Papst Benedikt XVI.
Generalaudienz am 23.6.10
Thomas von Aquin (III)
Liebe Brüder und Schwestern!
So wollen also auch wir vom
heiligen Thomas und von seinem Hauptwerk, der „Summa theologiae“, lernen. Es
ist unvollendet geblieben und dennoch ist es ein monumentales Werk: es umfasst
512 Fragen und 2 669 Artikel. Es handelt sich um eine geschlossene
Argumentation, in der die Anwendung der menschlichen Intelligenz auf die
Geheimnisse des Glaubens klar und gründlich durchgeführt wird, indem Fragen und
Antworten miteinander verknüpft werden, in denen der heilige Thomas die Lehre
der Heiligen Schrift und der Kirchenväter, vor allem des heiligen Augustinus,
vertieft. In diesen Erwägungen, in der Auseinandersetzung mit wahren Fragen
seiner Zeit, die häufig auch unsere Fragen sind, gelangt der heilige Thomas –
wobei er sich auch der Methode und des Denkens der antiken Philosophen, vor
allem Aristoteles, bedient – zu präzisen und klaren Formulierungen der
Wahrheiten des Glaubens, wo die Wahrheit ein Geschenk des Glaubens ist, wo sie
erstrahlt und uns, unseren Überlegungen, zugänglich wird. Doch dieses Bemühen
des menschlichen Geistes – das ruft der Aquinate durch sein eigenes Leben in
Erinnerung – ist immer vom Gebet erleuchtet, vom Licht, das von Oben kommt. Nur
wer mit Gott und mit den Geheimnissen lebt, kann auch verstehen, was sie sagen.
In der „Summa“ der
Theologie geht der heilige Thomas von der Tatsache aus, dass es drei
verschiedene Arten des Seins und des Wesens Gottes gibt: Gott ist in sich
selbst, er ist der Anfang und das Ende aller Dinge, weswegen alle Geschöpfe aus
Ihm hervorgehen und von Ihm abhängen; dann ist Gott durch seine Gnade im Leben
und im Handeln des Christen, der Heiligen, gegenwärtig; schließlich ist Gott
auf ganz besondere Weise in der Person Christi gegenwärtig, hier wirklich mit
dem Menschen Jesus vereint und in den Sakramenten wirksam, die aus seinem
Erlösungswerk hervorgehen. Die Struktur dieses monumentalen Werkes (vgl.
Jean-Pierre Torrell, La „Summa“ di San Tommaso, Mailand 2003, S. 29–75), eine
Suche mit „theologischem Blick“ nach der Fülle Gottes (vgl. Summa theologiae,
Ia, q. 1, a. 7) ist daher dreiteilig und wird vom „Doctor Communis“ – dem
heiligen Thomas – mit den Worten erläutert: „Die Hauptaufgabe dieser heiligen
Lehre liegt also darin, uns Gott erkennen zu lassen, nicht nur wie er in sich
ist, sondern auch soweit er Ursprung und Ziel der Dinge und im besonderen der
vernünftigen Geschöpfe ist. Wir handeln also: 1. über Gott; 2. über die
Bewegung der vernünftigen Schöpfung zu Gott hin; 3. über Christus, der als
Mensch für uns der Weg zu Gott ist“ (ebd. I, q. 2). Es handelt sich um einen
Kreislauf: Gott in sich selbst, der aus sich selbst herausgeht und uns an der
Hand nimmt, sodass wir mit Christus zu Gott zurückkehren, mit Gott vereint sind
und Gott alles in allem sein wird.
Der erste Teil der „Summa
Theologiae“ untersucht also Gott, wie er in sich ist, das Geheimnis der
Dreifaltigkeit und das schöpferische Wirken Gottes. In diesem Teil finden wir
auch eine tiefschürfende Reflexion über die authentische Realität des Menschen,
insofern er den schöpferischen Händen Gottes als Frucht Seiner Liebe entstammt.
Einerseits sind wir ein geschaffenes Sein, abhängig, kommen wir nicht aus uns
selbst; doch andererseits verfügen wir über eine wirkliche Eigenständigkeit,
sodass wir nicht nur etwas „Scheinbares“ sind, wie einige platonische
Philosophen behaupten, sondern eine von Gott als solche gewollte Realität, die
in sich einen Wert hat.
Im zweiten Teil betrachtet
der heilige Thomas den Menschen – der von der Gnade gedrängt wird – in seinem
Streben, Gott zu erkennen und zu lieben, um in seinem Leben und in der Ewigkeit
glücklich zu sein. Als erstes zeigt der Autor die theologischen Prinzipien des
moralischen Handelns auf, indem er untersucht, wie sich in der freien
Entscheidung des Menschen, gute Taten zu vollbringen, Vernunft, Wille und
Leidenschaft ergänzen, zu denen noch die Stärke hinzukommt, die die Gnade
Gottes durch die Tugenden und die Gaben des Heiligen Geistes schenkt, sowie
auch die Hilfe, die durch das Sittengesetz geboten wird. Der Mensch ist also
ein dynamisches Wesen, das sich selbst sucht, er versucht, er selbst zu werden,
und in diesem Sinne Dinge zu vollbringen, die ihn aufbauen, die ihn wirklich
zum Menschen machen; und hier kommt das Sittengesetz ins Spiel, kommen die
Gnade und die Vernunft, der Wille und die Leidenschaften ins Spiel. Auf dieser
Grundlage umreißt der heilige Thomas die Züge des Menschen, der nach dem
Heiligen Geist lebt und auf diese Weise ein Abbild Gottes wird. Hier befasst
sich der Aquinate mit dem Studium der drei theologischen Tugenden – Glaube,
Hoffnung und Liebe –, dem die scharfsinnige Untersuchung von mehr als fünfzig
moralischen Tugenden folgt, die um die vier Kardinaltugenden gruppiert werden:
Klugheit, Gerechtigkeit, Maß und Tapferkeit. Er endet dann mit einer Überlegung
zu den verschiedenen Berufungen in der Kirche.
Im dritten Teil der „Summa“
untersucht der heilige Thomas das Geheimnis Christi – den Weg und die Wahrheit
–, durch das wir wieder mit Gott Vater vereint werden können. In diesem
Abschnitt schreibt er praktisch unübertroffene Seiten über das Geheimnis der
Menschwerdung und der Passion Jesu, denen er dann eine ausführliche Abhandlung
über die sieben Sakramente hinzufügt, da in ihnen das menschgewordene göttliche
Wort den Segen der Menschwerdung für unser Heil erweitert, für unseren
Glaubensweg zu Gott und zum ewigen Leben, gewissermaßen auf materielle Weise in
der Schöpfung präsent bleibt und uns so in unserem Innersten berührt.
Bei der Abhandlung über die
Sakramente befasst sich der heilige Thomas besonders mit dem Geheimnis der
Eucharistie, das er besonders verehrte, sodass er, den frühen Biographen
zufolge, sein Haupt an den Tabernakel zu legen pflegte, als ob er das Klopfen
des göttlichen und menschlichen Herzens Jesu hören wollte. In einem seiner
Kommentare zur Heiligen Schrift hilft uns der heilige Thomas, das
Außerordentliche des Sakraments der Eucharistie zu verstehen, wenn er schreibt:
„Da die Eucharistie das Sakrament der Passion unseres Herrn ist, birgt sie
Jesus Christus in sich, der für uns gelitten hat. Daher ist jede Wirkung der
Passion unseres Herrn auch Wirkung dieses Sakraments, da es nichts anderes ist,
als die Anwendung der Passion des Herrn in uns“ (In Ioannem, c.6, lect. 6, n.
963). Hier können wir gut verstehen, warum der heilige Thomas und andere
Heilige bei der Feier der Heiligen Messe Tränen des Mitleids für den Herrn
vergossen haben, der sich uns als Opfer anbietet, Tränen der Freude und der
Dankbarkeit.
Liebe Brüder und
Schwestern, lernen wir von den Heiligen und verlieben wir uns in dieses
Sakrament! Nehmen wir andächtig an der heiligen Messe teil, um die geistlichen Früchte
zu empfangen, stärken wir uns am Leib und am Blut des Herrn, um stets von der
göttlichen Gnade gestärkt zu werden! Verweilen wir gerne und häufig, von
Angesicht zu Angesicht, in Gesellschaft des allerheiligsten Sakraments!
Was der heilige Thomas in
seinen wichtigsten theologischen Werken, wie eben der „Summa theologiae“ oder
auch der „Summa contra Gentiles“ mit wissenschaftlicher Genauigkeit illustriert
hat, das hat er auch in seiner an die Studenten und an die Gläubigen gerichtete
Verkündigung dargelegt. 1273, ein Jahr vor seinem Tod, hat er während der
ganzen Fastenzeit in der Kirche San Domenico Maggiore in Neapel gepredigt. Der
Inhalt dieser Predigten ist gesammelt und aufbewahrt worden: Es handelt sich um
die „Opuscoli“, in denen er das Apostolische Glaubensbekenntnis erklärt, das
Gebet des Vaterunsers auslegt, den Dekalog erläutert und das Ave Maria
kommentiert. Der Inhalt der Predigten des „Doctor Angelicus“ entspricht fast
vollständig der Struktur des Katechismus der Katholischen Kirche. Tatsächlich
sollten in einer Zeit wie der unseren, einer Zeit des erneuerten Einsatzes für
die Evangelisierung, in der Katechese und in den Predigten niemals diese
grundsätzlichen Themen fehlen: was wir glauben, also das Glaubensbekenntnis;
was wir beten, also das Vaterunser und das Ave Maria; und wie wir nach der
Lehre der biblischen Offenbarung leben, also das Gesetz der Gottes- und der
Nächstenliebe und die Zehn Gebote als Entfaltung dieses Liebesgebots.
Ich möchte einige einfache,
wesentliche und überzeugende Beispiele aus dem Inhalt der Lehre des heiligen
Thomas darlegen. In seiner Abhandlung über das Apostolische Glaubensbekenntnis
erklärt er die Bedeutung des Glaubens. Durch ihn, so sagt er, vereint sich die
Seele mit Gott und entsteht so etwas wie ein Keim ewigen Lebens; das Leben
erhält eine sichere Orientierung und wir überwinden mühelos die Versuchungen.
Wer einwendet, der Glaube sei töricht, weil er an etwas glauben lässt, das
sinnlich nicht erfahren werden kann, dem gibt der heilige Thomas eine ganz klare
Antwort und erklärt, dass dieser Zweifel haltlos sei, da die menschliche
Intelligenz begrenzt ist und nicht alles erkennen kann. Nur wenn wir alle
sichtbaren und unsichtbaren Dinge ganz genau erkennen könnten, wäre es wirklich
töricht, Wahrheiten aus reinem Glauben anzunehmen. Im übrigen ist es unmöglich
zu leben, so der heilige Thomas, ohne auf die Erfahrung anderer zu vertrauen,
wo die persönliche Erkenntnis nicht hingelangt. Es ist also vernünftig, Gott,
der sich offenbart, und dem Zeugnis der Apostel Glauben zu schenken; es waren
wenige, einfache und arme Menschen, gebrochen aufgrund der Kreuzigung ihres
Meisters; und doch haben sich viele kluge, hochstehende und reiche Menschen in
kurzer Zeit auf das Hören ihrer Verkündigung hin bekehrt. Es handelt sich
tatsächlich um ein wundersames historisches Phänomen, auf das man nur schwer
eine andere vernünftige Antwort geben kann, als die Begegnung der Apostel mit
dem auferstandenen Herrn.
Bei der Kommentierung des
Absatzes aus dem Glaubensbekenntnis über die Fleischwerdung des göttlichen
Wortes, stellt der heilige Thomas einige Betrachtungen an. Er erklärt, dass der
christliche Glaube, wenn man das Geheimnis der Fleischwerdung betrachtet,
gestärkt wird; die Hoffnung erhebt sich mit größeren Vertrauen bei dem
Gedanken, dass der Sohn Gottes als einer von uns zu uns gekommen ist, um den
Menschen seine Gottheit mitzuteilen; die Liebe wird gestärkt, weil es kein
deutlicheres Zeichen der Liebe Gottes zu uns gibt, als zu sehen, dass sich der
Schöpfer des Universums selbst zu einem Geschöpf, zu einem von uns macht.
Schließlich fühlen wir, wie angesichts des Geheimnisses der Fleischwerdung
Gottes der Wunsch in uns entflammt, zu Christus in seiner Herrlichkeit zu
gelangen. Mit Hilfe eines einfachen und wirksamen Vergleichs sagt der heilige
Thomas: „Wenn der Bruder eines Königs in der Ferne wäre, würde er sich danach
sehnen, bei ihm zu sein. Für uns ist Christus der Bruder. Wir müssen also seine
Nähe wünschen, danach streben, ein Herz und eine Seele mit ihm zu werden“ (Opuscoli
teologico-spirituali, Roma 1976, S. 64).
Beim Gebet des Vaterunser
zeigt der heilige Thomas, dass es in sich vollkommen ist, da es über alle fünf
Eigenschaften verfügt, die ein gutes Gebet besitzen sollte: vertrauensvolle und
ruhige Hingabe; die Angemessenheit seines Inhalts, denn – so der heilige Thomas
– „es ist ziemlich schwer, genau zu wissen, was man erbitten darf und was
nicht, da wir uns angesichts der Vielzahl der Wünsche Schwierigkeiten
gegenübersehen“ (ebd. S. 120); sowie dann die treffende Ordnung der Bitten,
glühende Liebe und aufrichtige Demut.
Der heilige Thomas hat wie
alle Heiligen die Muttergottes stark verehrt. Er hat sie mit einem wunderbaren
Ausdruck bezeichnet: „Triclinium totius Trinitatis“, Triclinium, also der Ort,
an dem die Dreifaltigkeit Ruhe findet, weil aufgrund der Menschwerdung die drei
göttlichen Personen keinem Geschöpf so wie ihr innewohnen, und Wohlgefallen und
Freude verspüren, in ihrer Seele voll der Gnade zu leben. Auf ihre Fürsprache
hin können wir jede Hilfe erlangen.
Mit einem Gebet, das der
Überlieferung nach dem heiligen Thomas zugeschrieben wird, und das in jedem
Fall die Züge seiner tiefen Marienfrömmigkeit wiederspiegelt, sagen auch wir:
„O seligste und süßeste Jungfrau Maria, Mutter Gottes ... deinem barmherzigen
Herzen vertraue ich mein ganzes Leben an ... Erwirke für mich, o meine süßeste
Jungfrau, wahre Liebe, mit der ich von ganzem Herzen deinen allerheiligsten
Sohn lieben kann, und dich – nach ihm – über allen Dingen und den Nächsten in
Gott und für Gott.“