Papst Benedikt XVI.
Generalaudienz am 14.1.09
Paulus (19)
Liebe Brüder und Schwestern!
Noch wichtiger ist die
Feststellung, dass nur in diesen beiden Briefen der Titel „Haupt“, kefalé, für
Jesus Christus bezeugt ist. Und dieser Titel wird auf zwei Ebenen verwendet. In
einem ersten Sinn wird Christus als das Haupt der Kirche verstanden (vgl. Kol
2, 18–19 und Eph 4, 15–16). Das bedeutet zweierlei: vor allem, dass er der
Herrscher, der Leiter, der Verantwortliche ist, der die christliche
Gemeinschaft als ihr Führer und ihr Herr lenkt (vgl. Kol 1, 18: „Er ist das
Haupt des Leibes, der Leib aber ist die Kirche“); die andere Bedeutung besagt,
dass er wie das Haupt ist, das alle Glieder des Leibes, denen er vorgestellt
ist, aktiviert und belebt (so sollte man nach Kol 2, 19 festhalten am „Haupt,
von dem aus der ganze Leib durch Gelenke und Bänder versorgt und
zusammengehalten wird“): Das heißt, er ist nicht nur jemand, der bestimmt,
sondern jemand, der organisch mit uns verbunden ist, von dem auch die Kraft
kommt, auf richtige Weise zu handeln.
In beiden Fällen wird die
Kirche als Christus untergeben angesehen, sowohl um seiner übergeordneten
Leitung – den Geboten – zu folgen, als auch um alle vitalen Einwirkungen
anzunehmen, die von Ihm ausgehen. Seine Gebote sind nicht nur Worte oder
Befehle, sondern lebendige Kräfte, die von ihm kommen und uns helfen.
Diese Vorstellung wird vor
allem im Epheserbrief entwickelt, wo sogar die Ämter der Kirche, statt auf den
Heiligen Geist zurückgeführt zu werden (wie 1 Kor 12), vom auferstandenen Christus
verliehen werden: „Er gab den einen das Apostelamt, andere setzte er als
Propheten ein, andere als Evangelisten, andere als Hirten und Lehrer“ (Eph 4,
11). Und „Durch ihn wird der ganze Leib zusammengefügt und gefestigt in jedem
einzelnen Gelenk. Jedes trägt mit der Kraft, die ihm zugemessen ist. So wächst
der Leib und wird in Liebe aufgebaut“ (Eph 4, 16). Christus ist ganz darauf
ausgerichtet, „die Kirche herrlich vor sich erscheinen (zu) lassen, ohne
Flecken, Falten oder andere Fehler; heilig soll sie sein und makellos“ (Eph 5,
27). Damit sagt er uns, dass die Kraft, mit der er die Kirche erbaut, mit der
er die Kirche führt, mit der er der Kirche auch die richtige Richtung vorgibt,
eben seine Liebe ist.
Die erste Bedeutung ist
also Christus als das Haupt der Kirche: sowohl hinsichtlich seiner Führung, als
auch vor allem hinsichtlich der Anregung und der organischen Belebung, die
kraft seiner Liebe erfolgt. Dann, in einem zweiten Sinn, wird Christus nicht
nur als das Haupt der Kirche betrachtet, sondern als Haupt der himmlischen
Mächte und des gesamten Kosmos. So lesen wir im Kolosserbrief: „Die Fürsten und
Gewalten hat er entwaffnet und öffentlich zur Schau gestellt; durch Christus
hat er über sie triumphiert“ (2, 15). Analog finden wir im Epheserbrief
geschrieben, dass Gott Christus mit seiner Auferstehung, „hoch über alle
Fürsten und Gewalten, Mächte und Herrschaften und über jeden Namen, der nicht
nur in dieser Welt, sondern auch in der zukünftigen genannt wird“ (1, 21)
erhoben hat. Mit diesen Worten überliefern uns die beiden Briefe eine äußerst
positive und fruchtbare Botschaft. Und zwar diese: Christus hat keinen
eventuellen Konkurrenten zu fürchten, weil er über jeder Form von Macht steht,
die sich anmaßen würde, den Menschen zu erniedrigen. Nur Er hat „uns geliebt
und sich für uns hingegeben“ (Eph 5, 2). Wenn wir mit Christus vereint sind,
brauchen wir daher keinen Feind und kein Unglück zu fürchten; doch das
bedeutet, dass wir uns gut an ihm festhalten müssen, ohne lockerzulassen!
Für die heidnische Welt,
die an eine Welt voller Geister glaubte, die zum großen Teil gefährlich waren
und gegen die man sich schützen musste, erschien die Ankündigung, dass Christus
der einzige Sieger war und dass derjenige, der mit Christus war, niemanden zu
befürchten hatte, wie eine wahre Befreiung. Dasselbe gilt auch für das
Heidentum von heute, da auch die derzeitigen Anhänger solcher Ideologien die
Welt voller gefährlicher Mächte sehen. Ihnen muss man verkündigen, dass
Christus der Sieger ist, so dass derjenige, der mit Christus ist, wer mit Ihm
vereint bleibt, nichts und niemanden zu fürchten braucht. Mir scheint, dass
dies auch für uns wichtig ist, die wir lernen müssen, all der Ängste Herr zu
werden, weil Er über jeder Herrschaft steht, weil Er der wahre Herr der Welt
ist.
Sogar der ganze Kosmos ist
ihm unterstellt und strebt auf ihn als seinem Haupt zu. Die Worte aus dem
Epheserbrief sind berühmt, die vom Plan Gottes sprechen, „in Christus alles zu
vereinen, alles, was im Himmel und auf Erden ist“ (1, 10). Analog ist im Brief
an die Kolosser zu lesen: „Denn in ihm wurde alles erschaffen im Himmel und auf
Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare“ (1, 16) sowie „Alles im Himmel und
auf Erden wollte er zu Christus führen, der Friede gestiftet hat am Kreuz durch
sein Blut“ (1, 20). Es gibt also nicht auf der einen Seite die große materielle
Welt und auf der anderen Seite unsere kleine irdische Geschichte, die Welt der
Menschen: alles ist eins in Christus. Er ist das Haupt des Kosmos; auch der
Kosmos ist von Ihm geschaffen, ist für uns geschaffen, insoweit wir mit Ihm
vereint sind. Es handelt sich um eine rationale und personalistische Sicht des
Universums. Und ich würde sagen, eine universalistischere Sicht als diese wäre
unmöglich zu konzipieren gewesen, und sie passt nur auf den auferstandenen
Christus. Christus ist der Pantokrátor, dem alle Dinge unterstellt sind: hier
denkt man etwa an den Christus Pantokrátor, der die Apsiden in den
byzantinischen Kirchen füllt, manchmal hoch über der ganzen Welt sitzend oder sogar
auf einem Regenbogen dargestellt, um seine Gleichstellung mit Gott anzuzeigen,
zu dessen Rechten er sitzt (vgl. Eph 1, 20; Kol 3, 1) und folglich auch seine
einzigartige Funktion als Lenker des menschlichen Schicksals.
Eine solche Sicht ist nur
von Seiten der Kirche denkbar, nicht im Sinne, dass sie sich unrechtmäßig
dessen bemächtigen möchte, was ihr nicht zusteht, sondern in einem weiteren
zweifachen Sinn: sowohl, insoweit die Kirche erkennt, dass Christus in gewisser
Weise größer ist als sie, da seine Herrschaft sich auch über ihre Grenzen
hinaus erstreckt, als auch insoweit nur die Kirche als Leib Christi bezeichnet
wird und nicht der Kosmos. All das bedeutet, dass wir das Irdische positiv
betrachten müssen, da Christus es in sich zusammenfasst, gleichzeitig müssen
wir unsere besondere kirchliche Identität in Fülle leben, die der Identität
Christi am ähnlichsten ist.
Des weiteren gibt es einen
besonderen Begriff, der typisch für diese beiden Briefe ist, und zwar den Begriff des „Geheimnisses“. Einmal ist die Rede vom
„Geheimnis des Willens“ Gottes (Eph 1, 9) und andere Male vom „Geheimnis
Christi“ (Eph 3, 4; Kol 4, 3) oder gar vom „göttlichen Geheimnis, das Christus
ist. In ihm sind alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen“ (Kol 2,
2–3). Es bedeutet den unergründlichen Plan Gottes in Bezug auf das Schicksal
des Menschen, der Völker und der Welt. Mit dieser Sprache sagen uns die beiden
Briefe, dass sich die Erfüllung dieses Geheimnisses in Christus findet. Wenn
wir mit Christus sind, dann wissen wir, auch wenn wir verstandesmäßig nicht
alles verstehen können, dass wir uns im Kern des „Geheimnisses“ und auf der
Straße der Wahrheit befinden. In Seiner Gesamtheit – und nicht nur in einem
Aspekt seiner Person oder in einem Augenblick seines Daseins – trägt er die
Fülle des unergründlichen göttlichen Heilsplans. In Ihm nimmt das Gestalt an,
was als die vielfältige Weisheit Gottes“ (Eph 3, 10) bezeichnet wird, „denn in
ihm allein wohnt wirklich die ganze Fülle Gottes“ (Kol 2, 9).
Von nun an ist es also nicht
möglich, die Gnade Gottes, seine höchste Verfügung zu denken oder anzubeten,
ohne dass wir uns persönlich mit Christus selbst auseinandersetzen, in dem
dieses „Geheimnis“ Fleisch wird und tatsächlich berührt werden kann. So gelangt
man dazu, den „unergründlichen Reichtum Christi“ (Eph 3, 8) zu betrachten, der
jedes menschliche Verständnis übersteigt. Nicht, dass Gott keine Spuren seines
Weges hinterlassen habe, da Christus selbst die Spur Gottes ist, sein größtes
Zeichen; doch man ist sich bewusst, welches „die Länge und Breite, die Höhe und
Tiefe“ dieses Geheimnisses ist, das „alle Erkenntnis übersteigt“ (Eph 3,
18–19). Rein geistige Kategorien erweisen sich hier als nicht ausreichend, und
in der Erkenntnis, dass viele Dinge jenseits unserer verstandesmäßigen
Kapazitäten liegen, müssen wir uns der demütigen und frohen Betrachtung nicht
nur des Verstandes, sondern auch des Herzens überlassen. Die Kirchenväter sagen
uns im übrigen, dass die Liebe mehr versteht, als die Vernunft allein.
Ein letztes Wort muss über
die eben bereits kurz angesprochene Vorstellung gesagt werden, die die Kirche
als Braut Christi versteht. Im zweiten Brief an die Korinther hatte der Apostel
Paulus die christliche Gemeinschaft mit einer Verlobten verglichen und
geschrieben: „Ich liebe euch mit der Eifersucht Gottes; ich habe euch einem
einzigen Mann verlobt, um euch als reine Jungfrau zu Christus zu führen“ (2 Kor
11, 2). Der Brief an die Epheser entwickelt dieses Bild weiter und präzisiert,
dass die Kirche nicht nur eine Verlobte, sondern die wirkliche Braut Christi
ist. Er hat sie sich sozusagen erobert, und er hat dies um den Preis seines
Lebens getan: wie es im Text heißt, hat er „sich für sie hingegeben“ (Eph 5,
25). Welche Liebesbezeugung könnte größer sein als diese? Doch er ist außerdem
um ihre Schönheit besorgt: nicht nur um die Schönheit, die bereits durch die
Taufe erworben wurde, sondern auch um die Schönheit, die jeden Tag dank eines
untadeligen Lebens größer werden muss, „ohne Flecken oder Falten“ in ihrem
moralischen Verhalten (vgl. Eph 5, 26–27). Von hier aus ist es ein kurzer
Schritt zur allgemeinen Erfahrung der christlichen Ehe; vielmehr ist nicht
einmal ganz klar, welches der ursprüngliche Bezugspunkt für den Verfasser des
Briefes war: ob es die Beziehung Christus–Kirche war, in deren Licht die
Verbindung von Mann und Frau gedacht wurde, oder ob es die Erfahrung der
ehelichen Verbindung war, in deren Licht die Beziehung zwischen Christus und
der Kirche zu denken war.
Doch beide Aspekte erhellen
sich gegenseitig: Im Licht der Gemeinschaft Christi mit der Kirche lernen wir,
was die Ehe bedeutet, und wenn wir an das Geheimnis der Ehe denken, lernen wir,
wie Christus sich mit uns vereint. In jedem Fall steht unser Brief
gewissermaßen auf halbem Weg zwischen dem Propheten Hosea, der das Verhältnis
zwischen Gott und seinem Volk mit den Worten einer bereits erfolgten Hochzeit
beschreibt (vgl. Hos 2, 4.16.21) und dem Seher der Apokalypse, der die
eschatologische Begegnung zwischen der Kirche und dem Lamm wie ein freudiges und
ewiges Hochzeitsmahl in Aussicht stellt (vgl. Offb 19, 7–9; 21, 9).
Es gäbe noch vieles zu
sagen, doch mir scheint, dass man aus dem, was wir erwähnt haben, bereits
verstehen kann, dass diese beiden Briefe eine bedeutende Katechese darstellen,
aus der wir nicht nur lernen können, gute Christen zu sein, sondern auch, wie
wir wahre Menschen werden können. Wenn wir zu verstehen beginnen, dass der
Kosmos das Zeichen Christi ist, lernen wir etwas über unser richtiges
Verhältnis zum Kosmos, mit allen Problemen, die zu seiner Bewahrung gehören.
Wir lernen, ihn mit der Vernunft zu sehen, aber mit einer Vernunft, die von der
Liebe bewegt wird, sowie mit der Bescheidenheit und dem Respekt, die es
erlauben, auf richtige Weise zu handeln. Und wenn wir daran denken, dass die
Kirche der Leib Christi ist, dass Christus sich für sie hingegeben hat, lernen
wir, wie wir mit Christus die gegenseitige Liebe leben, die Liebe, die uns mit
Gott vereint und uns im Anderen das Bild Christi, ja Christus selbst erkennen
lässt. Bitten wir den Herrn, dass er uns helfe, genau über die Heilige Schrift,
über sein Wort nachzudenken und so zu lernen, wirklich gut zu leben.