Papst Benedikt XVI.: Ansprache während der Generalaudienz am 26.11.08:

Paulus (14)

Liebe Brüder und Schwestern!

In der Katechese am vergangenen Mittwoch habe ich über die Frage gesprochen, wie der Mensch vor Gott gerecht werden kann. Dem heiligen Paulus folgend haben wir gesehen, dass der Mensch nicht in der Lage ist, mittels seiner eigenen Handlungen „gerecht“ zu werden, sondern dass er vor Gott nur deshalb wirklich „gerecht“ werden kann, weil Gott ihm seine „Gerechtigkeit“ verleiht, indem er ihn mit Christus, seinem Sohn vereint. Und diese Vereinigung mit Christus erhält der Mensch durch den Glauben. In diesem Sinne sagt uns der heilige Paulus: nicht unsere Werke, sondern der Glaube macht uns „gerecht“. Dieser Glaube ist jedoch kein Gedanke, keine Meinung, keine Vorstellung. Dieser Glaube ist Gemeinschaft mit Christus, die der Herr uns schenkt, und wird daher Leben, wird Übereinstimmung mit Ihm. Oder, mit anderen Worten, der Glaube wird, wenn er wahr, wenn er real ist, Liebe, er wird Nächstenliebe, er drückt sich in der Nächstenliebe aus. Ein Glaube ohne Nächstenliebe, ohne diese Frucht, wäre kein wahrer Glaube. Es wäre ein toter Glaube.

Missverständnisse über die Rechtfertigungslehre

Wir haben also in der letzten Katechese zwei Ebenen entdeckt: die Ebene der Unerheblichkeit unserer Handlungen, unserer Werke, um das Heil zu erlangen und die andere Ebene der „Rechtfertigung“ durch den Glauben, die die Frucht des Geistes hervorbringt. Die Vermengung dieser beiden Ebenen hat im Laufe der Jahrhunderte nicht wenige Missverständnisse unter den Christen hervorgerufen. In diesem Kontext ist es wichtig, dass der heilige Paulus im Brief an die Galater nicht nur auf radikale Weise das Gewicht auf die Ungeschuldetheit der Rechtfertigung, die nicht für unsere Werke erfolgt, legt, sondern gleichzeitig auch die Verbindung zwischen Glaube und Nächstenliebe, zwischen Glaube und Werken hervorhebt: „Denn in Christus Jesus kommt es nicht darauf an, beschnitten oder unbeschnitten zu sein, sondern darauf, den Glauben zu haben, der in der Liebe wirksam ist“ (Gal 5, 6). Folglich gibt es auf der einen Seite die „Werke des Fleisches“, als da sind „Unzucht, Unsittlichkeit, ausschweifendes Leben, Götzendienst...“ (Gal 5, 19–21): lauter Werke, die dem Glauben entgegenstehen; auf der anderen Seite gibt es das Wirken des Heiligen Geistes, der das christliche Leben speist und „Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung“ (Gal 5, 22) hervorruft: das ist die Frucht des Geistes, die aus dem Glauben erblüht.

Am Anfang dieser Auflistung von Tugenden wird die „Agape“, die Liebe angeführt und am Ende die Selbstbeherrschung. Der Geist, der die Liebe des Vaters und des Sohnes ist, gießt seine erste Gabe, die „Agape“, in unsere Herzen (vgl. Röm 5, 5); und die „Agape“, die Liebe, bedarf der Selbstbeherrschung, um sich in Fülle äußern zu können. Über die Liebe des Vaters und des Sohnes, die zu uns kommt und unser Dasein zutiefst verwandelt, habe ich auch in meiner ersten Enzyklika „Deus caritas est“ gesprochen. Die Gläubigen wissen, dass in der gegenseitigen Liebe die Liebe Gottes und die Liebe Christi durch den Heiligen Geist verkörpert wird.

Kommen wir auf den Brief an die Galater zurück. Hier sagt der heilige Paulus, dass die Gläubigen das Liebesgebot erfüllen, wenn einer des anderen Last trägt (vgl. Gal 6, 2). Gerechtfertigt durch das Geschenk des Glaubens an Christus sind wir dazu berufen, in der Liebe Christi für den Nächsten zu leben, denn nach diesem Maßstab werden wir am Ende unseres Daseins gerichtet werden.

Eigentlich wiederholt Paulus nur das, was Jesus selbst gesagt hat und was wir im Evangelium des vergangenen Sonntags im Gleichnis vom Weltgericht gehört haben. Im ersten Brief an die Korinther verbreitet sich der heilige Paulus in einem berühmten Lobgesang über die Liebe. Es ist das sogenannte Hohelied der Liebe: „Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke.... Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil.“ (1 Kor 13, 1.4–5). Die christliche Liebe ist so besonders anspruchsvoll, da sie aus der vollkommenen Liebe Christi zu uns hervorgeht: diese Liebe fordert uns, nimmt uns auf, umfasst uns, stützt uns, ja quält uns, da sie jeden dazu zwingt, nicht mehr für sich selbst zu leben, verschlossen in seinem Egoismus, sondern „für den, der für sie starb und auferweckt wurde“ (2 Kor 5, 15). Die Liebe Christi lässt uns in Ihm jene neue Schöpfung werden (vgl. 2 Kor 5, 17), die Teil seines mystischen Leibes, der Kirche, wird.

Aus dieser Perspektive betrachtet, steht die Zentralität der Rechtfertigung ohne Werke, das Hauptthema der Verkündigung des heiligen Paulus, nicht im Gegensatz zum Glauben, der durch die Liebe wirkt; sie fordert vielmehr, dass sich unser Glaube in einem Leben nach dem Geist ausdrückt. Häufig hat man einen unbegründeten Gegensatz zwischen der Theologie des heiligen Paulus und der des heiligen Jakobus gesehen, der in seinem Brief schreibt: „Denn wie der Körper ohne den Geist tot ist, so ist auch der Glaube tot ohne Werke“ (2, 26). In Wirklichkeit setzt Jakobus den Akzent auf die Folgebeziehungen zwischen dem Glauben und den Werken (vgl. Jak 2, 2–4), während es Paulus vor allem darum geht, zu zeigen, dass der Glaube an Christus notwendig und ausreichend ist. Daher bezeugt sowohl für Paulus als auch für Jakobus der in der Liebe wirkende Glaube das ungeschuldete Geschenk der Rechtfertigung in Christus. Das in Christus empfangene Heil muss „mit Furcht und Zittern“ bewahrt und bezeugt werden, „denn Gott ist es, der in euch das Wollen und das Vollbringen bewirkt, noch über euren guten Willen hinaus. Tut alles ohne Murren und Bedenken... Haltet fest am Wort des Lebens“, wird der heilige Paulus den Christen in Philippi schreiben (vgl. Phil 2, 12–14.16).

Häufig neigen wir dazu, denselben Missverständnissen zu unterliegen, die für die Gemeinde in Korinth kennzeichnend waren: Jene Christen dachten, ihnen sei, da sie unbegründet in Christus durch den Glauben gerechtfertigt waren, „alles erlaubt“. Und sie dachten, und häufig scheinen auch die Christen heute so zu denken, dass es erlaubt sei, Spaltungen in der Kirche, im Leib Christi herbeizuführen; die Eucharistie zu feiern, ohne sich um die bedürftigen Brüder zu kümmern; nach den besten Gnadengaben zu streben, ohne sich darüber klar zu sein, gemeinsam Glieder eines Leibes zu sein, und so weiter. Die Folgen eines Glaubens, der sich nicht in der Liebe verkörpert, sind verheerend, da er sich auf reines Ermessen und auf den für uns und unsere Brüder schädlichsten Subjektivismus reduziert. Im Gegenteil, wenn wir dem heiligen Paulus folgen, müssen wir uns erneut der Tatsache bewusst werden, dass wir, gerade weil wir in Christus gerechtfertigt sind, nicht mehr uns selbst gehören, sondern Tempel des Geistes geworden und daher dazu aufgerufen sind, Gott in unserem Leib und durch unser ganzes Dasein zu verherrlichen (vgl. 1 Kor 6, 19). Es würde bedeuten, den unermesslichen Wert der Rechtfertigung zu verschleudern, wenn wir, die wir zu einem teuren Preis durch das Blut Christi erkauft wurden, ihn nicht durch unseren Leib verherrlichten. In Wirklichkeit ist gerade dies unser „vernünftiger“ und gleichzeitig „spiritueller“ Gottesdienst, für den Paulus uns auffordert, uns „selbst als lebendiges und heiliges Opfer darzubringen, das Gott gefällt“ (Röm 12, 1). Welche Verkürzung wäre eine nur an den Herrn gewendete Liturgie, wenn sie nicht gleichzeitig Dienst für die Brüder wäre, ein Glaube, der sich nicht in der Nächstenliebe ausdrücken würde? Und der Apostel konfrontiert seine Gemeinden häufig mit dem jüngsten Gericht, bei dem „wir alle vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden müssen, damit jeder seinen Lohn empfängt für das Gute oder Böse, das er im irdischen Leben getan hat (vgl. 2 Kor 5, 10; vgl. auch Röm 2, 16). Dieser Gedanke an das Gericht muss uns in unserem täglichen Leben erleuchten.

Christliche Ethik ergibt sich aus der Freundschaft mit dem Herrn

Wenn die Ethik, die Paulus den Gläubigen vorschlägt, nicht in eine Form von Moralismus absinkt und sich für uns als aktuell erweist, dann deswegen, weil sie jedes Mal immer vom persönlichen und gemeinschaftlichen Verhältnis zu Christus ausgeht, um sich im Leben nach dem Geist zu realisieren. Das ist ganz wesentlich: Die christliche Ethik entsteht nicht aus einem System von Geboten, sondern ist die Folge unserer Freundschaft mit Christus. Diese Freundschaft beeinflusst unser Leben: Wenn es eine wahre Freundschaft ist, verkörpert und realisiert sie sich in der Liebe zum Nächsten. Daher beschränkt sich jeglicher Niedergang der Ethik nicht auf die Privatsphäre, sondern ist gleichzeitig Abwertung des persönlichen und gemeinschaftlichen Glaubens. Daraus geht er hervor und darauf wirkt er auf entscheidende Weise ein. Lassen wir uns also von der Versöhnung ergreifen, die Gott uns in Christus geschenkt hat, von der „wahnsinnigen“ Liebe Gottes zu uns: Nichts und niemand kann uns je von seiner Liebe scheiden (vgl. Röm 8, 39). In dieser Gewissheit leben wir. Diese Gewissheit gibt uns die Kraft, konkret den Glauben zu leben, der in der Liebe wirkt.

 

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