Papst Benedikt XVI.
Generalaudienz am 16.11.11
Gebet im AT: Psalm 110
Liebe Brüder und Schwestern!
Gott selbst setzt den König in die Herrlichkeit ein, indem er ihn zu
seiner Rechten sitzen lässt, ein Zeichen größter Ehre und ein unbedingtes
Privileg. Dem König wird auf diese Weise die Teilhabe an der göttlichen
Herrschaft eingeräumt, deren Mittler beim Volk er ist. Diese Königsherrschaft
verwirklicht sich auch im Sieg über die Gegner, die ihm von Gott selbst zu
Füßen gelegt werden; der Sieg über die Feinde gehört dem Herrn, doch der König
wird zum Teilhaber daran gemacht und sein Triumph wird Zeugnis und Zeichen der
göttlichen Macht.
Die königliche Verherrlichung, die zu Beginn dieses Psalms zum Ausdruck
kommt, ist vom Neuen Testament als messianische Prophezeiung aufgenommen
worden; daher gehört dieser Vers zu denen, die von den neutestamentlichen
Autoren am häufigsten angeführt werden, entweder als ausdrückliches Zitat oder
als Andeutung. Jesus selbst hat diesen Vers in Bezug auf den Messias erwähnt,
um zu zeigen, dass der Messias mehr ist als David, dass er der Herr Davids ist
(vgl. Mt 22, 41–45; Mk 12, 35–37; Lk 20, 41–44). Und Petrus greift ihn in
seiner Pfingstrede auf, als er verkündet, dass sich in der Auferstehung Christi
diese Inthronisierung des Königs verwirklicht und dass von nun an Christus zur
Rechten des Vaters sitzt und an der Herrschaft Gottes über die Welt teilhat
(vgl. Apg 2, 29–35).
Denn es ist Christus, der inthronisierte Herr, der Menschensohn, der
zur Rechten Gottes sitzt, der auf den Wolken des Himmels kommt, wie Jesus
selbst sich während des Prozesses vor dem Hohen Rat bezeichnet (vgl. Mt 26,
63–64; Mk 14, 61–62; vgl. auch Lk 22, 66–69). Er ist der wahre König, der mit
der Auferstehung in die Herrlichkeit zur Rechten des Vaters eingegangen ist
(vgl. Röm 8, 34; Eph 2, 5; Kol 3, 1; Hebr 8, 1; 12, 2), erhaben über die Engel,
der im Himmel sitzt, über allen Mächten und jeden Feind zu seinen Füßen, bis
der letzte Feind, der Tod, endgültig von Ihm besiegt wird (vgl. 1 Kor 15,
24–26; Eph 1, 20–23; Hebr 1, 3–4.13; 2, 5–8; 10, 12–13; 1 Petr 3, 22).
Und man versteht sofort, dass dieser König, der zur Rechten Gottes
sitzt und an seiner Herrschaft teilhat, nicht einer der Männer ist, die David
nachfolgen, sondern allein der neue David, der Sohn Gottes, der den Tod besiegt
hat und wirklich an der Herrlichkeit Gottes teilhat. Er ist unser König, der
uns auch das ewige Leben schenkt.
Zwischen dem König, der von unserem Psalm gepriesen wird, und Gott
besteht folglich eine untrennbare Verbindung; die beiden führen gemeinsam eine
einzige Regierung, sodass der Psalmist behaupten kann, dass Gott selbst das
Zepter des Herrschers ausstreckt und ihm den Auftrag gibt, über seine Feinde zu
herrschen, wie es in Vers 2 heißt: „Vom Zion strecke der Herr das Zepter deiner
Macht aus: ,Herrsche inmitten deiner Feinde!‘“.
Die Ausübung der Macht ist ein Auftrag, den der König direkt vom Herrn
empfängt, eine Verantwortung, die er in der Unterordnung und im Gehorsam leben
muss, um so im Volk ein Zeichen der mächtigen und segensreichen Gegenwart
Gottes zu werden. Die Herrschaft über die Feinde, die Herrlichkeit und der Sieg
sind empfangene Gaben, die den Herrscher zu einem Mittler des göttlichen
Triumphs über das Böse machen. Er herrscht über die Feinde, indem er sie
verwandelt, sie mit seiner Liebe besiegt.
Daher wird im folgenden Vers die Größe des Königs gepriesen. Vers 3
weist tatsächlich einige Interpretationsschwierigkeiten auf. Im hebräischen
Original wird auf die Einberufung des Heeres verwiesen, auf welche das Volk
großherzig antwortet, indem es sich am Tag der Krönung um seinen Herrscher
drängt. Die griechische Übersetzung der Septuaginta, die auf das dritte bis
zweite Jahrhundert vor Christus zurückgeht, verweist hingegen auf die göttliche
Abstammung des Königs, auf seine Geburt oder Zeugung seitens des Herrn, und das
ist die Interpretation, für die sich die gesamte kirchliche Tradition
entschieden hat, sodass der Vers folgendermaßen lautet: „Dein ist die
Herrschaft am Tage deiner Macht (wenn du erscheinst) in heiligem Schmuck; ich
habe dich gezeugt noch vor dem Morgenstern, wie den Tau in der Frühe“.
Dieser göttliche Spruch über den König würde also eine von Glanz und
Geheimnis umgebene göttliche Zeugung behaupten, einen geheimnisvollen und
unergründlichen Ursprung, der mit der geheimnisvollen Schönheit des
Morgensterns und mit dem wunderbaren Tau verbunden ist, der am frühen Morgen
auf den Feldern glänzt und sie fruchtbar macht. So zeichnet sich – unauflösbar
mit der himmlischen Wirklichkeit verbunden – die Gestalt des Königs ab, der
wirklich von Gott kommt, des Messias, der dem Volk das göttliche Leben bringt
und Mittler von Heiligkeit und Erlösung ist. Auch hier sehen wir, dass alles
das nicht von der Gestalt eines davidischen Königs verwirklicht wird, sondern
vom Herrn Jesus Christus, der wirklich von Gott kommt; Er ist das Licht, das
der Welt das göttliche Leben bringt. Mit diesem eindrucksvollen und
rätselhaften Bild endet die erste Strophe des Psalms. Ihr folgt ein weiterer
Spruch, der eine neue Perspektive im Sinne einer mit der Königsherrschaft verbundenen
priesterlichen Dimension eröffnet. Vers 4 lautet: „Der Herr hat geschworen und
nie wird's ihn reuen: ,Du bist Priester auf ewig nach der Ordnung
Melchisedeks‘“.
Melchisedek war der Priester und König von Salem, der Abraham gesegnet
und Brot und Wein gebracht hatte, nachdem der Patriarch einen siegreichen
Feldzug geführt hatte, um den Neffen Lot aus den Händen der Feinde zu retten,
die ihn gefangen hatten (vgl. Gen 14). In der Gestalt des Melchisedek laufen
königliche und priesterliche Macht zusammen, und nun werden sie vom Herrn in
einer Erklärung verkündet, die Ewigkeit verheißt: Der vom Psalm verherrlichte
König wird für immer Priester sein, Mittler der göttlichen Gegenwart inmitten
seines Volkes, Vermittler des Segens, der von Gott kommt und in der Liturgie
der lobpreisenden Antwort des Menschen begegnet. Der Brief an die Hebräer nimmt
explizit Bezug auf diesen Vers (vgl. 5, 5–6.10; 6, 19–20) und das ganze siebte
Kapitel, in dem über das Priestertum Christi nachgedacht wird, beruht darauf.
Jesus, so sagt uns das Hebräerbrief im Hinblick auf Psalm 110 (109), Jesus ist
der wahre und endgültige Priester, der die Züge des Priestertums Melchisedeks
zur Vollendung führt, indem er sie vollkommen werden lässt.
Melchisedek war, wie es im Hebräerbrief heißt, „ohne Vater, ohne Mutter
und ohne Stammbaum“ (7, 3a), also kein Priester nach den dynastischen Regeln
des levitischen Priestertums. Daher bleibt er „Priester für immer“ (7, 3c),
eine vorausdeutende Darstellung Christi, des vollkommenen Hohepriesters, der
„nicht, wie das Gesetz es fordert, aufgrund leiblicher Abstammung Priester
geworden ist, sondern durch die Kraft unzerstörbaren Lebens“ (7, 16). In Jesus,
dem Herrn, der auferstanden und zum Himmel aufgefahren ist, wo er zur Rechten
des Vaters sitzt, verwirklicht sich die Prophezeiung unseres Psalms und das
Priestertum Melchisedeks wird zur Vollendung geführt, weil es – nun absolut und
ewig – eine Wirklichkeit geworden ist, die unvergänglich ist (vgl. 7, 24).
Und die Gabe von Brot und Wein, die Melchisedek zu Zeiten Abrahams
gebracht hat, findet ihre Erfüllung im eucharistischen Zeichen Jesu, der im
Brot und im Wein sich selbst darbringt und, nachdem er den Tod besiegt hat,
alle Gläubigen zum Leben führt. Als ewiger Priester, „heilig, unschuldig,
makellos“ (7, 26), kann Er, wie es im Hebräerbrief weiter heißt, „die, die
durch ihn vor Gott hintreten, für immer retten; denn er lebt allezeit, um für
sie einzutreten“ (7, 25). Nach diesem göttlichen Spruch von Vers 4, mit seinem
feierlichen Schwur, ändert sich das Bild des Psalms und der Dichter, der sich
direkt an den König wendet, ruft aus: „Der Herr steht dir zur Seite“ (V. 5a).
Wenn in Vers 1 der König als Zeichen höchsten Ansehens und höchster Ehre zur Rechten
Gottes sitzt, steht nun der Herr zur Rechten des Herrschers, um ihn mit dem
Schild in der Schlacht zu beschützen und ihn vor jeder Gefahr zu retten. Der
König ist in Sicherheit, Gott beschützt ihn und gemeinsam bekämpfen und
besiegen sie alles Böse.
So beginnen die letzten Verse dieses Psalms mit dem Bild des
siegreichen Herrschers, der sich, unterstützt vom Herrn, von dem er Macht und
Ehre empfangen hat (vgl. V. 2), den Feinden widersetzt, die Gegner niederwirft
und Gericht unter den Völkern hält. Das Bild ist in starken Tönen gezeichnet,
um die Dramatik des Kampfes und die Fülle des königlichen Sieges auszudrücken.
Der Herrscher, der vom Herrn beschützt wird, reißt jedes Hindernis nieder und
schreitet zum Sieg. Er sagt uns: Ja, in der Welt gibt es viel Böses, es gibt
einen ständigen Kampf zwischen Gut und Böse, und es scheint, als wäre das Böse
stärker. Nein, stärker ist der Herr, unser wahrer König und Priester Christus,
da er mit der ganzen göttlichen Kraft kämpft, und trotz allem, was uns an einem
positiven Ausgang der Geschichte zweifeln lässt, siegt Christus und siegt das
Gute, siegt die Liebe und nicht der Hass. Und hier fügt sich das eindrucksvolle
Bild ein, mit dem unser Psalm endet, das auch ein rätselhaftes Wort ist: „Er
trinkt aus dem Bach am Weg; so kann er (von neuem) das Haupt erheben“ (V. 7).
Mitten in der Beschreibung des Kampfes hebt sich die Gestalt des Königs
ab, der in einem Moment der Unterbrechung des Kampfes und der Ruhe aus einem
Bach trinkt, worin er Erquickung und neue Kraft findet, sodass er mit erhobenem
Haupt seinen Siegeszug wieder aufnehmen kann, zum Zeichen des endgültigen
Triumphs. Es ist klar, dass dieses äußerst rätselhafte Wort aufgrund der
verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten eine Herausforderung für die Kirchenväter
darstellte. So sagt etwa der heilige Augustinus: Dieser Bach ist der Mensch,
die Menschheit, und Christus hat aus diesem Bach getrunken, indem er Mensch
geworden ist, und so, indem er in die Menschheit des Menschen eingetreten ist,
hat er sein Haupt erhoben, und jetzt ist er das Haupt des mystischen Leibes,
ist er unser Haupt, ist er der endgültige Sieger (vgl. Enarratio in Psalmum,
CIX, 20: PL 36, 1462).
Liebe Freunde, der Interpretationslinie des Neuen Testaments folgend,
hat die kirchliche Tradition diesem Psalm als einem der wichtigsten
messianischen Texte große Beachtung geschenkt. Und auf herausragende Weise
haben sich die Kirchenväter kontinuierlich in christologischem Sinne auf ihn
bezogen: Der vom Psalmisten besungene König ist also Christus, der Messias, der
das Reich Gottes einsetzt und die weltliche Macht besiegt, er ist das Wort, das
vom Vater vor allen Geschöpfen, vor dem Morgenstern gezeugt wurde, der
menschgewordene Sohn, der gestorben und auferstanden ist und im Himmel sitzt,
der ewige Priester, der im Geheimnis von Brot und Wein die Vergebung der Sünden
und die Versöhnung mit Gott schenkt, der König, der das Haupt erhebt und durch
seine Auferstehung über den Tod triumphiert. Man braucht nur an einen Abschnitt
zu erinnern, der ebenfalls aus dem Kommentar des heiligen Augustinus über
diesen Psalm stammt und in dem er schreibt: „Es war notwendig, den einen Sohn
Gottes zu erkennen, der zu den Menschen kommen sollte, um den Menschen
anzunehmen und um durch die angenommene Natur Mensch zu werden: Er ist
gestorben, auferstanden, zum Himmel aufgefahren, er sitzt zur Rechten des
Vaters und hat unter den Völkern erfüllt, was er verheißen hatte.... Alles das
musste also prophezeit werden, musste vorangekündigt werden, es musste als
künftige Bestimmung angezeigt werden, damit es, wenn es sich plötzlich
ereignete, nicht erschrecken würde, sondern vorangekündigt wäre, gläubig und
freudig angenommen und erwartet würde. In den Bereich dieser Verheißungen fällt
dieser Psalm, der unseren Herrn und Erlöser Jesus Christus mit so klaren und
expliziten Worten prophezeit, dass wir nicht im geringsten daran zweifeln
können, dass darin wirklich der Christus angekündigt wird“ (vgl. Enarratio in
Psalmum CIX, 3: PL 36, 1447).
Das Osterereignis Christi wird so die Wirklichkeit, auf die zu blicken
der Psalm uns auffordert – auf Christus zu blicken, um den Sinn der wahren
Königsherrschaft zu verstehen, die im Dienst und in der Selbsthingabe gelebt
werden muss, auf einem Weg des Gehorsams und der Liebe „bis zur Vollendung“
(vgl. Joh 13, 1 und 19, 30). Wenn wir diesen Psalm beten, wollen wir also den
Herrn bitten, dass auch wir auf seinen Wegen voranschreiten mögen, in der
Nachfolge Christi, des Königs, des Messias, bereit, mit Ihm zum Berg des
Kreuzes hinaufzusteigen, um mit Ihm in die Herrlichkeit zu gelangen, und ihn
sitzend zur Rechten des Vaters zu betrachten, den siegreichen König und
barmherzigen Priester, der allen Menschen Vergebung und Heil schenkt. Und auch
wir, die wir durch Gottes Gnade „ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche
Priesterschaft, ein heiliger Stamm“ (1 Petr 2, 9) sind, werden voll Freude aus
den Quellen des Heils schöpfen (vgl. Jes 12, 3) und der ganzen Welt die Wunder
Dessen verkünden können, „der uns aus der Finsternis in sein wunderbares Licht
gerufen hat“ (vgl. 1 Petr 2, 9).
Liebe Freunde, in diesen letzten Katechesen wollte ich Euch einige
Psalmen vorstellen, wertvolle Gebete, die wir in der Bibel finden und die die
verschiedenen Lebenssituationen und die verschiedenen Seelenzustände
widerspiegeln, die wir Gott gegenüber haben können. Ich möchte also erneut an
Euch alle die Aufforderung aussprechen, mit den Psalmen zu beten, vielleicht,
indem Ihr Euch angewöhnt, das Stundengebet der Kirche zu beten: die Laudes am
Morgen, die Vesper am Abend, die Komplet vor dem Schlafengehen. Unsere
Beziehung zu Gott wird so auf dem täglichen Weg zu Ihm nur bereichert und mit
größerer Freude und größerem Vertrauen verwirklicht werden können. Danke.