Papst Benedikt XVI.
Generalaudienz am 28.1.09
Paulus (20)
Liebe Brüder und Schwestern!
Die an diese beiden Hirten gerichteten Briefe nehmen innerhalb des
Neuen Testaments einen ganz besonderen Platz ein. Die Mehrheit der Exegeten ist
heute der Meinung, dass diese Briefe nicht von Paulus selbst geschrieben worden
sind, sondern ihren Ursprung in der „paulinischen Schule“ hatten und sein Erbe
für eine neue Generation widerspiegeln – möglicherweise unter Einbeziehung
einiger kurzer Schriften oder Worte des Apostels selbst. Einige Worte aus dem
zweiten Brief an Timotheus etwa, klingen so authentisch, dass sie nur dem
Herzen und dem Mund des Apostels selbst entstammen können.
Zweifellos ist die Situation der Kirche, die aus diesen Briefen
hervorgeht, eine andere als in den zentralen Jahren im Leben des Paulus. In der
Rückschau bezeichnet er sich jetzt selbst als „Verkünder und Apostel ... als
Lehrer der Heiden im Glauben und in der Wahrheit“ (vgl. 1 Tim 2, 7; 2 Tim 1,
11); er stellt sich als jemanden dar, der Erbarmen gefunden hat, damit – so
schreibt er – Jesus Christus „an mir als Erstem seine ganze Langmut beweisen
konnte, zum Vorbild für alle, die in Zukunft an ihn glauben, um das ewige Leben
zu erlangen“ (1 Tim 1, 16). Wesentlich ist also, dass in Paulus, dem durch die
Gegenwart des Auferstandenen bekehrten Verfolger, wirklich die Großherzigkeit des
Herrn zu unserer Ermutigung erscheint, um uns hoffen und auf das Erbarmen des
Herrn vertrauen zu lassen, der trotz unserer Kleinheit große Dinge tun kann.
Auch der neue kulturelle Kontext, der hier vorausgesetzt wird, geht über die
zentralen Jahre im Leben des Paulus hinaus. So wird etwa auf das Auftreten von
Lehren verwiesen, die als gänzlich irrig und falsch betrachtet werden müssen
(vgl. 1 Tim 4, 1–2; 2 Tim 3, 1–5), wie etwa die Lehre, die behauptete, dass die
Ehe nicht gut sei (vgl. 1 Tim 4, 3a). Wir sehen, wie modern diese Sorge ist,
denn auch heute wird die Bibel manchmal als Gegenstand historischer Wissbegier
und nicht als Wort des Heiligen Geistes gelesen, in dem wir die Stimme des
Herrn hören und seine Präsenz in der Geschichte erkennen können. Wir könnten
sagen, dass mit dieser kurzen Liste von Irrtümern, die sich in den drei Briefen
finden, einige Züge jener folgenden irrigen Richtung vorweggenommen scheinen,
die unter der Bezeichnung Gnosis bekannt ist (vgl. 1 Tim 2, 5–6; 2 Tim 3, 6–8).
Diesen Lehren begegnet der Verfasser mit zwei grundsätzlichen
Ermahnungen. Die eine besteht im Verweis auf eine geistliche Lesung der
Heiligen Schrift (vgl. 2 Tim 3, 14–17), also auf eine Lesung, die die Schriften
wirklich als „inspiriert“ und als vom Heiligen Geist kommend betrachtet, so
dass sie „dir Weisheit verleihen können“. Man liest die heilige Schrift
richtig, indem man sich auf ein Gespräch mit dem Heiligen Geist einlässt, um
auf diese Weise Erkenntnis aus ihr zu empfangen, die „nützlich zur Belehrung, zur
Widerlegung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit“ ist (2 Tim 3,
16). In diesem Sinne fügt er dem Brief hinzu: „So wird der Mensch Gottes zu
jedem guten Werk bereit und gerüstet sein“ (2 Tim 3, 17). Der andere Verweis
besteht in dem Hinweis auf das „Depositum“ (parathéke): es handelt sich um
einen besonderen Begriff in den Pastoralbriefen, mit dem die Überlieferung des
apostolischen Glaubens bezeichnet wird, die mit Hilfe des Heiligen Geistes, der
in uns wohnt, bewahrt werden muss. Dieses sogenannte „Depositum“ ist also als
die Summe der apostolischen Tradition und als Kriterium der Treue bei der
Verkündigung des Evangeliums zu betrachten. Und hier müssen wir bedenken, dass
der Begriff „Schriften“ in den Papstoralbriefen sowie im ganzen Neuen Testament
ausdrücklich das Alte Testament bezeichnet, da es die Schriften des Neuen
Testaments entweder noch nicht gab oder sie noch nicht zu einem Schriftenkanon
gehörten. Die Tradition der apostolischen Verkündigung, dieses „Depositum“, ist
also der Lektüreschlüssel um die Schrift, das Neue Testament, zu verstehen. In
diesem Sinne werden Schrift und Tradition, Schrift und apostolische
Verkündigung, als Lektüreschlüssel nebeneinandergestellt und verschmelzen
praktisch miteinander, um gemeinsam „das feste Fundament, das Gott gelegt hat“
(2 Tim 2, 19) zu bilden. Die apostolische Verkündigung, also die Tradition, ist
notwendig, um in das Verständnis der Schrift einzudringen und die Stimme
Christi darin zu erfassen. Es ist wirklich notwendig, sich „an das wahre Wort
der Lehre“ zu halten (Tit 1, 9). Die Grundlage von allem bildet eben der Glaube
an die geschichtliche Offenbarung der Güte Gottes, der in Jesus Christus
konkret seine „Liebe zu den Menschen“ gezeigt hat, eine Liebe, die im Text des
griechischen Originals bezeichnenderweise als „filanthropía“ (Tit 3, 4; vgl. 2
Tim 1, 9–10) beschrieben wird; Gott liebt die Menschheit.
Insgesamt sieht man deutlich, dass die christliche Gemeinschaft
sich auf eine ganz klare Weise gestaltet, einer Identität entsprechend, die
sich nicht nur von falschen Interpretationen distanziert, sondern vor allem
ihre Verankerung in den wesentlichen Punkten des Glaubens behauptet, der hier
ein Synonym für „Wahrheit“ ist (1 Tim 2, 4.7; 4, 3; 6, 5; 2 Tim 2, 15.18.25; 3,
7.8; 4, 4; Tit 1, 1.14). Im Glauben zeigt sich die wesentliche Wahrheit über
das, was wir sind, wer Gott ist, wie wir leben müssen. Und die Kirche wird als
„die Säule und das Fundament“ (1 Tim 3, 15) dieser Wahrheit (dieser Wahrheit
des Glaubens) bezeichnet. In jedem Fall bleibt sie eine offene Gemeinschaft von
universalem Charakter, die für alle Menschen, gleich welcher Klasse und welchen
Standes betet, damit sie zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen: „Gott will, dass
alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“, weil
Christus Jesus „sich als Lösegeld hingegeben hat für alle“ (1 Tim 2, 4–5) Das
Gefühl der Universalität ist daher stark und entscheidend für diese Briefe,
auch wenn die Gemeinschaften noch klein sind. Zudem soll diese christliche Gemeinschaft
„niemand schmähen, ... sondern freundlich und gütig zu allen Menschen“ sein
(Tit 3, 2). Das ist eine erste wichtige Komponente dieser Briefe: die
Universalität und der Glaube als Wahrheit, als Lektüreschlüssel der Heiligen
Schrift, des Alten Testaments und so zeichnen sich eine Einheit der
Verkündigung und der Schrift sowie ein lebendiger Glaube ab, der für alle offen
und Zeuge der Liebe Gottes für alle ist.
Eine andere typische Komponente dieser Briefe ist ihr Nachdenken
über die Amtsstruktur der Kirche. In ihnen wird zum ersten Mal die dreifache
Unterteilung in Bischöfe, Priester und Diakone erwähnt (vgl. 1 Tim 3, 1–13; 4,
13; 2 Tim 1, 6; Tit 1, 5–9). Wir können in den Pastoralbriefen das
Zusammenfließen von zwei verschiedenen Amtsstrukturen und somit die Einrichtung
der endgültigen Gestalt der Ämter in der Kirche beobachten. In den paulinischen
Briefen der zentralen Jahre seines Lebens, spricht Paulus von „Bischöfen“ und
von „Diakonen“ (Phil 1, 1): das ist die typische Struktur der Kirche, die sich damals
in der heidnischen Welt gebildet hatte. Es bleibt also die Gestalt des Apostels
selbst beherrschend und daher entwickeln sich erst allmählich die anderen
Ämter.
Wenn wir, wie gesagt, in den Kirchen, die sich in der heidnischen
Welt bildeten, Bischöfe und Diakone haben, und keine Priester, so sind in den
Kirchen, die sich in der jüdisch-christlichen Zeit bildeten, die Priester die
beherrschende Struktur. Am Ende der Pastoralbriefe verbinden sich die beiden
Strukturen: Jetzt erscheint „der Bischof“ (vgl. 1 Tim 3, 2; Tit 1, 7) stets im
Singular und begleitet vom bestimmten Artikel „der“. Und neben „dem“ Bischof
finden wir die Priester und Diakone. Die Gestalt des Apostels ist immer noch
entscheidend, doch die drei Briefe sind, wie ich schon gesagt habe, nicht mehr
an Gemeinden, sondern an Personen gerichtet: Timotheus und Titus, die auf der
einen Seite als Bischöfe erscheinen und auf der anderen beginnen, an Stelle des
Apostels zu stehen.
So ist der Beginn dessen festzustellen, was später „apostolische
Nachfolge“ heißen wird. Paulus sagt in äußerst feierlichem Ton zu Timotheus:
„Vernachlässige die Gnade nicht, die in dir ist und die dir verliehen wurde,
als dir die Ältesten aufgrund prophetischer Worte gemeinsam die Hände
auflegten“ (1 Tim 4, 14). Wir können sagen, dass in diesen Worten auch der
Beginn des sakramentalen Charakters des Amtes erscheint. Und so haben wir das
Wesentliche der katholischen Struktur: Schrift und Tradition, Schrift und
Verkündigung bilden eine Einheit, doch zu dieser sozusagen lehrmäßigen Struktur
muss die personale Struktur hinzukommen, die Nachfolger der Apostel, als Zeugen
der apostolischen Verkündigung.
Es ist schließlich wichtig festzustellen, dass in diesen Briefen
die Kirche sich selbst in ganz menschlichen Begriffen versteht, in Analogie mit
dem Haus und der Familie. Besonders in 1 Tim 3, 2–7 sind äußerst detaillierte
Anweisungen über den Bischof zu lesen, wie diese: er soll „ein Mann ohne Tadel
sein, nur einmal verheiratet, nüchtern, besonnen, von würdiger Haltung, gastfreundlich,
fähig zu lehren; er sei kein Trinker und kein gewalttätiger Mensch, sondern
rücksichtsvoll; er sei nicht streitsüchtig und nicht geldgierig. Er soll ein
guter Familienvater sein und seine Kinder zu Gehorsam und allem Anstand
erziehen. Wer seinem eigenen Hauswesen nicht vorstehen kann, wie soll der für
die Kirche Gottes sorgen? ... Er muss auch bei den Außenstehenden einen guten
Ruf haben“. Hier sind vor allem die wichtige Begabung zur Lehre festzustellen
(vgl. auch 1 Tim 5, 17), auf die auch an anderen Stellen verwiesen wird (vgl. 1
Tim 6, 2c; 2 Tim 3, 10; Tit 2, 1), und dann eine besondere persönliche
Eigenschaft, die der „Väterlichkeit“. Der Bischof wird in der Tat als Vater der
christlichen Gemeinde angesehen (vgl. auch 1 Tim 3, 15). Im Übrigen hat die
Vorstellung von der Kirche als „Haus Gottes“ ihre Wurzeln im Alten Testament
(vgl. Num 12, 7) und wird in Hebr 3, 2.6 neu formuliert, während an anderer
Stelle zu lesen ist, dass die Christen jetzt nicht mehr Fremde ohne
Bürgerrecht, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes sind (vgl.
Eph 2, 19).
Bitten wir den Herrn und den heiligen Paulus, dass auch wir als
Christen uns im Verhältnis zur Gesellschaft, in der wir leben, immer mehr als
Mitglieder der „Familie Gottes“ darstellen. Und bitten wir auch dafür, dass die
Hirten der Kirche beim Aufbau des Hauses Gottes, der Gemeinde, der Kirche,
immer mehr väterliche Gefühle entwickeln, die sowohl von Güte als auch von
Festigkeit geprägt sind.