Papst Benedikt XVI.
Generalaudienz am 30.11.11
Gebet im NT: Jesus am
Jordan
Liebe Brüder und Schwestern!
"Gerechtigkeit bedeutet im Kontext der Bibel, ganz den Willen Gottes
anzunehmen"
Ein besonders bedeutungsreicher Moment dieses seines Weges ist das
Gebet, das auf die Taufe folgt, der er sich im Jordan unterzieht. Der
Evangelist Lukas schreibt, dass Jesus, nachdem er gemeinsam mit dem ganzen Volk
durch die Hand Johannes des Täufers die Taufe empfangen hat, ein langes und
sehr persönliches Gebet beginnt: "Zusammen mit dem ganzen Volk ließ auch Jesus
sich taufen. Und während er betete, öffnete sich der Himmel und der Heilige
Geist kam (...) auf ihn herab" (Lk 3, 21–22). Gerade dieses Beten im Dialog mit
dem Vater erhellt die Handlung, die er gemeinsam mit vielen anderen seines
Volkes, die am Jordan zusammengekommen waren, vollzogen hat. Durch das Gebet
verleiht Er dieser seiner Handlung, der Taufe, ein exklusives und persönliches
Merkmal.
Der Täufer hatte alle eindringlich dazu aufgerufen, dadurch, dass sie
sich zum Guten bekehren und Früchte hervorbringen, die einer solchen
Veränderung würdig sind, wirklich als "Kinder Abrahams" zu leben (vgl. Lk 3,
7–9). Und eine große Anzahl von Israeliten hatte sich in Bewegung gesetzt, wie
der Evangelist Markus in Erinnerung ruft, der schreibt: "Ganz Judäa und alle
Einwohner Jerusalems zogen zu ihm hinaus; sie bekannten ihre Sünden und ließen
sich im Jordan von ihm taufen" (Mk 1, 5). Der Täufer brachte etwas wirklich
Neues: Sich der Taufe zu unterziehen, sollte eine entscheidende Wende
bezeichnen, das Ablassen von einem von der Sünde geprägten Verhalten und der
Beginn eines neuen Lebens. Auch Jesus nimmt diese Aufforderung an, tritt ein in
die graue Menge der Sünder, die am Ufer des Jordan warten. Doch wie den ersten
Christen, so stellt sich auch uns die Frage: Warum unterzieht sich Jesus
freiwillig dieser Taufe der Buße und der Umkehr? Er hat keine Sünden zu
bekennen, er war ohne Sünde, also bedurfte er auch nicht der Umkehr. Warum also
diese Geste? Der Evangelist Matthäus gibt sowohl das Erstaunen des Täufers
wider, der sagt: "Ich müsste von dir getauft werden, und du kommst zu mir?" (Mt
3, 14), als auch die Antwort Jesu: "Lass es nur zu! Denn nur so können wir die
Gerechtigkeit (die Gott fordert) ganz erfüllen" (V. 15). Der Begriff
"Gerechtigkeit" bedeutet im Kontext der Bibel, ganz den Willen Gottes
anzunehmen. Jesus zeigt seine Nähe zu jenem Teil des Volkes, der es, dem Täufer
folgend, als unzureichend erachtet, sich einfach nur als Kinder Abrahams zu
betrachten, sondern den Willen Gottes erfüllen will, der sich bemühen will,
dass sein Verhalten eine treue Antwort auf den von Gott in Abraham angebotenen
Bund darstellt. Indem Jesus also ohne Sünde in den Fluss Jordan hinabsteigt,
macht er seine Solidarität mit jenen sichtbar, die ihre Sünden erkennen und
beschließen, zu bereuen und ihr Leben zu ändern; er macht deutlich, dass Teil
des Gottesvolks zu sein bedeutet, in die Optik eines neuen Lebens, eines
gottgemäßen Lebens einzutreten.
In dieser Geste nimmt Jesus das Kreuz vorweg, beginnt er sein Wirken,
indem er die Stelle der Sünder einnimmt, die Last der Schuld der ganzen
Menschheit auf seine Schultern nimmt und den Willen des Vaters erfüllt. Indem
er sich im Gebet sammelt, zeigt Jesus die enge Verbindung zum Vater im Himmel,
erfährt er seine Vaterschaft, begreift die anspruchsvolle Schönheit seiner
Liebe, und im Gespräch mit dem Vater empfängt er die Bestätigung seiner Sendung.
In den Worten, die aus dem Himmel kommen (vgl. Lk 3, 22), findet sich bereits
der Hinweis auf das Ostergeheimnis, auf das Kreuz und auf die Auferstehung. Die
Stimme Gottes nennt ihn "mein geliebter Sohn" und verweist damit auf Isaak, den
geliebten Sohn, den zu opfern sein Vater Abraham nach dem Gebot Gottes bereit
war (vgl. Gen 22, 1–14). Jesus ist nicht nur der Sohn Davids, der messianische
Königsnachkomme, oder der Knecht, an dem Gott sein Wohlgefallen hat, sondern er
ist auch – ähnlich wie Isaak – der eingeborene, der geliebte Sohn, den Gott,
der Vater, zum Heil der Welt hingibt. In dem Moment, in dem Jesus durch das
Gebet seine Sohnschaft und die Erfahrung der Vaterschaft Gottes auf tiefste
Weise lebt (vgl. Lk 3, 22 b), kommt der Heilige Geist herab (vgl. Lk 3, 22a),
der ihn in seine Sendung führt und den Er ausgießen wird, nachdem er ans Kreuz
erhoben worden sein wird (vgl. Joh 1, 32–34; 7, 37–39), damit er das Wirken der
Kirche erleuchte. Im Gebet lebt Jesus eine dauernde Verbindung zum Vater, um
den Liebesplan für die Menschen bis zum Letzten zu erfüllen.
In unserem Beten müssen wir lernen, in diese Heilsgeschichte
einzutreten"
Vor dem Hintergrund dieses außergewöhnlichen Gebets ist das ganze
Dasein Jesu zu sehen, das in einer Familie gelebt wird, die zutiefst mit der
religiösen Tradition des Volkes Israel verbunden ist. Das zeigen die Hinweise,
die wir in den Evangelien finden: seine Beschneidung (vgl. Lk 2, 21) und seine
Weihe im Tempel (vgl. Lk 2, 22–24) so wie auch seine Erziehung und Ausbildung
in Nazareth, im Haus von Maria und Josef (vgl. Lk 2, 39–40 und 2, 51–52). Es
handelt sich um einen Zeitraum von "etwa dreißig Jahren" (vgl. Lk 3, 23), eine
lange Zeit des Lebens im Verborgenen und der normalen Werktage, wenn auch mit
Erfahrungen der Teilnahme an Momenten gemeinsamer religiöser Ausdrucksformen,
wie den Pilgerreisen nach Jerusalem (vgl. Lk 2, 41).
Indem der Evangelist Lukas uns die Episode des zwölfjährigen Jesus
erzählt, der im Tempel mitten unter den Lehrern sitzt (vgl. Lk 2, 42–52), lässt
er uns erahnen, dass Jesus, der nach der Taufe im Jordan betet, schon lange die
Gewohnheit hat, auf vertraute Weise zu Gott, dem Vater, zu beten, die in der
Tradition verwurzelt ist, in der Haltung seiner Familie, in den entscheidenden
Erfahrungen, die er in ihr erlebt hat. Die Antwort, die der Zwölfjährige Maria
und Josef gibt, zeigt bereits die Gottessohnschaft an, die die Stimme aus dem
Himmel nach der Taufe offenbart: "Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr
nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?" (Lk 2, 49). Nachdem
Jesus aus dem Wasser des Jordan steigt, betet er nicht zum erstenmal, sondern
führt seinen ständigen, gewohnten Umgang mit dem Vater fort; und in dieser
engen Verbindung zu Ihm vollzieht er den Übergang von seinem verborgenen Leben
in Nazareth zu seinem öffentlichen Wirken.
Die Lehre Jesu über das Gebet geht sicher aus seiner in der Familie
erworbenen Weise zu beten hervor, doch sie hat ihren tiefen und wesentlichen
Ursprung in seiner Gottessohnschaft, in seiner einzigartigen Beziehung zu Gott,
dem Vater. Das Kompendium des Katechismus der Katholischen Kirche beantwortet
die Frage "Von wem hat Jesus beten gelernt?" folgendermaßen: "In seinem
menschlichen Herzen hat Jesus von seiner Mutter und von der jüdischen Tradition
beten gelernt. Sein Gebet entspringt aber auch einer anderen verborgenen
Quelle: Er ist der ewige Sohn Gottes, der in seiner heiligen Menschheit das
vollkommene kindliche Gebet an den Vater richtet" (541).
In den Evangelienberichten wird das Gebet Jesu immer am Schnittpunkt
zwischen der Einfügung in die Tradition seines Volkes und der Neuheit einer
einzigartigen persönlichen Beziehung zu Gott angesiedelt. Der "einsame Ort"
(vgl. Mk 1, 35; Lk 5, 16), an den er sich oft zurückzieht, der "Berg", auf den
er geht, um zu beten, (vgl. Lk 6, 12; 9, 28), die Nacht, die ihm erlaubt,
allein zu sein (vgl. Mk 1, 35; 6, 46–47; Lk 6, 12) erinnern an Momente des
Offenbarungsweges Gottes im Alten Testament und zeigen die Kontinuität seines
Heilsplans auf. Doch gleichzeitig bezeichnen sie Momente von besonderer
Bedeutung für Jesus, der sich bewusst in diesen Plan einfügt, in vollkommener
Treue gegenüber dem Willen des Vaters.
Auch in unserem Beten müssen wir immer mehr lernen, in diese
Heilsgeschichte einzutreten, deren Höhepunkt Jesus ist; vor Gott unsere
persönliche Entscheidung zu erneuern, uns seinem Willen zu öffnen; von Ihm die
Kraft zu erbitten, in unserem ganzen Leben unseren Willen dem Seinen
anzupassen, im Gehorsam gegenüber seinem Liebesplan für uns.
Das Gebet Jesu berührt alle Phasen seines Wirkens und alle seine Tage.
Mühsal kann es nicht beeinträchtigen. Die Evangelien deuten vielmehr die
Gewohnheit Jesu an, einen Teil der Nacht im Gebet zu verbringen. Der Evangelist
Markus berichtet über eine dieser Nächte nach dem anstrengenden Tag der
Brotvermehrung und schreibt: "Gleich darauf forderte er seine Jünger auf, ins
Boot zu steigen und ans andere Ufer nach Betsaida vorauszufahren. Er selbst
wollte inzwischen die Leute nach Hause schicken. Nachdem er sich von ihnen
verabschiedet hatte, ging er auf einen Berg, um zu beten. Spät am Abend war das
Boot mitten auf dem See, er aber war allein an Land" (Mk 6, 45–47). Wenn
dringende und komplexe Entscheidungen anstehen, wird sein Gebet länger und
intensiver. So weist Lukas etwa darauf hin, dass Jesus kurz vor der Auswahl der
zwölf Apostel die ganze Nacht betet, um sich vorzubereiten: "In diesen Tagen
ging er auf einen Berg, um zu beten. Und er verbrachte die ganze Nacht im Gebet
zu Gott. Als es Tag wurde, rief er seine Jünger zu sich und wählte aus ihnen
zwölf aus; sie nannte er auch Apostel" (Lk 6, 12–13).
"Gebet ist ein Geschenk, doch es
muss angenommen werden"
Wenn wir auf das Gebet Jesu blicken, muss sich auch uns die Frage stellen:
Wie bete ich? Wie beten wir? Welche Zeit widme ich der Beziehung zu Gott? Sind
Erziehung und Ausbildung zum Gebet heute ausreichend? Und wer kann es uns
lehren? Im Apostolischen Schreiben "Verbum Domini" habe ich über die Bedeutung
des betenden Lesens der Heiligen Schrift gesprochen. Nach der Sammlung dessen,
was aus der Versammlung der Bischofssynode hervorgegangen war, habe ich vor
allem die besondere Form der "lectio divina" betont. Hören, meditieren,
schweigen vor dem Herrn, der spricht, ist eine Kunst, die man lernt, indem man
sie beständig übt. Gewiss ist das Gebet ein Geschenk, doch es muss angenommen
werden; es ist Wirken Gottes, doch es erfordert Bemühen und Beständigkeit
unsererseits; vor allem die Beständigkeit und die Beharrlichkeit sind wichtig.
Gerade die beispielhafte Erfahrung Jesu zeigt, dass sein Beten, erfüllt von der
Vaterschaft Gottes und der Gemeinschaft mit dem Heiligen Geist, sich zu einer
langen und treuen Übung vertieft hat, bis hin zum Garten Getsemani und zum
Kreuz. Heute sind die Christen berufen, Zeugen des Gebets zu sein, gerade weil
unsere Welt gegenüber dem Göttlichen und der Hoffnung, die die Begegnung mit
Gott bringt, häufig verschlossen ist. In der tiefen Freundschaft zu Jesus und
indem wir in Ihm und mit Ihm die kindhafte Beziehung zum Vater leben, können
wir durch unser treues und beständiges Gebet Fenster zum Himmel Gottes öffnen.
Ja, indem wir dem Weg des Gebets folgen – ohne dabei nur auf uns selbst zu
achten –, können wir auch anderen helfen, ihm zu folgen: Auch für das
christliche Gebet gilt, dass sich während des Voranschreitens neue Wege
eröffnen.
Liebe Brüder und Schwestern, erziehen wir uns zu einer intensiven
Beziehung zu Gott, zu einem nicht nur gelegentlichen, sondern beständigen
vertrauensvollen Beten, das unser Leben zu erhellen vermag, wie Jesus uns
lehrt. Und bitten wir Ihn, den Menschen, die uns nahestehen, denjenigen, denen
wir auf unserem Weg begegnen, die Freude der Begegnung mit dem Herrn, dem Licht
unseres Daseins, vermitteln zu können. Danke.