Papst Benedikt XVI.
Generalaudienz am 1.6.11
Gebet im AT: Moses als Fürsprecher
Liebe Brüder und Schwestern!
Auch als das Volk am Sinai Aaron bittet, das Goldene Kalb zu machen,
betet Mose und übt auf beispielhafte Weise seine Aufgabe als Fürsprecher aus.
Die Episode wird im 32. Kapitel des Buches Exodus erzählt und hat eine
Parallele im neunten Kapitel des Buches Deuteronomium. Mit dieser Episode und
vor allem mit dem Gebet des Mose, das wir in der Exoduserzählung finden, möchte
ich mich in der heutigen Katechese beschäftigen. Das Volk Israel befand sich zu
Füßen des Sinai, während Mose auf dem Berg das Geschenk der Gesetzestafeln
erwartete und vierzig Tage und vierzig Nächte fastete (vgl. Ex 24, 18; Dt 9,
9). Die Zahl vierzig hat einen symbolischen Wert und bedeutet die Gesamtheit
der Erfahrung, während durch das Fasten angezeigt wird, dass das Leben von Gott
kommt, dass es durch Ihn erhalten wird. So beinhaltet der Vorgang des Essens
die Aufnahme von Nahrung, die uns erhält; das Fasten, der Verzicht auf das
Essen, erhält in diesem Fall eine religiöse Bedeutung: es ist eine Art und
Weise anzuzeigen, dass der Mensch nicht allein vom Brot lebt, sondern von jedem
Wort, das aus dem Mund des Herrn kommt (vgl. Dt 8, 3). Durch das Fasten zeigt
Mose, dass er auf das Geschenk des göttlichen Gesetzes als Quelle des Lebens
wartet: Es offenbart den Willen Gottes und speist das Herz des Menschen, indem
es ihn in einen Bund mit dem Allerhöchsten eintreten lässt, der die Quelle des
Lebens, der das Leben selbst ist.
Doch während der Herr Mose auf dem Berg das Gesetz gibt, wird es vom
Volk zu Füßen des Berges übertreten. Unfähig, die Wartezeit und die Abwesenheit
des Vermittlers auszuhalten, bitten die Israeliten Aaron: "Komm, mach uns
Götter, die vor uns herziehen. Denn dieser Mose, der Mann, der uns aus Ägypten
heraufgebracht hat – wir wissen nicht, was mit ihm geschehen ist" (Ex 32, 1).
Müde eines Weges mit einem unsichtbaren Gott bittet das Volk, nun, da auch
Mose, der Vermittler, verschwunden ist, um eine greifbare, berührbare Präsenz
des Herrn und findet in dem Kalb aus geschmolzenem Metall, das Aaron gegossen
hat, einen Gott, der zugänglich, lenkbar, für den Menschen erreichbar geworden
ist. Es handelt sich hier um eine ständige Versuchung auf dem Weg des Glaubens:
dem göttlichen Geheimnis auszuweichen, indem man einen verständlichen Gott
schafft, der den eigenen Entwürfen, den eigenen Plänen entspricht. Das
Geschehen am Sinai zeigt die ganze Torheit und illusorische Selbstgefälligkeit
dieses Anspruchs, denn wie es in Psalm 106 ironisch heißt: "Die Herrlichkeit
Gottes tauschten sie ein gegen das Bild eines Stieres, der Gras frisst" (Ps
106, 20). Daher reagiert der Herr und befiehlt Mose, vom Berg herabzusteigen,
wobei er ihm verrät, was das Volk getan hat und mit folgenden Worten endet:
"Jetzt lass mich, damit mein Zorn gegen sie entbrennt und sie verzehrt. Dich
aber will ich zu einem großen Volk machen" (Ex 32, 10).
Wie bei Abraham in Bezug auf Sodom und Gomorra offenbart Gott auch
jetzt Mose, was er zu tun beabsichtigt, als ob er gewissermaßen nicht ohne
seine Zustimmung handeln wolle (vgl. Am 3, 7). Er sagt: "lass mich, damit mein
Zorn gegen sie entbrennt". In Wirklichkeit wird dies "lass mich, damit mein
Zorn gegen sie entbrennt" gerade deswegen gesagt, damit Mose eingreift und Ihn
bittet, das nicht zu tun, und somit offenbart, dass Gott immer nach dem Heil
verlangt. Wie bei den beiden Städten zu Zeiten des Abraham zeigen die
Bestrafung und die Zerstörung, in der der Zorn Gottes als Ablehnung des Bösen
zum Ausdruck kommt, die Schwere der begangenen Sünde an; gleichzeitig soll die
Bitte des Fürsprechers den Willen zur Vergebung des Herrn zum Ausdruck bringen.
Das ist das Heil Gottes, das Barmherzigkeit
beinhaltet, das aber gleichzeitig auch die Wahrheit der Sünde, des Bösen, das
es gibt, anzeigt, sodass der Sünder, wenn er das Böse erkannt hat und es
ablehnt, sich vergeben und von Gott verwandeln lassen kann.
Das Fürsprachegebet macht so in der verdorbenen Wirklichkeit des
sündigen Menschen die göttliche Barmherzigkeit wirksam, die in der Bitte des
Betenden zum Ausdruck kommt und durch ihn dort gegenwärtig wird, wo es des
Heils bedarf. Die Bitte des Mose stützt sich ganz auf
die Treue und die Gnade des Herrn. Er bezieht sich zunächst auf die Geschichte
der Erlösung, die Gott mit dem Auszug Israels aus Ägypten begonnen hat, um dann
an die alte Verheißung zu erinnern, die den Vätern gegeben worden war. Der Herr
hat Heil gewirkt, indem er sein Volk aus der ägyptischen Knechtschaft befreit
hat; warum also, so fragt Mose, "sollen ... die Ägypter sagen können: In böser
Absicht hat er sie herausgeführt, um sie im Gebirge umzubringen und sie vom
Erdboden verschwinden zu lassen?" (Ex 32, 12).
Das begonnene Heilswerk muss vollendet werden; wenn Gott sein Volk
umkommen lassen würde, könnte das als Zeichen göttlicher Unfähigkeit
interpretiert werden, den Heilsplan zu vollenden. Gott kann das nicht zulassen:
Er ist der gute Herr, der rettet, der Garant des Lebens, er ist der Gott der
Barmherzigkeit und der Vergebung, der Befreiung von der Sünde, die tötet. Und
so appelliert Mose an Gott, an das Innere Gottes gegen das äußere Urteil. Wenn
Seine Erwählten umkommen – auch wenn sie schuldig sind – so argumentiert Mose
dem Herrn gegenüber dann könnte Er als unfähig erscheinen, die Sünde zu
besiegen. Und das kann man nicht akzeptieren. Mose hat den Gott des Heils
konkret erfahren, er ist als Vermittler der göttlichen Befreiung gesandt
worden, und nun bringt er durch sein Gebet eine zweifache Beunruhigung zum
Ausdruck: Er ist besorgt um das Schicksal seines Volkes, aber auch um die Ehre,
die dem Herrn gebührt, um die Wahrheit Seines Namens. Der Fürsprecher möchte,
dass das Volk Israel gerettet wird, da es die Herde ist, die ihm anvertraut
wurde, aber auch, damit in jenem Heil die Wirklichkeit Gottes zum Ausdruck
komme. Die Liebe zu den Brüdern und Schwestern und die Liebe zu Gott
durchdringen einander im Fürsprachegebet, sie sind nicht voneinander zu
trennen. Mose, der Fürsprecher, ist ein Mann, der zwischen diesen beiden Formen
der Liebe steht, die im Gebet zu einem einzigen Verlangen nach dem Guten
werden.
Dann beruft sich Mose auf die Treue Gottes und erinnert ihn an seine
Versprechen: "Denk an deine Knechte, an Abraham, Isaak und Israel, denen du mit
einem Eid bei deinem eigenen Namen zugesichert und gesagt hast: Ich will eure
Nachkommen zahlreich machen wie die Sterne am Himmel, und: Dieses ganze Land, von
dem ich gesprochen habe, will ich euren Nachkommen geben und sie sollen es für
immer besitzen" (Ex 32, 13). Mose ruft die ursprüngliche Gründungsgeschichte in
Erinnerung, die Väter des Volkes und ihre ganz unverdiente Erwählung, in der
allein Gott die Initiative ergriffen hatte. Nicht aufgrund ihrer Verdienste
hatten sie die Verheißung empfangen, sondern aufgrund der freien Entscheidung
Gottes und seiner Liebe (vgl. Dt 10, 15).
Und nun bittet Mose, dass der Herr seine Geschichte der Erwählung und
des Heils in der Treue fortsetzt und seinem Volk vergibt. Der Fürsprecher
bringt keine Entschuldigungen für die Sünde seines Volkes vor, er zählt weder
dessen, noch seine eigenen mutmaßlichen Verdienste auf, sondern er beruft sich
auf das gnädige Handeln Gottes: ein freier Gott, ganz und gar Liebe, der nicht
nachlässt, nach denen zu suchen, die sich entfernt haben, der sich selbst immer
treu bleibt und dem Sünder die Möglichkeit anbietet, zu Ihm zurückzukehren und
durch die Vergebung gerecht und der Treue fähig zu werden.
Mose bittet Gott, sich stärker auch als die Sünde und der Tod zu
erweisen, und durch sein Gebet ruft er diese göttliche Offenbarung hervor. Als
Mittler des Lebens zeigt sich der Fürsprecher solidarisch mit dem Volk; allein
nach dem Heil verlangend, nach dem Gott selbst verlangt, verzichtet er auf die
Perspektive, ein neues, dem Herrn wohlgefälliges Volk zu werden. Der Satz, den
Gott an ihn gerichtet hatte: "Dich aber will ich zu einem großen Volk machen",
wird von dem "Freund" Gottes nicht einmal in Betracht gezogen, der stattdessen
bereit ist, nicht nur die Schuld seines Volkes auf sich zu nehmen, sondern alle
Folgen. Als er nach der Zerstörung des Goldenen Kalbs auf den Berg zurückkehrt,
um von Neuem für das Heil Israels zu bitten, wird er
zum Herrn sagen: "Doch jetzt nimm ihre Sünde von ihnen! Wenn nicht, dann
streich mich aus dem Buch, das du angelegt hast" (V. 32). Mit dem Gebet, den
Wunsch Gottes verlangend, tritt der Fürsprecher immer tiefer in die Erkenntnis
des Herrn und seiner Barmherzigkeit ein und wird einer Liebe fähig, die bis zur
vollkommenen Selbsthingabe reicht.
In Mose, der Gott auf dem Gipfel des Berges von Angesicht zu Angesicht
gegenübersteht, sich zum Fürsprecher seines Volkes macht und sich selbst
anbietet – "streich mich" – haben die Kirchenväter eine Vorwegnahme Christi
gesehen, der auf der Höhe des Kreuzes wirklich vor Gott steht, nicht nur als
Freund, sondern als Sohn. Und er bietet sich nicht nur selbst an – "streich
mich" –, sondern mit seinem durchbohrten Herzen lässt er sich "streichen", wird
er, wie der heilige Paulus selbst sagt, Sünde, nimmt er unsere Sünden auf sich,
um uns zu erlösen; seine Fürsprache ist nicht nur Solidarität, sondern
Identifikation mit uns: Er trägt uns alle in seinem Leib. Und so ist sein
ganzes Dasein als Mensch und Sohn ein Schrei zum Herzen Gottes, es ist
Vergebung, aber eine Vergebung, die verwandelt und erneuert.
Ich denke, dass wir darüber nachdenken müssen: Christus steht vor dem
Angesicht Gottes und bittet für mich. Sein Gebet am Kreuz ist gleichzeitig für
alle Menschen, ist gleichzeitig für mich: Er betet für mich, er hat für mich
gelitten und leidet für mich, er hat sich mit mir identifiziert, indem er
unseren Leib und die menschliche Seele angenommen hat. Und er lädt uns dazu
ein, in diese seine Identität einzutreten, indem wir uns zu einem Leib und
einem Geist mit Ihm machen, da Er uns von der Höhe des Kreuzes aus nicht neue
Gesetze, Tafeln aus Stein gebracht hat, sondern sich selbst, seinen Leib und
sein Blut, als neuen Bund. So macht er uns zu Seinen Blutsverwandten, zu einem
Leib mit Ihm, nimmt er uns in Sich auf. Er lädt uns ein, uns darauf
einzulassen, mit Ihm vereint zu sein in unserem Wunsch, ein Leib, ein Geist mit
Ihm zu sein. Bitten wir den Herrn, dass diese Identifizierung uns verwandele und erneuere, denn die Vergebung ist Erneuerung,
ist Verwandlung.
Ich möchte diese Katechese mit den Worten des Apostels Paulus an die
Christen von Rom abschließen: "Wer kann die Auserwählten Gottes anklagen? Gott
ist es, der gerecht macht. Wer kann sie verurteilen? Christus Jesus, der
gestorben ist, mehr noch: der auferweckt worden ist, sitzt zur Rechten Gottes
und tritt für uns ein. Was kann uns scheiden von der Liebe Christi? (...) Weder
Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte (...) noch irgendeine andere Kreatur
können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem
Herrn" (Röm 8, 33–35.38.39).