Papst Benedikt XVI. Generalaudienz am 23.6.10

Thomas von Aquin (III)

Liebe Brüder und Schwestern!

Heute möchte ich mit einem dritten Teil meine Katechese über den heiligen Thomas von Aquin vervollständigen. Auch mehr als siebenhundert Jahre nach seinem Tod können wir noch viel von ihm lernen. Das hat auch mein Vorgänger, Papst Paul VI., in Erinnerung gerufen, der sich in einer Ansprache, die er am 14. September 1974 aus Anlass des siebenhundertsten Todestages des heiligen Thomas in Fossanova gehalten hat, fragte: „Meister Thomas, welche Lehre kannst du uns erteilen?“ Und der folgendermaßen antwortete: „Das Vertrauen in die Wahrheit des katholischen religiösen Denkens, das von ihm verteidigt, erklärt und für die Erkenntnisfähigkeit des menschlichen Geistes geöffnet wurde“ (Insegnamenti di Paolo VI, XII [1974], S. 833–834). Am selben Tag hat er in Aquino mit Bezug auf den heiligen Thomas gesagt: „Als treue Kinder der Kirche können und müssen wir alle, wenigstens in einem gewissen Maße, seine Schüler sein!“ (ebd. S. 836).

So wollen also auch wir vom heiligen Thomas und von seinem Hauptwerk, der „Summa theologiae“, lernen. Es ist unvollendet geblieben und dennoch ist es ein monumentales Werk: es umfasst 512 Fragen und 2 669 Artikel. Es handelt sich um eine geschlossene Argumentation, in der die Anwendung der menschlichen Intelligenz auf die Geheimnisse des Glaubens klar und gründlich durchgeführt wird, indem Fragen und Antworten miteinander verknüpft werden, in denen der heilige Thomas die Lehre der Heiligen Schrift und der Kirchenväter, vor allem des heiligen Augustinus, vertieft. In diesen Erwägungen, in der Auseinandersetzung mit wahren Fragen seiner Zeit, die häufig auch unsere Fragen sind, gelangt der heilige Thomas – wobei er sich auch der Methode und des Denkens der antiken Philosophen, vor allem Aristoteles, bedient – zu präzisen und klaren Formulierungen der Wahrheiten des Glaubens, wo die Wahrheit ein Geschenk des Glaubens ist, wo sie erstrahlt und uns, unseren Überlegungen, zugänglich wird. Doch dieses Bemühen des menschlichen Geistes – das ruft der Aquinate durch sein eigenes Leben in Erinnerung – ist immer vom Gebet erleuchtet, vom Licht, das von Oben kommt. Nur wer mit Gott und mit den Geheimnissen lebt, kann auch verstehen, was sie sagen.

In der „Summa“ der Theologie geht der heilige Thomas von der Tatsache aus, dass es drei verschiedene Arten des Seins und des Wesens Gottes gibt: Gott ist in sich selbst, er ist der Anfang und das Ende aller Dinge, weswegen alle Geschöpfe aus Ihm hervorgehen und von Ihm abhängen; dann ist Gott durch seine Gnade im Leben und im Handeln des Christen, der Heiligen, gegenwärtig; schließlich ist Gott auf ganz besondere Weise in der Person Christi gegenwärtig, hier wirklich mit dem Menschen Jesus vereint und in den Sakramenten wirksam, die aus seinem Erlösungswerk hervorgehen. Die Struktur dieses monumentalen Werkes (vgl. Jean-Pierre Torrell, La „Summa“ di San Tommaso, Mailand 2003, S. 29–75), eine Suche mit „theologischem Blick“ nach der Fülle Gottes (vgl. Summa theologiae, Ia, q. 1, a. 7) ist daher dreiteilig und wird vom „Doctor Communis“ – dem heiligen Thomas – mit den Worten erläutert: „Die Hauptaufgabe dieser heiligen Lehre liegt also darin, uns Gott erkennen zu lassen, nicht nur wie er in sich ist, sondern auch soweit er Ursprung und Ziel der Dinge und im besonderen der vernünftigen Geschöpfe ist. Wir handeln also: 1. über Gott; 2. über die Bewegung der vernünftigen Schöpfung zu Gott hin; 3. über Christus, der als Mensch für uns der Weg zu Gott ist“ (ebd. I, q. 2). Es handelt sich um einen Kreislauf: Gott in sich selbst, der aus sich selbst herausgeht und uns an der Hand nimmt, sodass wir mit Christus zu Gott zurückkehren, mit Gott vereint sind und Gott alles in allem sein wird.

Der erste Teil der „Summa Theologiae“ untersucht also Gott, wie er in sich ist, das Geheimnis der Dreifaltigkeit und das schöpferische Wirken Gottes. In diesem Teil finden wir auch eine tiefschürfende Reflexion über die authentische Realität des Menschen, insofern er den schöpferischen Händen Gottes als Frucht Seiner Liebe entstammt. Einerseits sind wir ein geschaffenes Sein, abhängig, kommen wir nicht aus uns selbst; doch andererseits verfügen wir über eine wirkliche Eigenständigkeit, sodass wir nicht nur etwas „Scheinbares“ sind, wie einige platonische Philosophen behaupten, sondern eine von Gott als solche gewollte Realität, die in sich einen Wert hat.

Im zweiten Teil betrachtet der heilige Thomas den Menschen – der von der Gnade gedrängt wird – in seinem Streben, Gott zu erkennen und zu lieben, um in seinem Leben und in der Ewigkeit glücklich zu sein. Als erstes zeigt der Autor die theologischen Prinzipien des moralischen Handelns auf, indem er untersucht, wie sich in der freien Entscheidung des Menschen, gute Taten zu vollbringen, Vernunft, Wille und Leidenschaft ergänzen, zu denen noch die Stärke hinzukommt, die die Gnade Gottes durch die Tugenden und die Gaben des Heiligen Geistes schenkt, sowie auch die Hilfe, die durch das Sittengesetz geboten wird. Der Mensch ist also ein dynamisches Wesen, das sich selbst sucht, er versucht, er selbst zu werden, und in diesem Sinne Dinge zu vollbringen, die ihn aufbauen, die ihn wirklich zum Menschen machen; und hier kommt das Sittengesetz ins Spiel, kommen die Gnade und die Vernunft, der Wille und die Leidenschaften ins Spiel. Auf dieser Grundlage umreißt der heilige Thomas die Züge des Menschen, der nach dem Heiligen Geist lebt und auf diese Weise ein Abbild Gottes wird. Hier befasst sich der Aquinate mit dem Studium der drei theologischen Tugenden – Glaube, Hoffnung und Liebe –, dem die scharfsinnige Untersuchung von mehr als fünfzig moralischen Tugenden folgt, die um die vier Kardinaltugenden gruppiert werden: Klugheit, Gerechtigkeit, Maß und Tapferkeit. Er endet dann mit einer Überlegung zu den verschiedenen Berufungen in der Kirche.

Im dritten Teil der „Summa“ untersucht der heilige Thomas das Geheimnis Christi – den Weg und die Wahrheit –, durch das wir wieder mit Gott Vater vereint werden können. In diesem Abschnitt schreibt er praktisch unübertroffene Seiten über das Geheimnis der Menschwerdung und der Passion Jesu, denen er dann eine ausführliche Abhandlung über die sieben Sakramente hinzufügt, da in ihnen das menschgewordene göttliche Wort den Segen der Menschwerdung für unser Heil erweitert, für unseren Glaubensweg zu Gott und zum ewigen Leben, gewissermaßen auf materielle Weise in der Schöpfung präsent bleibt und uns so in unserem Innersten berührt.

Bei der Abhandlung über die Sakramente befasst sich der heilige Thomas besonders mit dem Geheimnis der Eucharistie, das er besonders verehrte, sodass er, den frühen Biographen zufolge, sein Haupt an den Tabernakel zu legen pflegte, als ob er das Klopfen des göttlichen und menschlichen Herzens Jesu hören wollte. In einem seiner Kommentare zur Heiligen Schrift hilft uns der heilige Thomas, das Außerordentliche des Sakraments der Eucharistie zu verstehen, wenn er schreibt: „Da die Eucharistie das Sakrament der Passion unseres Herrn ist, birgt sie Jesus Christus in sich, der für uns gelitten hat. Daher ist jede Wirkung der Passion unseres Herrn auch Wirkung dieses Sakraments, da es nichts anderes ist, als die Anwendung der Passion des Herrn in uns“ (In Ioannem, c.6, lect. 6, n. 963). Hier können wir gut verstehen, warum der heilige Thomas und andere Heilige bei der Feier der Heiligen Messe Tränen des Mitleids für den Herrn vergossen haben, der sich uns als Opfer anbietet, Tränen der Freude und der Dankbarkeit.

Liebe Brüder und Schwestern, lernen wir von den Heiligen und verlieben wir uns in dieses Sakrament! Nehmen wir andächtig an der heiligen Messe teil, um die geistlichen Früchte zu empfangen, stärken wir uns am Leib und am Blut des Herrn, um stets von der göttlichen Gnade gestärkt zu werden! Verweilen wir gerne und häufig, von Angesicht zu Angesicht, in Gesellschaft des allerheiligsten Sakraments!

Was der heilige Thomas in seinen wichtigsten theologischen Werken, wie eben der „Summa theologiae“ oder auch der „Summa contra Gentiles“ mit wissenschaftlicher Genauigkeit illustriert hat, das hat er auch in seiner an die Studenten und an die Gläubigen gerichtete Verkündigung dargelegt. 1273, ein Jahr vor seinem Tod, hat er während der ganzen Fastenzeit in der Kirche San Domenico Maggiore in Neapel gepredigt. Der Inhalt dieser Predigten ist gesammelt und aufbewahrt worden: Es handelt sich um die „Opuscoli“, in denen er das Apostolische Glaubensbekenntnis erklärt, das Gebet des Vaterunsers auslegt, den Dekalog erläutert und das Ave Maria kommentiert. Der Inhalt der Predigten des „Doctor Angelicus“ entspricht fast vollständig der Struktur des Katechismus der Katholischen Kirche. Tatsächlich sollten in einer Zeit wie der unseren, einer Zeit des erneuerten Einsatzes für die Evangelisierung, in der Katechese und in den Predigten niemals diese grundsätzlichen Themen fehlen: was wir glauben, also das Glaubensbekenntnis; was wir beten, also das Vaterunser und das Ave Maria; und wie wir nach der Lehre der biblischen Offenbarung leben, also das Gesetz der Gottes- und der Nächstenliebe und die Zehn Gebote als Entfaltung dieses Liebesgebots.

Ich möchte einige einfache, wesentliche und überzeugende Beispiele aus dem Inhalt der Lehre des heiligen Thomas darlegen. In seiner Abhandlung über das Apostolische Glaubensbekenntnis erklärt er die Bedeutung des Glaubens. Durch ihn, so sagt er, vereint sich die Seele mit Gott und entsteht so etwas wie ein Keim ewigen Lebens; das Leben erhält eine sichere Orientierung und wir überwinden mühelos die Versuchungen. Wer einwendet, der Glaube sei töricht, weil er an etwas glauben lässt, das sinnlich nicht erfahren werden kann, dem gibt der heilige Thomas eine ganz klare Antwort und erklärt, dass dieser Zweifel haltlos sei, da die menschliche Intelligenz begrenzt ist und nicht alles erkennen kann. Nur wenn wir alle sichtbaren und unsichtbaren Dinge ganz genau erkennen könnten, wäre es wirklich töricht, Wahrheiten aus reinem Glauben anzunehmen. Im übrigen ist es unmöglich zu leben, so der heilige Thomas, ohne auf die Erfahrung anderer zu vertrauen, wo die persönliche Erkenntnis nicht hingelangt. Es ist also vernünftig, Gott, der sich offenbart, und dem Zeugnis der Apostel Glauben zu schenken; es waren wenige, einfache und arme Menschen, gebrochen aufgrund der Kreuzigung ihres Meisters; und doch haben sich viele kluge, hochstehende und reiche Menschen in kurzer Zeit auf das Hören ihrer Verkündigung hin bekehrt. Es handelt sich tatsächlich um ein wundersames historisches Phänomen, auf das man nur schwer eine andere vernünftige Antwort geben kann, als die Begegnung der Apostel mit dem auferstandenen Herrn.

Bei der Kommentierung des Absatzes aus dem Glaubensbekenntnis über die Fleischwerdung des göttlichen Wortes, stellt der heilige Thomas einige Betrachtungen an. Er erklärt, dass der christliche Glaube, wenn man das Geheimnis der Fleischwerdung betrachtet, gestärkt wird; die Hoffnung erhebt sich mit größeren Vertrauen bei dem Gedanken, dass der Sohn Gottes als einer von uns zu uns gekommen ist, um den Menschen seine Gottheit mitzuteilen; die Liebe wird gestärkt, weil es kein deutlicheres Zeichen der Liebe Gottes zu uns gibt, als zu sehen, dass sich der Schöpfer des Universums selbst zu einem Geschöpf, zu einem von uns macht. Schließlich fühlen wir, wie angesichts des Geheimnisses der Fleischwerdung Gottes der Wunsch in uns entflammt, zu Christus in seiner Herrlichkeit zu gelangen. Mit Hilfe eines einfachen und wirksamen Vergleichs sagt der heilige Thomas: „Wenn der Bruder eines Königs in der Ferne wäre, würde er sich danach sehnen, bei ihm zu sein. Für uns ist Christus der Bruder. Wir müssen also seine Nähe wünschen, danach streben, ein Herz und eine Seele mit ihm zu werden“ (Opuscoli teologico-spirituali, Roma 1976, S. 64).

Beim Gebet des Vaterunser zeigt der heilige Thomas, dass es in sich vollkommen ist, da es über alle fünf Eigenschaften verfügt, die ein gutes Gebet besitzen sollte: vertrauensvolle und ruhige Hingabe; die Angemessenheit seines Inhalts, denn – so der heilige Thomas – „es ist ziemlich schwer, genau zu wissen, was man erbitten darf und was nicht, da wir uns angesichts der Vielzahl der Wünsche Schwierigkeiten gegenübersehen“ (ebd. S. 120); sowie dann die treffende Ordnung der Bitten, glühende Liebe und aufrichtige Demut.

Der heilige Thomas hat wie alle Heiligen die Muttergottes stark verehrt. Er hat sie mit einem wunderbaren Ausdruck bezeichnet: „Triclinium totius Trinitatis“, Triclinium, also der Ort, an dem die Dreifaltigkeit Ruhe findet, weil aufgrund der Menschwerdung die drei göttlichen Personen keinem Geschöpf so wie ihr innewohnen, und Wohlgefallen und Freude verspüren, in ihrer Seele voll der Gnade zu leben. Auf ihre Fürsprache hin können wir jede Hilfe erlangen.

Mit einem Gebet, das der Überlieferung nach dem heiligen Thomas zugeschrieben wird, und das in jedem Fall die Züge seiner tiefen Marienfrömmigkeit wiederspiegelt, sagen auch wir: „O seligste und süßeste Jungfrau Maria, Mutter Gottes ... deinem barmherzigen Herzen vertraue ich mein ganzes Leben an ... Erwirke für mich, o meine süßeste Jungfrau, wahre Liebe, mit der ich von ganzem Herzen deinen allerheiligsten Sohn lieben kann, und dich – nach ihm – über allen Dingen und den Nächsten in Gott und für Gott.

 

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