Papst Benedikt XVI.
Generalaudienz am 9.11.11
Gebet im AT: Psalm 119
Liebe Brüder und Schwestern!
Doch noch wichtiger ist für uns die zentrale Thematik dieses Psalms:
denn es handelt sich um einen eindrucksvollen und feierlichen Lobgesang auf die
„Thora“ des Herrn, also sein Gesetz, ein Ausdruck, der in seiner weiteren und
vollständigen Bedeutung als Lehre, Unterweisung, Lebensanleitung zu verstehen
ist; die „Thora“ ist Offenbarung, sie ist das Wort Gottes, das den Menschen
herausfordert und seine Antwort vertrauensvollen Gehorsams und großherziger
Liebe hervorruft. Und dieser Psalm ist ganz von der Liebe zum Wort Gottes
erfüllt, er feiert seine Schönheit, seine rettende Kraft, sein Vermögen, Freude
und Leben zu schenken. Denn das göttliche Gesetz ist kein schweres Joch der
Knechtschaft, sondern Geschenk der Gnade, die frei macht und zur Glückseligkeit
führt. „Ich habe meine Freude an deinen Gesetzen, dein Wort will ich nicht
vergessen“ (V. 16), erklärt der Psalmist; und dann: „Führe mich auf dem Pfad
deiner Gebote! Ich habe an ihm Gefallen“ (V. 35); und weiter: „Wie lieb ist mir
deine Weisung; ich sinne über sie nach den ganzen Tag“ (V. 97). Das Gesetz des
Herrn, sein Wort, bilden den Lebensmittelpunkt des Betenden; darin findet er
Trost, er macht es zum Inhalt seines Nachsinnens, bewahrt es in seinem Herzen:
„Ich berge deinen Spruch im Herzen, damit ich gegen dich nicht sündige“ (V.
11), das ist das Geheimnis der Glückseligkeit des Psalmisten; und dann heißt es
noch: „Stolze verbreiten über mich Lügen, ich aber halte mich von ganzem Herzen
an deine Befehle“ (V. 69).
Die Treue des Psalmisten entsteht aus dem Hören auf das Wort, das im
Inneren zu bewahren ist, indem man darüber nachsinnt und es liebt, genau wie
Maria, die die Worte, die an sie gerichtet worden waren, und die wunderbaren
Ereignisse, in denen Gott sich offenbarte, als er um ihre glaubende Zustimmung
bat, „in ihrem Herzen bewahrte und darüber nachdachte“ (vgl. Lk 2, 19.51). Und
wenn unser Psalm in den ersten Versen diejenigen als „Selige“ bezeichnet, „die
leben nach der Weisung des Herrn“ (V. 1b) und „die seine Vorschriften befolgen“
(V. 2a), dann ist es wiederum die Jungfrau Maria, die die vollkommene Gestalt
des vom Psalmisten beschriebenen Gläubigen zur Vollendung führt. Denn Sie ist
die wahre „Selige“, wie sie von Elisabeth genannt wird, weil Sie „geglaubt hat,
dass sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ“ (Lk 1, 45), und für Sie und
ihren Glauben legt Jesus selbst Zeugnis ab, wenn er der Frau, die ausgerufen
hatte: „Selig die Frau, deren Leib dich getragen (hat)“, erwidert: „Selig sind
vielmehr die, die das Wort Gottes hören und es befolgen“ (Lk 11, 27–28).
Gewiss, Maria ist selig, weil ihr Leib den Erlöser getragen hat, doch vor
allem, weil sie die göttliche Verkündigung angenommen hat, weil sie sein Wort
aufmerksam und liebevoll bewahrt hat.
Psalm 119 ist also ganz um dieses Wort des Lebens und der Seligkeit
aufgebaut. Wenn sein zentrales Thema das „Wort“ und das „Gesetz“ des Herrn
sind, so kommen neben diesen Begriffen in fast allen Versen Synonyme davon auf,
wie „Weisungen“, „Vorschriften“, „Befehle“, „Gebote“, „Verheißung“, „Urteile“;
und dann zahlreiche Verben, die damit verbunden sind, wie: „befolgen“,
„beachten“, „verstehen“, „lernen“, „lieben“, „nachsinnen“, „leben nach“. Das
ganze Alphabet wird in den zweiundzwanzig Strophen dieses Psalms entfaltet
sowie auch das gesamte Vokabular der vertrauensvollen Beziehung des Gläubigen
zu Gott; wir finden dort Lob, Dank, Vertrauen, aber auch Bitte und Klage, immer
jedoch erfüllt von der Gewissheit der göttlichen Gnade und der Kraft des Wortes
Gottes. Auch die Verse, die eher von Leid und vom Empfinden des Dunkels
gezeichnet sind, bleiben offen für die Hoffnung und sind vom Glauben
durchdrungen. „Meine Seele klebt am Boden. Durch dein Wort belebe mich“ (V. 25)
betet der Psalmist voller Vertrauen; „Ich bin wie ein Schlauch voller Risse,
doch deine Gesetze habe ich nicht vergessen“ (V. 83) lautet der Ruf des
Gläubigen. Seine Treue findet, auch wenn sie auf die Probe gestellt wird, Kraft
im Wort des Herrn: „Dann kann ich dem, der mich schmäht, erwidern; denn ich
vertraue auf dein Wort“ (V. 42) erklärt er mit Bestimmtheit; und auch
angesichts der quälenden Perspektive des Todes sind die Gebote des Herrn sein
Bezugspunkt und seine Hoffnung auf Sieg: „Fast hätte man mich von der Erde
ausgetilgt; dennoch halte ich fest an deinen Befehlen“ (V. 87).
Das göttliche Gesetz, Gegenstand der leidenschaftlichen Liebe des
Psalmisten und jedes Gläubigen, ist Quelle des Lebens. Der Wunsch, es zu
verstehen, es zu beachten, das eigene Dasein an ihm auszurichten, ist die
Charakteristik dessen, der gerecht und dem Herrn treu ist, der darüber
„nachsinnt bei Tag und bei Nacht“, wie es in Psalm 1 heißt (V. 2); beim
göttlichen Gesetz handelt es sich um ein Gesetz, das „auf dem Herzen
geschrieben“ sein soll, wie es in dem bekannten Text des „Sh'ma Israel“ im Buch
Deuteronomium heißt: „Höre Israel... Diese Worte, auf die ich dich heute
verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. Du sollst sie deinen
Söhnen wiederholen. Du sollst von ihnen reden, wenn du zu Hause sitzt und wenn
du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst“ (6,
4.6–7).
Als Zentrum des Daseins erfordert das göttliche Gesetz das Hören des
Herzens, ein Hören, das nicht aus unterwürfigem Gehorsam besteht, sondern aus
kindlichem, vertrauensvollem, bewusstem Gehorsam. Das Hören des Wortes ist
persönliche Begegnung mit dem Herrn des Lebens, eine Begegnung, die sich dann
in konkrete Entscheidungen umsetzen und Weg und Nachfolge werden muss. Als
Jesus gefragt wird, was zu tun ist, um das ewige Leben zu erlangen, weist er
den Weg der Beachtung des Gesetzes, doch unter dem Hinweis darauf, was zu tun
ist, um es zur Vollständigkeit zu bringen: „Eines fehlt dir noch: Geh,
verkaufe, was du hast, gib das Geld den Armen, und du wirst einen bleibenden
Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach“ (Mk 10, 21). Die
Erfüllung des Gesetzes ist, Jesus nachzufolgen, den Weg Jesu zu beschreiten, in
der Gemeinschaft mit Jesus.
Psalm 119 bringt uns also zur Begegnung mit dem Herrn und richtet uns
auf das Evangelium aus. Es gibt einen Vers darin, mit dem ich mich jetzt
befassen möchte: es ist Vers 57: „Mein Anteil ist der Herr; ich habe
versprochen, dein Wort zu beachten“. Auch in anderen Psalmen erklärt der Beter,
dass der Herr sein „Anteil“ ist, sein Erbe: „Du, Herr, gibst mir das Erbe und
reichst mir den Becher“, heißt es in Psalm 16 (V. 5a), „Gott ist der Fels
meines Herzens und mein Anteil auf ewig“ verkündet der Beter in Psalm 73 (V.
26b) und in Psalm 142 ruft der Psalmist zum Herrn: „Meine Zuflucht bist du,
mein Anteil im Land der Lebenden“ (V. 6b).
Dieser Begriff „Anteil“ erinnert an das Ereignis der Aufteilung des
verheißenen Landes unter den Stämmen Israels, bei dem den Leviten kein Anteil
am Land zugemessen wurde, weil ihr „Anteil“ der Herr selbst war. Zwei Texte aus
dem Pentateuch sind in dieser Hinsicht explizit und verwenden den
entsprechenden Ausdruck: „Du sollst in ihrem Land keinen erblichen Besitz
haben. Dir gehört unter ihnen kein Besitzanteil; ich bin dein Besitz und dein
Erbteil mitten unter den Israeliten“, so heißt es im Buch Numeri (18, 20) und
im Buch Deuteronomium wird bekräftigt: „Deshalb erhielt Levi nicht wie seine
Brüder Landanteil und Erbbesitz. Der Herr ist sein Erbbesitz, wie es der Herr,
dein Gott, ihm zugesagt hat“ (Dt 10, 9; vgl. Dt 18, 2; Jos 13, 33; Ez 44, 28).
Die Priester, die dem Stamme Levi angehören, können kein Land besitzen
in dem Land, das Gott seinem Volk zum Erbe gegeben und so die Abraham gegebene
Verheißung erfüllt hat (vgl. Gen 12, 1–7). Der Besitz des Landes, der
fundamental für die Stabilität und die Möglichkeit des Überlebens ist, war
Zeichen des Segens, da er die Möglichkeit mit sich brachte, ein Haus zu bauen,
Kinder großzuziehen, Felder zu bestellen und von den Früchten der Erde zu
leben. Nun, die Leviten, Vermittler des Heiligen und des göttlichen Segens,
können nicht wie die anderen Israeliten dieses äußere Zeichen des Segens und
diese Quelle des Unterhalts besitzen. Ganz dem Herrn hingegeben, sollen sie nur
von Ihm leben, sich Seiner fürsorglichen Liebe und der Großherzigkeit ihrer
Brüder und Schwestern überlassen, ohne einen Erbteil zu haben, da Gott ihr
Anteil am Erbe ist, Gott ist ihr „Landbesitz“, der sie in Fülle leben lässt.
Und nun wendet der Beter von Psalm 119 dies auf sich an: „Mein Anteil
ist der Herr“. Seine Liebe zu Gott und zu Seinem Wort führt ihn zu der
radikalen Entscheidung, den Herrn als einziges Gut zu besitzen und auch Seine
Worte als kostbares Gut zu bewahren, wertvoller als jedes Erbe und als jeder
irdische Besitz. Tatsächlich bietet unser Vers die Möglichkeit einer doppelten
Übersetzung und könnte auch auf folgende Weise wiedergegeben werden: „Mein
Anteil, Herr, habe ich gesagt, ist es, deine Worte zu bewahren“. Die beiden
Übersetzungen widersprechen einander nicht, sondern vervollständigen sich
vielmehr: der Psalmist erklärt, dass sein Anteil der Herr ist, doch dass auch
das Bewahren der göttlichen Worte sein Erbe ist, wie er dann in Vers 111 sagen
wird: „Deine Vorschriften sind auf ewig mein Erbteil; denn sie sind die Freude
meines Herzens“. Das ist die Glückseligkeit des Psalmisten: ihm wurde, wie den
Leviten, das Wort Gottes als Erbanteil geschenkt.
„Zölibat um des Himmelreiches willen in seiner Schönheit und seiner
Kraft wiederentdecken“
Liebe Brüder und Schwestern, diese Verse sind auch heute für uns alle
von großer Bedeutung. Vor allem für die Priester, die aufgerufen sind, nur vom
Herrn und von Seinem Wort zu leben, ohne andere Sicherheiten, Ihn als einziges
Gut und einzige Quelle des wahren Lebens zu besitzen. In diesem Licht ist die
freie Entscheidung für den Zölibat um des Himmelreichs wegen zu verstehen, der
in seiner Schönheit und seiner Kraft wiederentdeckt werden muss. Doch diese
Verse sind auch für alle Gläubigen wichtig, das Volk Gottes, das Ihm allein
angehört, „eine königliche Priesterschaft“ für den Herrn (vgl. 1 Petr 2, 9;
Offb 1, 6; 5, 10), zur Radikalität des Evangeliums berufen, Zeugen des Lebens,
das Christus gebracht hat, der neue und endgültige „Hohepriester“, der sich für
das Heil der Welt als Opfer dargeboten hat (vgl. Hebr 2, 17; 4, 14–16; 5, 5–10;
9, 11ff.). Der Herr und Sein Wort: sie sind unser „Land“, wo wir in Gemeinschaft
und Freude leben.
Lassen wir also zu, dass uns der Herr diese Liebe zu Seinem Wort ins
Herz legt und uns gewähre, Ihn und Seinen Willen stets in den Mittelpunkt
unseres Daseins zu stellen. Bitten wir, dass unser Gebet und unser ganzes Leben
vom Wort Gottes erleuchtet werden, eine Leuchte für unsere Füße und ein Licht
für unsere Pfade, wie es in Psalm 119 heißt (vgl. V. 105), sodass wir im Land
der Menschen sicher gehen. Und Maria, die das Wort angenommen und
hervorgebracht hat, führe uns und sei unser Trost, unser Leitstern, der uns den
Weg zur Glückseligkeit weist.
Dann werden auch wir uns wie der Beter von Psalm 16 in unserem Gebet
über die unerwarteten Gaben des Herrn und die unverdiente Erbschaft, die uns
zuteil geworden ist, freuen können:
„Du, Herr, gibst mir das Erbe und reichst mir den Becher... Auf schönem
Land fiel mir mein Anteil zu: Ja, mein Erbe gefällt mir gut“ (Ps 16,5.6).