Papst Benedikt XVI.
Generalaudienz am 7.9.11
Gebet im AT: Dialektik der Psalmen
Liebe Brüder und Schwestern!
Der Psalm beginnt mit einer
Anrufung des Herrn: Herr, wie zahlreich sind meine Bedränger; so viele stehen
gegen mich auf. Viele gibt es, die von mir sagen: ,Er
findet keine Hilfe bei Gott'" (V. 2–3).
Die Beschreibung, die der Beter
von seiner Lage liefert, ist also von stark dramatischen Tönen gezeichnet.
Dreimal wird auf das Bild der Überzahl verwiesen – "zahlreich", "so viele",
"viele" –, was im Ursprungstext mit derselben hebräischen Wortwurzel
ausgedrückt wird, um so, durch die fast quälende Wiederholung, noch deutlicher
die Ungeheuerlichkeit der Gefahr hervorzuheben. Dieses eindringliche
Wiederholen von Zahl und Größe der Feinde dient dazu, das Empfinden – seitens
des Psalmisten – der vollkommenen Unverhältnismäßigkeit zum Ausdruck zu
bringen, die zwischen ihm und seinen Verfolgern besteht, eine
Unverhältnismäßigkeit, die die Dringlichkeit seiner Bitte um Hilfe rechtfertigt
und begründet: Es sind so viele Unterdrücker, sie gewinnen die Oberhand,
während der Beter allein und wehrlos ist, seinen Angreifern ausgeliefert.
Dennoch ist das erste Wort, das
der Psalmist spricht, "Herr"; sein Ruf beginnt mit einer Anrufung Gottes. Die
Überzahl, die ihn bedroht und sich gegen ihn erhebt, ruft eine Furcht hervor,
die die Bedrohung verstärkt, indem sie diese noch größer und schrecklicher erscheinen
lässt; doch der Beter lässt sich nicht von dieser Vision des Todes besiegen, er
hält an seiner Beziehung mit dem Gott des Lebens fest und wendet sich auf der
Suche nach Hilfe als erstes an Ihn.
Doch die Feinde versuchen, auch
diese Beziehung zu Gott zu zerstören und den Glauben ihres Opfers zu
zerbrechen. Sie reden ihm ein, der Herr könne nicht eingreifen und behaupten,
nicht einmal Gott könne ihn retten. Die Aggression ist also nicht nur physisch,
sondern berührt eine geistige Dimension: "Er findet keine Hilfe bei Gott" – so
sagen sie – der tiefste seelische Kern des Psalmisten wird angegriffen. Das ist
die äußerste Versuchung, welcher der Gläubige ausgesetzt ist, die Versuchung,
den Glauben zu verlieren, das Vertrauen auf Gottes Nähe. Der Gerechte besteht
die letzte Prüfung, er bleibt fest im Glauben, in der Gewissheit der Wahrheit
und im vollen Vertrauen auf Gott, und gerade so findet er den Weg und die
Wahrheit. Mir scheint, dass der Psalm uns hier ganz persönlich berührt: Bei so
vielen Schwierigkeiten sind wir versucht, zu denken, dass vielleicht auch Gott
mich nicht rettet, mich nicht kennt, mir vielleicht nicht helfen kann; die
Versuchung gegen den Glauben ist der letzte Angriff des Feindes und diesem
müssen wir widerstehen – so finden wir Gott, und so finden wir das Leben.
Der Beter unseres Psalms ist
also aufgerufen, mit dem Glauben auf die Angriffe der Frevler zu antworten: die
Feinde leugnen – wie gesagt – dass Gott ihm helfen kann, doch er ruft Ihn an,
er ruft Ihn beim Namen, "Herr", und dann wendet er sich mit einem
nachdrücklichen "du" an Ihn, das eine solide, feste Beziehung zum Ausdruck
bringt und die Gewissheit der göttlichen Antwort in sich birgt: "Du aber, Herr,
bist ein Schild für mich, du bist meine Ehre und richtest mich auf. Ich habe
laut zum Herrn gerufen; da erhörte er mich von seinem heiligen Berg" (V. 4–5).
Das Bild der Feinde
verschwindet jetzt, sie haben nicht gesiegt, denn derjenige, der an Gott
glaubt, ist gewiss, dass Gott sein Freund ist: es bleibt nur das "Du" Gottes,
den "vielen" wird jetzt ein Einziger entgegengesetzt, der jedoch viel größer
und mächtiger ist als viele Feinde. Der Herr ist Hilfe, Schutz, Heil, als
Schild schützt er den, der sich Ihm anvertraut und richtet ihn auf, in einer
Geste des Triumphs und des Sieges. Der Mensch ist nicht mehr allein, die Feinde
sind nicht so unbesiegbar, wie sie schienen, weil der Herr den Ruf des
Unterdrückten hört und vom Ort Seiner Gegenwart, von Seinem heiligen Berg aus
antwortet. Der Mensch schreit in der Angst, in der Gefahr, im Leid; der Mensch
bittet um Hilfe und Gott antwortet. Diese Verknüpfung von menschlichem Rufen
und göttlicher Antwort ist die Dialektik des Gebets und der Schlüssel zum
Verständnis der ganzen Heilsgeschichte.
Das Rufen bringt das Bedürfnis
nach Hilfe zum Ausdruck und beruft sich auf die Treue des Anderen; rufen
bedeutet eine Geste des Glaubens an die Nähe Gottes und an Seine Bereitschaft
zum Hören. Das Gebet bringt die Gewissheit einer bereits erfahrenen und
geglaubten göttlichen Gegenwart zum Ausdruck, die sich in der göttlichen
Heilsantwort in Fülle zeigt. Das ist bedeutsam: dass in unserem Gebet die
Gewissheit der Gegenwart Gottes wichtig, gegenwärtig ist. So bekennt der
Psalmist, der sich vom Tod bedroht sieht, seinen Glauben an den Gott des
Lebens, der ihn, wie ein Schild, mit einem unbesiegbaren Schutz umgibt; wer
dachte, er sei nun verloren, kann sein Haupt erheben, weil der Herr ihn rettet;
der Beter, bedroht und verhöhnt, ist in Ehren, weil Gott seine Ehre ist.
Die göttliche Antwort, mit der
das Gebet angenommen wird, schenkt dem Psalmisten vollkommene Sicherheit; auch
die Angst ist vorüber und der Ruf beruhigt sich im Frieden, in einer tiefen
inneren Gelassenheit: "Ich lege mich nieder und schlafe ein, ich wache wieder
auf, denn der Herr beschützt mich. Viele Tausende von Kriegern fürchte ich
nicht, wenn sie mich ringsum belagern." (V. 6–7).
Der Beter kann, obgleich er
sich in Gefahr und im Kampf befindet, ruhig einschlafen, in einer
unmissverständlichen Haltung des vertrauensvollen Sich-Überlassens. Um ihn
herum sind die Feinde, sie belagern ihn, es sind viele, sie erheben sich gegen
ihn, sie verhöhnen ihn und versuchen, ihn zu Fall zu bringen, doch er legt sich
nieder und schläft ruhig und friedlich, der Gegenwart Gottes gewiss. Und als er
aufwacht, findet er Gott immer noch bei sich, als Hüter, der nicht schläft
(vgl. Ps 121, 3–4), der ihm beisteht, ihn bei der Hand hält, ihn niemals im
Stich lässt. Die Angst vor dem Tod wird durch die Gegenwart Dessen besiegt, der
nicht stirbt. Und gerade die Nacht, die von Urängsten bevölkert wird, die
schmerzhafte Nacht der Einsamkeit und des ängstlichen Wartens, wird nun
verwandelt: Das, was den Tod heraufbeschwört, wird Gegenwart des Ewigen.
Der Sichtbarkeit des massiven,
furchterregenden feindlichen Ansturms wird die unsichtbare Gegenwart Gottes mit
all seiner unbezwingbaren Macht entgegengesetzt. Und an Ihn wendet sich der
Psalmist, nachdem er sein Vertrauen zum Ausdruck gebracht hat, erneut mit dem
Gebet: "Herr, erhebe dich, mein Gott, bring mir Hilfe!" (V. 8a). Die Angreifer
"standen auf" (vgl. V. 2) gegen ihr Opfer, und hier hingegen "erhebt" sich der
Herr und wird sie zerschmettern. Gott wird auf seinen Ruf antworten und ihn
erretten. Daher schließt der Psalm mit dem Bild der Befreiung aus der tödlichen
Gefahr und aus der Versuchung, die den Untergang bedeuten kann.
Nach der an den Herrn
gerichteten Bitte, sich zu erheben, um Hilfe zu bringen, beschreibt der Beter
den göttlichen Sieg: Die Feinde, die mit ihrer ungerechten und grausamen
Unterdrückung ein Symbol für alles sind, was sich Gott und seinem Heilsplan
widersetzt, werden besiegt. Am Kiefer getroffen, werden sie nicht mehr mit
ihrer zerstörerischen Gewalt angreifen können, werden sie nicht mehr das Übel
des Zweifels an der Gegenwart und am Wirken Gottes hervorrufen können: ihr
unsinniges und gotteslästerliches Reden ist endgültig widerrufen und durch das
heilbringende Eingreifen des Herrn zum Schweigen gebracht worden (vgl. V. 8
bc). So kann der Psalmist sein Gebet mit einem Satz mit liturgischen Konnotationen
beenden, der durch Lobpreis und in Dankbarkeit den Gott des Lebens feiert:
"Beim Herrn findet man Hilfe. Auf dein Volk komme dein Segen!" (V. 9).
Liebe Brüder und Schwestern,
Psalm 3 zeigt uns eine Bitte voller Vertrauen und Trost. Wenn wir diesen Psalm
beten, können wir uns die Gefühle des Psalmisten zu eigen machen, der Figur des
verfolgten Gerechten, die in Jesus ihre Erfüllung findet. Im Schmerz, in der
Gefahr, im Gram, den Unverständnis und Kränkung hervorrufen, öffnen die Worte
des Psalms unser Herz der tröstlichen Gewissheit des Glaubens. Gott ist immer
nah – auch in schweren Lagen, bei Problemen, in den Dunkelheiten des Lebens –,
er hört, er antwortet und er rettet auf Seine Weise. Doch man muss Seine
Gegenwart zu erkennen und Seine Wege anzunehmen wissen – wie David auf seiner
demütigenden Flucht vor seinem Sohn Abschalom, wie der verfolgte Gerechte aus
dem Buch der Weisheit und schließlich und auf vollkommene Weise, wie Jesus, der
Herr, auf Golgatha. Und wenn in den Augen der Frevler Gott nicht einzugreifen
scheint und der Sohn stirbt, gerade dann zeigt sich für alle Gläubigen die
wahre Herrlichkeit und die endgültige Verwirklichung des Heils. Möge der Herr
uns Glaubens schenken, unserer Schwäche zu Hilfe kommen und uns fähig machen,
in jeder Angst, in den leidvollen Nächten des Zweifels und an den langen Tagen
des Schmerzes, zu glauben und zu beten, indem wir uns voller Vertrauen Ihm
überlassen, der unser "Schild" und unsere "Ehre" ist. Danke.