem handelt es sich um ein seelisches Leiden, aufgrund einer äußerst
schmerzhaften „Glaubensprüfung“ (Ms C, 4v–7v). Mit Maria neben dem Kreuz Jesu
lebt Theresia nun den heroischsten Glauben, wie Licht in der Finsternis, in die
ihre Seele getaucht ist. Die Karmelitin ist sich bewusst, dass sie diese große
Prüfung für das Heil aller Ungläubigen der modernen Welt lebt, die sie als
„Brüder und Schwestern“ bezeichnet. Sie erlebt also noch intensiver die
brüderliche Liebe (8r–33v): zu den Schwestern ihrer Gemeinschaft, zu ihren
beiden geistlichen Missionsbrüdern, zu den Priestern und allen Menschen, vor
allem den entferntesten. Sie wird wirklich eine „universale Schwester“! Ihre
liebenswürdige und lächelnde Nächstenliebe ist Ausdruck der tiefen Freude,
deren Geheimnis sie uns entdeckt: „Jesus, meine Freude besteht darin, Dich zu
lieben“ (P45/7). In diesem Kontext des Leidens bringt die Heilige, indem sie
die größte Liebe in den kleinsten Dingen des täglichen Lebens lebt, ihre
Berufung zur Erfüllung, die Liebe im Herzen der Kirche zu sein (vgl. Ms B, 3v).
Theresia stirbt am Abend
des 30. September 1897 mit den einfachen Worten: „Mein Gott, ich liebe Dich!“,
während sie auf das Kreuz blickt, das sie fest in ihre Hände presst. Diese
letzten Worte der Heiligen sind der Schlüssel für ihre gesamte Lehre, für ihre
Interpretation des Evangeliums. Der Akt der Liebe, der in ihrem letzten Atemzug
zum Ausdruck kommt, war wie das ständige Atmen ihrer Seele, wie das Schlagen
ihres Herzens. Die einfachen Worte „Jesus, ich liebe Dich“ stehen im
Mittelpunkt all ihrer Schriften. Der Akt der Liebe zu Jesus lässt sie in die
heiligste Dreifaltigkeit eintauchen. Sie schreibt: „Ach du weißt es, göttlicher
Jesus, ich liebe dich! Der Geist der Liebe entflammt mich mit seinem Feuer.
Indem ich dich liebe, ziehe ich den Vater an“ (P17/2).
Liebe Freunde, auch wir
sollten jeden Tag mit der heiligen Theresia vom Kinde Jesu vor dem Herrn
wiederholen, dass wir aus Liebe zu Ihm und den anderen leben wollen, dass wir
in der Schule der Heiligen lernen wollen, auf echte und vollkommene Weise zu
lieben. Theresia ist eine der „Kleinen“ des Evangeliums, die sich von Gott in
die Tiefe seines Geheimnisses führen lassen. Eine Führerin für alle, vor allem
für diejenigen, die im Gottesvolk den Dienst der Theologen versehen. Mit Demut
und Liebe, Glauben und Hoffnung dringt Theresia ständig ins Herz der Heiligen
Schrift ein, die das Geheimnis Christi enthält. Und diese Lektüre der Bibel,
die sich an der „Wissenschaft der Liebe“ nährt, steht nicht im Gegensatz zur
akademischen Wissenschaft. Die „Wissenschaft der Heiligen“, über die sie selbst
auf der letzten Seite der „Geschichte einer Seele“ spricht, ist die höchste
Wissenschaft. „Alle Heiligen haben das verstanden und auf ganz besondere Weise
vielleicht diejenigen, die das Universum mit der Verbreitung der Lehre des
Evangeliums erfüllten. Haben denn nicht der heilige Paulus, der heilige
Augustinus, der heilige Johannes vom Kreuz, der heilige Thomas von Aquin, der
heilige Franziskus, der heilige Dominikus und viele andere berühmte Freunde
Gottes aus dem Gebet diese ,göttliche Wissenschaft‘ geschöpft, die die größten
Geister fasziniert?“ (Ms C, 36r).
Untrennbar vom Evangelium
ist die Eucharistie für Theresia das Sakrament der göttlichen Liebe, die sich
in solche Tiefen herablässt, um uns bis zu Ihm zu erheben. In ihrem letzten
Brief schreibt die Heilige über ein Bild, das das Jesuskind in der
konsekrierten Hostie darstellt, diese schlichten Worte: „Ich kann keine Angst
vor einem Gott haben, der sich für mich so klein gemacht hat! (...) Ich liebe
Ihn! Denn Er ist nichts als Liebe und Barmherzigkeit!“ (LT 266).
Im Evangelium entdeckt Theresia
vor allem die Barmherzigkeit Jesu, sodass sie erklärt: „Mir hat Er seine
unendliche Barmherzigkeit geschenkt, durch sie betrachte ich die anderen
göttlichen Vollkommenheiten und bete sie an! (...) Alle erscheinen sie mir vor
Liebe strahlend, die Gerechtigkeit selbst (und vielleicht sogar noch mehr als
alle anderen) scheint mir in Liebe gekleidet zu sein“ (Ms A, 84r). So drückt
sie sich auch in den letzten Zeilen ihrer „Geschichte einer Seele“ aus: „Kaum
werfe ich einen Blick auf das heilige Evangelium, atme ich gleich den
Wohlgeruch des Lebens Jesu und weiß, wohin ich eilen muss.... Ich strebe nicht
den ersten, sondern den letzten Platz an ... Ja, ich spüre es, auch wenn ich
alle Sünden, die begangen werden können, auf dem Gewissen hätte, würde ich mit
vor Reue gebrochenem Herzen zu Jesus gehen und mich in seine Arme werfen, weil
ich weiß, wie sehr er den verlorenen Sohn liebt, der zu Ihm zurückkehrt“ (Ms C,
36v–37r). „Vertrauen und Liebe“ sind also der Schlusspunkt ihres
Lebensberichts, zwei Worte, die wie Leuchttürme ihren ganzen Weg der Heiligkeit
erleuchtet haben, um die anderen eben auf ihren „kleinen Weg des Vertrauens und
der Liebe“ der geistlichen Kindschaft führen zu können (vgl. Ms C, 2v–3r; LT
226). Vertrauen wie das eines Kindes, das sich den Händen Gottes überlässt,
untrennbar von dem starken, radikalen Bemühen der wahren Liebe, die vollkommene
Selbsthingabe – für immer – ist, wie die Heilige bei der Betrachtung Marias
sagt: „Lieben heißt alles zu verschenken, heißt sich selbst zu verschenken“
(Pourquoi je t'aime, o Marie!, P 54/22).
So zeigt Theresia uns
allen, dass das christliche Leben darin besteht, vollkommen die Gnade der Taufe
zu leben, in der völligen Selbsthingabe an die Liebe des Vaters, um wie
Christus, im Feuer des Heiligen Geistes, Seine Liebe zu allen anderen zu leben.