Papst Benedikt XVI.
Generalaudienz am 2.6.10
Thomas von Aquin (I)
Liebe Brüder und Schwestern!
Thomas wurde zwischen 1224
und 1225 im Schloss seiner angesehenen und wohlhabenden Familie in Roccasecca
bei Aquino geboren, das in der Nähe der berühmten Abtei Montecassino liegt,
wohin er dann von seinen Eltern geschickt wurde, um die Grundzüge seiner
Ausbildung zu erhalten. Einige Jahre später begab er sich in die Hauptstadt des
Königreichs Sizilien, Neapel, wo Friedrich II. eine angesehene Universität
gegründet hatte. Hier wurde ohne die andernorts geltenden Beschränkungen das
Denken des griechischen Philosophen Aristoteles gelehrt, in das der junge
Thomas eingeführt wurde und dessen große Bedeutung er sogleich erkannte. Vor
allem jedoch entwickelte sich in jenen in Neapel verbrachten Jahren seine
dominikanische Berufung. Thomas fühlte sich vom Ideal dieses Ordens angezogen,
der wenige Jahre zuvor vom heiligen Dominikus gegründet worden war. Als er
jedoch den Dominikanerhabit anlegte, widersetzte sich seine Familie dieser
Entscheidung, und er war gezwungen, das Kloster zu verlassen und einige Zeit in
der Familie zu verbringen.
1245 konnte er, nunmehr
volljährig, seinen Weg in Beantwortung des Rufes Gottes wieder aufnehmen. Er
wurde nach Paris entsandt, um unter der Anleitung eines anderen Heiligen, über
den ich kürzlich gesprochen habe, Albertus Magnus, Theologie zu studieren.
Albert und Thomas schlossen eine wahre und tiefe Freundschaft und lernten
einander zu schätzen und gern zu haben, sodass Albert wollte, dass sein Schüler
ihn auch nach Köln begleitete, wohin er von seinen Ordensoberen entsandt wurde,
um dort ein theologisches Studium zu begründen. Thomas lernte dort alle Werke von
Aristoteles und dessen arabische Kommentatoren kennen, die Albert illustrierte
und erläuterte.
In jener Zeit war die
Kultur der lateinischen Welt zutiefst von der Begegnung mit den Werken des Aristoteles
angeregt worden, die lange Zeit unbekannt geblieben waren. Es handelte sich um
Schriften über das Wesen der Erkenntnis, über die Naturwissenschaften, über die
Metaphysik, über die Seele und über die Ethik, Schriften, die reich an Inhalten
und Gedanken waren, welche gut und überzeugend schienen. Es handelte sich um
eine vollständige Vision der Welt, die ohne und vor Christus mit der reinen
Vernunft entwickelt worden war, und sie schien sich der Vernunft als „die“
Vision der Welt schlechthin aufzudrängen; es war also unglaublich faszinierend
für die jungen Leute, diese Philosophie zu entdecken und kennenzulernen. Viele
nahmen diesen enormen Schatz antiken Wissens, der anscheinend auf vorteilhafte
Weise die Kultur zu erneuern und völlig neue Horizonte zu eröffnen vermochte,
mit Begeisterung– auch mit unkritischer Begeisterung – auf. Andere hingegen
befürchteten, die heidnische Lehre des Aristoteles stehe im Widerspruch zum
christlichen Glauben und weigerten sich, sie zu studieren. Es begegneten sich zwei
Kulturen: die vorchristliche Kultur des Aristoteles mit ihrer radikalen
Rationalität und die klassische christliche Kultur. Gewisse Kreise wurden auch
durch die Art und Weise zur Ablehnung geführt, mit der dieser Philosoph durch
die arabischen Kommentatoren Avicenna und Averroes dargestellt worden war. Sie
waren es schließlich, die der lateinischen Welt die aristotelische Philosophie
vermittelt hatten. Diese Kommentatoren hatten beispielsweise gelehrt, die
Menschen verfügten nicht über eine persönliche Intelligenz, sondern es gebe
einen einzigen universalen Intellekt, eine allen gemeinsame geistliche
Substanz, die in allen als „eines“ wirke: Das bedeutet eine Entpersönlichung
des Menschen. Ein weiterer umstrittener Punkt, den die arabischen Kommentatoren
vermittelten, besagte, die Welt sei ewig wie Gott. Verständlicherweise löste
dies in der akademischen und der kirchlichen Welt endlose Diskussionen aus.
Selbst unter dem einfachen Volk verbreitete sich die aristotelische
Philosophie.
Thomas von Aquin leistete
in der Schule des Albertus Magnus eine Arbeit von grundlegender Bedeutung für
die Geschichte der Theologie und der Philosophie, ja, ich würde sagen, für die
Geschichte der Kultur: er studierte Aristoteles und seine Kommentatoren von
Grund auf und besorgte sich neue lateinische Übersetzungen der ursprünglich
griechischen Texte. So stützte er sich nicht mehr nur auf die arabischen
Kommentatoren, sondern konnte selbst die Texte lesen. Er kommentierte einen
großen Teil der aristotelischen Werke, wobei er das Wertvolle von dem
unterschied, was zweifelhaft oder ganz abzulehnen war, er wies die
Übereinstimmung mit den Gegebenheiten der christlichen Offenbarung auf und
machte in den theologischen Schriften, die er verfasste, umfangreichen und
klugen Gebrauch des aristotelischen Denkens. Letztlich zeigte Thomas von Aquin,
dass zwischen dem christlichen Glauben und der Vernunft ein natürlicher
Einklang besteht. Darin bestand die große Leistung des Thomas, dass er in jenem
Moment des Aufeinandertreffens zweier Kulturen – jenem Moment, in dem es
schien, der Glaube müsse vor der Vernunft kapitulieren – gezeigt hat, dass sie
zusammengehören, dass das, was als mit dem Glauben nicht zu vereinende Vernunft
erschien, nicht Vernunft war, und dass das, was als Glaube erschien, nicht
Glaube war, wenn er der wahren Vernünftigkeit widersprach; so hat er eine neue
Synthese geschaffen, die die Kultur der folgenden Jahrhunderte geprägt hat.
Aufgrund seiner
außerordentlichen geistigen Begabung wurde Thomas als Professor für Theologie
an den dominikanischen Lehrstuhl nach Paris berufen. Hier begann auch sein
literarisches Schaffen, das bis zu seinem Tod andauerte und das etwas
Erstaunliches hat: Kommentare zur Heiligen Schrift – da ein Theologieprofessor
vor allem die Schrift auslegte –, Kommentare zu den Schriften des Aristoteles,
gewaltige systematische Werke, unter denen die „Summa theologiae“ herausragt,
sowie Abhandlungen und Reden zu verschiedenen Themen. Bei der Abfassung seiner
Schriften standen ihm einige Sekretäre zur Seite, unter ihnen sein Mitbruder
Reginald von Piperno, der ihm treu folgte und dem er in brüderlicher und treuer
Freundschaft verbunden war, die sich durch große Offenheit und großes Vertrauen
auszeichnete. Das ist ein Merkmal der Heiligen: Sie pflegen die Freundschaft,
denn sie gehört zu den edelsten Ausdrucksformen des menschlichen Herzens und
hat etwas Göttliches in sich, wie Thomas selbst in einigen „quaestiones“ der
„Summa theologiae“ erklärt, wo er schreibt: „Die Liebe ist vor allem die
Freundschaft des Menschen mit Gott, und mit den Wesen, die Ihm gehören“ (II, q.
23, a.1).
Er blieb nicht lange und
dauerhaft in Paris. 1259 nahm er am Generalkapitel der Dominikaner in
Valenciennes teil, wo er Mitglied einer Kommission war, die das Studienprogramm
des Ordens festlegte. Von 1261 bis 1265 war Thomas dann in Orvieto. Papst Urban
IV., der ihn sehr schätzte, beauftragte ihn mit der
Abfassung der liturgischen Texte für das Fronleichnamsfest, das wir morgen
feiern und das nach dem eucharistischen Wunder von Bolsena eingeführt worden
war. Thomas hatte eine überaus eucharistische Seele. Die wunderschönen Hymnen
der kirchlichen Liturgie, die das Geheimnis der Realpräsenz von Leib und Blut
des Herrn in der Eucharistie feiern, werden seinem Glauben und seiner
theologischen Weisheit zugeschrieben. Von 1265 bis 1268 wohnte Thomas in Rom,
wo er vermutlich ein „Studium“ leitete, das heißt ein Studienhaus des Ordens,
und wo er damit begann, seine „Summa theologiae“ zu schreiben (vgl. Jean-Pierre
Torrell, Tommaso d'Aquino. L'uomo e il teologo, Casale Monf., 1994, S.
118–184).
1269 wurde er zu einer
zweiten Vorlesungsreihe nach Paris zurückberufen. Die Studenten waren – wie man
verstehen kann – über seine Stunden begeistert. Einer seiner ehemaligen Schüler
erklärte, eine so große Zahl von Studenten habe die Kurse von Thomas besucht,
dass die Hörsäle sie kaum fassen konnten, und, wie er mit einer persönlichen
Bemerkung hinzufügte, ihn zu hören, habe ihn stets „zutiefst glücklich“
gemacht. Die Interpretation des Aristoteles durch Thomas wurde nicht von allen
gutgeheißen, doch sogar seine Gegner im akademischen Bereich, wie zum Beispiel
Gottfried von Fontaines, gaben zu, dass die Lehre von Bruder Thomas anderen an
Nutzen und Bedeutung überlegen war, und denen aller anderen Gelehrten als
Korrektiv diente. Möglicherweise auch, um ihn den lebhaften Diskussionen, die
im Gange waren, zu entziehen, entsandten ihn seine Oberen nochmals nach Neapel,
um König Karl I. zur Seite zu stehen, der das Universitätsstudium neu
organisieren wollte.
Neben dem Studium und der
Lehre widmete Thomas sich auch der Predigt. Und auch das Volk hörte ihm gerne
zu. Ich würde sagen, es ist wirklich eine große Gnade, wenn Theologen mit
einfachen und von Begeisterung erfüllten Worten zu den Gläubigen sprechen
können. Der Dienst der Verkündigung verhilft andererseits den theologischen
Gelehrten zu einem gesunden seelsorglichen Realismus und bereichert ihre
Forschung durch lebendige Anreize.
Die letzten Monate im
irdischen Leben des Thomas bleiben von einer besonderen, ja ich würde sagen, geheimnisvollen Atmosphäre umhüllt. Im Dezember 1273 rief er
seinen Freund und Sekretär Reginald, um ihm die Entscheidung mitzuteilen, alle
Arbeit zu unterbrechen, weil er während der Feier der Messe infolge einer
übernatürlichen Erscheinung verstanden hatte, dass alles, was er bislang
geschrieben hatte, nur „Stroh“ sei. Es handelt sich um eine geheimnisvolle
Begebenheit, die uns nicht nur hilft, die persönliche Demut des Thomas zu
verstehen, sondern auch die Tatsache, dass alles, was wir über den Glauben zu
denken und zu sagen vermögen, wie erhaben und rein es auch sein mag, auf
unendliche Weise von der Größe und Schönheit Gottes übertroffen wird, die uns
in Fülle im Paradies offenbart werden wird. Einige Monate später – immer tiefer
in nachdenklicher Betrachtung versunken – starb Thomas auf einer Reise nach
Lyon, wohin er unterwegs war, um am von Papst Gregor X. einberufenen
Ökumenischen Konzil teilzunehmen. Er verschied in der
Zisterzienserabtei von Fossanova, nachdem er mit großer Andacht die
Sterbesakramente empfangen hatte.
Das Leben und die Lehre des
heiligen Thomas von Aquin könnten sich in einer von den Biografen übermittelten
Episode zusammenfassen lassen. Während der Heilige wie gewöhnlich am frühen
Morgen in der San Nicola-Kapelle in Neapel vor dem Gekreuzigten betete, hörte
der Sakristan der Kirche, Domenico da Caserta, folgenden Dialog. Thomas fragte
besorgt, ob das, was er über die Geheimnisse des christlichen Glaubens
geschrieben hatte, richtig sei. Und der Gekreuzigte antwortete: „Thomas, du
hast gut geschrieben über mich. Was willst du dafür?“ Und die Antwort, die
Thomas gab, ist die Antwort, die auch wir, Freunde und Jünger Jesu, Ihm immer
geben wollen: „Nur dich allein, Herr!“ (ebd. S. 320).
Textverzeichnis