Papst Benedikt XVI.
Generalaudienz am 16.6.10
Thomas von Aquin (II)
Liebe Brüder und Schwestern!
Der Hauptgrund für diese
Wertschätzung liegt nicht nur im Inhalt seiner Lehre, sondern auch in der von
ihm angewandten Methode, vor allem seiner neuen Synthese und Unterscheidung von
Philosophie und Theologie. Die Kirchenväter fanden sich mit verschiedenen
Formen der platonischen Philosophie konfrontiert, die eine vollständige Sicht
der Welt und des Lebens boten, einschließlich der Gottes- und der
Glaubensfrage. In der Auseinandersetzung mit diesen Philosophien haben sie
selbst – ausgehend vom Glauben und unter Verwendung von Elementen des
Platonismus – eine vollständige Sicht der Wirklichkeit ausgearbeitet, um auf
die wesentlichen Fragen des Menschen zu antworten. Diese Sicht, die auf der
biblischen Offenbarung gründete und mit einem im Licht des Glaubens
korrigierten Platonismus ausgearbeitet wurde, bezeichneten sie als „unsere
Philosophie“. Das Wort „Philosophie“ war also nicht der Ausdruck eines rein
rationalen Systems und als solches vom Glauben unterschieden, sondern
bezeichnete eine umfassende Sicht der Wirklichkeit, die im Licht des Glaubens
aufgestellt, aber von der Vernunft gedacht und sich von ihr zu eigen gemacht
werden konnte; eine Sicht, die zwar die Fähigkeiten der Vernunft überstieg, die
aber als solche auch zufriedenstellend für sie war. Dem heiligen Thomas
eröffnete die Begegnung mit der vorchristlichen Philosophie des Aristoteles
(gestorben um das Jahr 322 vor Christus) eine neue Perspektive. Die
aristotelische Philosophie war natürlich eine Philosophie, die ohne die
Kenntnis des Alten und Neuen Testaments ausgearbeitet worden war, eine
Erklärung der Welt ohne Offenbarung, die nur auf der Vernunft gründete. Und
diese konsequente Vernünftigkeit war überzeugend. Die alte Form „unserer
Philosophie“ der Kirchenväter funktionierte daher nicht mehr. Die Beziehung
zwischen Philosophie und Theologie, zwischen Glauben und Vernunft, musste
überdacht werden. Es gab eine vollständige und in sich selbst überzeugende
„Philosophie“, eine dem Glauben vorausgehende Vernünftigkeit, und dann die
„Theologie“, ein Denken mit dem Glauben und im Glauben.
Die drängende Frage
lautete: Sind die Welt der Vernünftigkeit, die ohne Christus gedachte
Philosophie, und die Welt des Glaubens miteinander vereinbar? Oder schließen
sie einander aus? Es fehlte nicht an Elementen, die eine Unvereinbarkeit
zwischen den beiden Welten nahelegten, doch der heilige Thomas war fest von
ihrer Vereinbarkeit überzeugt – ja, die Philosophie, die ohne die Kenntnis
Christi ausgearbeitet worden war, wartete gewissermaßen auf das Licht Jesu, um
vervollständigt zu werden. Das war die große „Überraschung“ des heiligen Thomas,
die seinen Weg als Denker bestimmt hat. Diese Unabhängigkeit von Philosophie
und Theologie und gleichzeitig ihr Aufeinanderbezogensein zu zeigen, war der
historische Auftrag dieses großen Lehrers. Und so wird begreiflich, dass Papst
Leo XIII. im neunzehnten Jahrhundert, als die Unvereinbarkeit zwischen moderner
Vernunft und Glauben laut verkündet wurde, den heiligen Thomas als Wegweiser im
Dialog von Vernunft und Glauben empfahl. In seiner theologischen Arbeit geht
der heilige Thomas von dieser Bezüglichkeit aus und konkretisiert sie. Der
Glaube festigt, ergänzt und erleuchtet den Schatz der Wahrheiten, den die
menschliche Vernunft erwirbt. Das Vertrauen, das der heilige Thomas diesen
beiden Werkzeugen der Erkenntnis – dem Glauben und der Vernunft – entgegenbringt,
kann auf die Überzeugung zurückgeführt werden, dass beide der einen Quelle
aller Wahrheiten entstammen, dem göttlichen „Logos“, der sowohl im Bereich der
Schöpfung als auch im Bereich der Erlösung wirkt.
Zusammen mit der
Vereinbarung von Glaube und Vernunft muss andererseits anerkannt werden, dass
sie sich verschiedener Erkenntnisverfahren bedienen. Die Vernunft nimmt eine
Wahrheit kraft der ihr innewohnenden mittelbaren oder
unmittelbaren Evidenz an; der Glaube hingegen nimmt eine Wahrheit aufgrund der
Autorität des Wortes Gottes an, der sich offenbart. Der heilige Thomas schreibt
am Anfang seiner „Summa theologiae“: „Es gibt zwei Arten von Wissenschaft:
einige sind auf Prinzipien zurückzuführen, die durch das natürliche Licht der
Vernunft erkannt werden, wie etwa die Arithmetik, die Geometrie und andere;
eine zweite Art ist auf Prinzipien zurückzuführen, die durch eine höhere
Wissenschaft erkannt werden: so wird etwa die Perspektive auf Prinzipien
zurückgeführt, die durch die Geometrie erkannt werden, und die Musik auf
Prinzipien, die durch die Arithmetik erkannt werden. Und auf eben diese Weise
ist die heilige Lehre (also die Theologie) eine Wissenschaft, weil sie auf
Prinzipien zurückgeführt werden kann, die durch das Licht einer höheren Wissenschaft
erkannt werden, nämlich der Wissenschaft Gottes und der Heiligen“ (I, q. 1, a.
2).
Diese Unterscheidung
gewährleistet sowohl die Eigenständigkeit der Humanwissenschaften als auch der Theologie.
Sie ist jedoch keiner Trennung gleichzusetzen, sondern impliziert eine
gegenseitige und vorteilhafte Zusammenarbeit. So schützt der Glaube die
Vernunft vor jeder Versuchung, den eigenen Fähigkeiten zu misstrauen, er regt
sie an, sich immer weiteren Horizonten zu öffnen, er hält die Suche nach den
Fundamenten in ihr lebendig, und wenn sich die Vernunft mit der übernatürlichen
Sphäre der Beziehung zwischen Gott und dem Menschen beschäftigt, bereichert er
ihre Arbeit. Dem heiligen Thomas zufolge kann etwa die menschliche Vernunft
ohne weiteres zur Behauptung der Existenz des einen Gottes gelangen, doch nur
der Glaube, der die göttliche Offenbarung annimmt, ist in der Lage, zum
Geheimnis der Liebe des einen und dreifaltigen Gottes vorzudringen.
Andererseits hilft nicht
nur der Glaube der Vernunft. Auch die Vernunft kann mit ihren Mitteln etwas
Wichtiges für den Glauben tun und ihm einen dreifachen Dienst erweisen, den der
heilige Thomas im Vorwort seines Kommentars zum Werk „De trinitate“ von Boethius
zusammenfasst: „Die Grundlagen des Glaubens aufzeigen; die Glaubenswahrheiten
durch Analogien erklären; die Einwände zurückweisen, die sich gegen den Glauben
erheben“ (q. 2, a. 2). Die gesamte Geschichte der Theologie ist im Grunde die
Ausübung dieses Bemühens des Verstandes, das die Verständlichkeit des Glaubens,
seinen Ausdruck und seine innere Harmonie, seine Vernünftigkeit und seine
Fähigkeit zeigt, das Wohl des Menschen zu fördern. Die Richtigkeit der
theologischen Argumentation und ihr wirklicher Erkenntniswert basieren auf der
Bedeutung der theologischen Sprache, die dem heiligen Thomas zufolge vor allem
eine gleichnishafte Sprache ist. Die Distanz zwischen Gott, dem Schöpfer, und
dem Dasein seiner Geschöpfe ist unendlich; die Unähnlichkeit ist immer größer
als die Ähnlichkeit (vgl. DS 806). Dennoch: In aller Unähnlichkeit zwischen dem
Schöpfer und dem Geschöpf besteht eine Analogie zwischen dem geschaffenen Sein
und dem Sein des Schöpfers, die uns ermöglicht, mit menschlichen Worten über
Gott zu sprechen.
Der heilige Thomas hat die
Analogielehre außer auf echt philosophische Gedankengänge auch auf der Tatsache
begründet, dass mit der Offenbarung Gott selbst zu uns gesprochen und uns daher
erlaubt hat, über Ihn zu sprechen. Ich halte es für wichtig, an diese Lehre zu
erinnern. Tatsächlich hilft sie uns, einige Einwände des zeitgenössischen
Atheismus zu widerlegen, der abstreitet, dass der religiösen Sprache eine
objektive Bedeutung zukommt und stattdessen behauptet, sie habe nur eine
subjektive oder einfach emotionale Bedeutung. Dieser Einwand ergibt sich
aufgrund der Tatsache, dass das positivistische Denken davon überzeugt ist,
dass der Mensch das Sein nicht erkennt, sondern nur die erfahrbaren Funktionen
der Wirklichkeit. Mit dem heiligen Thomas und der großen philosophischen
Tradition sind wir der Überzeugung, dass der Mensch in Wirklichkeit nicht nur
die Funktionen – Gegenstand der Naturwissenschaften –, sondern etwas vom Sein
selbst erkennt – zum Beispiel erkennt er die Person, das Du des Anderen, und
nicht nur den physischen und biologischen Aspekt seines Seins.
Im Licht dieser Lehre des
heiligen Thomas erklärt die Theologie, dass die religiöse Sprache, trotz aller
Begrenztheit, mit Sinn ausgestattet ist – da wir das Sein berühren –, wie ein
Pfeil, der sich auf die bezeichnete Wirklichkeit ausrichtet. Diese fundamentale
Übereinstimmung zwischen menschlicher Vernunft und christlichem Glauben wird in
einem anderen grundlegenden Prinzip des Aquinaten festgestellt: Die göttliche
Gnade hebt die menschliche Natur nicht auf, sondern setzt sie voraus und
vervollkommnet sie. So ist sie auch nach der Sünde nicht ganz und gar zerstört,
sondern verletzt und geschwächt. Die von Gott gespendete und durch das
Geheimnis des fleischgewordenen Wortes mitgeteilte Gnade ist ein vollkommen
ungeschuldetes Geschenk, durch das die Natur geheilt wird und das sie stärkt
und ihr dabei hilft, jenen Wunsch zu verfolgen, der dem Herzen jedes Mannes und
jeder Frau innewohnt: das Glück. Alle Fähigkeiten des Menschen werden durch die
göttliche Gnade geläutert, verwandelt und erhöht.
Eine wichtige Anwendung
dieser Beziehung zwischen Natur und Gnade ist in der Moraltheologie des
heiligen Thomas von Aquin zu erkennen, die von großer Aktualität ist. In den
Mittelpunkt seiner Lehre in diesem Bereich stellt er das neue Gesetz, das
Gesetz des Heiligen Geistes. Mit einem zutiefst dem Evangelium gemäßen Blick
beharrt er auf der Tatsache, dass dieses Gesetz die Gnade des Heiligen Geistes
ist, die allen geschenkt wird, die an Christus glauben. Mit dieser Gnade ist
die schriftliche und mündliche Lehre der doktrinären und moralischen Wahrheiten
verbunden, die durch die Kirche vermittelt wird. Der heilige Thomas gibt
dadurch, dass er die fundamentale Rolle hervorhebt, die das Wirken des Heiligen
Geistes, die Gnade, aus der die theologischen und moralischen Tugenden
hervorgehen, im moralischen Leben spielt, zu verstehen, dass jeder Christ die
hohen Ziele der Bergpredigt erreichen kann, wenn er in einer wirklichen
Glaubensbeziehung zu Christus lebt und sich dem Wirken seines Heiligen Geistes
öffnet. Doch – so fügt der Aquinate hinzu – „auch wenn die Gnade wirkmächtiger
ist als die Natur, ist doch die Natur wesentlicher für den Menschen“ (Summa
theologiae, Ia, q. 29, a. 3), weswegen es in der christlichen Moralperspektive
einen Platz für die Vernunft gibt, die das natürliche Sittengesetz zu
unterscheiden vermag. Die Vernunft kann es erkennen, wenn sie betrachtet, was
gut zu tun und was besser zu unterlassen ist, um jenes Glück zu erlangen, das
jedem am Herzen liegt und auch zu einer Verantwortung gegenüber den Anderen und
folglich zur Suche nach dem Allgemeinwohl zwingt. Mit anderen Worten, die
theologischen und moralischen Tugenden des Menschen sind in der menschlichen
Natur verwurzelt. Die göttliche Gnade begleitet, unterstützt und ermutigt das
ethische Bemühen, doch nach dem heiligen Thomas sind alle Menschen, Gläubige
und Nichtgläubige per se dazu aufgerufen, die Erfordernisse der menschlichen
Natur zu erkennen, die im Naturrecht zum Ausdruck kommen, und sich bei der
Abfassung positiver Gesetze – also jenen, die von den zivilen und politischen
Behörden zur Regelung des menschlichen Zusammenlebens erlassen werden – an
dieses anzulehnen.
Wenn das Naturrecht und die
Verantwortung, die es beinhaltet, negiert werden, wird dem ethischen
Relativismus auf individueller Ebene und dem Totalitarismus des Staates auf
politischer Ebene auf dramatische Weise der Weg geöffnet. Der Schutz der
universalen Menschenrechte und die Behauptung des absoluten Wertes der Würde
der Person fordern ein Fundament. Ist nicht gerade das Naturrecht, mit den
nicht verhandelbaren Werten, die es anzeigt, dieses Fundament? Der ehrwürdige
Diener Gottes Johannes Paul II. hat in seiner Enzyklika Evangelium vitae Worte
geschrieben, die weiterhin von großer Aktualität sind: „Im Hinblick auf die
Zukunft der Gesellschaft und die Entwicklung einer gesunden Demokratie ist es
daher dringend notwendig, das Vorhandensein wesentlicher, angestammter
menschlicher und sittlicher Werte wiederzuentdecken, die der Wahrheit des
menschlichen Seins selbst entspringen und die Würde der Person zum Ausdruck
bringen und schützen: Werte also, die kein Individuum, keine Mehrheit und kein
Staat je werden hervorbringen, verändern oder zerstören können, sondern die sie
nur anerkennen, achten und fördern werden müssen“ (Nr. 71).
Abschließend ist zu sagen,
dass Thomas uns eine weitreichende und von Vertrauen erfüllte Auffassung der
menschlichen Vernunft vorschlägt: Sie ist weitreichend, weil sie nicht auf den
Raum der sogenannten empirisch-wissenschaftlichen Vernunft begrenzt, sondern
für das ganze Sein offen ist und folglich auch für die fundamentalen und
unverzichtbaren Fragen des menschlichen Lebens; sie ist von Vertrauen erfüllt,
weil die menschliche Vernunft, vor allem, wenn sie die Eingebungen des
christlichen Glaubens annimmt, eine Zivilisation fördert, die die Würde der
Person, die Unantastbarkeit ihrer Rechte und die zwingende Erfordernis ihrer
Pflichten anerkennt. Es überrascht nicht, dass die Lehre über die Würde der Person,
die für die Anerkennung der Unverletzlichkeit der Menschenrechte grundlegend
ist, in Bereichen des Denkens gereift ist, die das Erbe des heiligen Thomas von
Aquin aufgenommen haben, der eine äußerst hohe Auffassung vom Menschen hatte.
Er bezeichnete ihn in seiner streng philosophischen Sprache als „das
vollkommenste, was sich in der gesamten Natur findet, nämlich als ein in einer
rationalen Natur für sich stehendes Subjekt“ (Summa theologiae, Ia, q. 29, a.
3).
Die Tiefe des Denkens des
heiligen Thomas von Aquin entspringt – das dürfen wir nie vergessen – seinem
lebendigen Glauben und seiner leidenschaftlichen Frömmigkeit, die er in
beseelten Gebeten zum Ausdruck brachte, wie dem folgenden, in dem er Gott
bittet: „Schenk mir, o Gott, Verstand, der dich erkennt, Eifer, der dich sucht,
Weisheit, die dich findet, einen Wandel, der dir gefällt, Beharrlichkeit, die
gläubig dich erwartet, Vertrauen, das am Ende dich umfängt.“