Papst Benedikt XVI.: Ansprache während der Generalaudienz
am 15.10.08:
Paulus (8)
Liebe Brüder und Schwestern!
Es ist wichtig zu beachten, dass das Wort
„Kirche“ fast immer mit der Hinzufügung „Gottes“ auftaucht: Es handelt sich
nicht um eine menschliche Gemeinschaft, die aufgrund gemeinsamer Vorstellungen
oder Interessen entstanden ist, sondern um eine Einberufung Gottes. Er hat sie
einberufen und daher ist sie eine einzige, in allen ihren konkreten
Verwirklichungen. Die Einheit Gottes schafft die Einheit der Kirche an allen
Orten, wo diese sich befinden mag. Später, im Brief an die Epheser, wird Paulus
das Konzept der Einheit der Kirche detailliert ausarbeiten, in Kontinuität zum
Begriff des Volkes Gottes, Israel, das von den Propheten als „Braut Gottes“
betrachtet wird, dazu berufen, eine bräutliche Beziehung mit Ihm zu leben. Paulus
bezeichnet die eine Kirche Gottes als „Braut Christi“ in der Liebe, als ein
Leib und ein Geist mit Christus selbst. Bekanntlich war der junge Paulus ein
hartnäckiger Gegner der neuen Bewegung, welche die Kirche Christi darstellte.
Er war ihr Gegner, weil er durch diese neue Bewegung die Treue zur Tradition
des Volkes Gottes bedroht sah, das vom Glauben an den einen Gott beseelt war.
Diese Treue kam vor allem in der Beschneidung, in der Beachtung kultischer
Reinheitsregeln, im Verzicht auf gewisse Speisen, in der Einhaltung des Sabbats
zum Ausdruck. Diese Treue hatten die Israeliten in der Zeit der Makkabäer mit
dem Blut der Märtyrer bezahlt, als die hellenistische Herrschaft alle Völker
dazu zwingen wollte, sich der einen hellenistischen Kultur anzuschließen. Viele
Israeliten hatten mit ihrem Blut die eigene Berufung Israels verteidigt. Die
Märtyrer hatten mit ihrem Leben die Identität ihres Volkes bezahlt, die sich
durch diese Elemente ausdrückte. Nach der Begegnung mit dem auferstandenen
Christus verstand Paulus, dass die Christen keine Verräter waren; im Gegenteil,
in der neuen Situation hatte der Gott Israels durch Christus seinen Ruf auf
alle Völker ausgedehnt und war der Gott aller Menschen geworden. Auf diese
Weise verwirklichte sich die Treue zum einzigen Gott; es waren keine
Unterscheidungsmerkmale mehr notwendig, die aus besonderen Bestimmungen und
Beobachtungen von Regeln bestanden, da alle in ihrer Verschiedenheit berufen
waren, Teil des einen Volkes Gottes, der „Kirche Gottes“ in Christus zu sein.
Eines war für Paulus in der neuen Situation
sofort klar: der fundamentale und begründende Wert Christi und des „Wortes“,
das Ihn verkündete. Paulus wusste nicht nur, dass man durch Zwang kein Christ
werden kann, sondern auch, dass in der inneren Beschaffenheit der neuen
Gemeinschaft die wesentliche Komponente zwingend mit dem lebendigen „Wort“
verbunden war, mit der Verkündigung des lebendigen Christus, in dem Gott sich
allen Völkern öffnet und sie in einem einzigen Volk Gottes vereint. Es ist
symptomatisch, dass Lukas in der Apostelgeschichte mehrfach – auch in Bezug auf
Paulus – das Syntagma „Das Wort verkünden“ verwendet (vgl. Apg 4, 29.31; 8, 25;
11, 19; 13, 46; 14, 25; 16, 6.32), mit der offenkundigen Absicht, die
entscheidende Bedeutung des „Wortes“ der Verkündigung aufs deutlichste
hervorzuheben. Konkret konstituiert sich dieses Wort aus dem Kreuz und der
Auferstehung Christi, in denen die Schrift verwirklicht wurde. Das
Ostergeheimnis, das auf der Straße nach Damaskus die Wende in seinem Leben bewirkt
hat, steht offensichtlich im Mittelpunkt der Predigt des Apostels (vgl. 1 Kor
2, 2; 15, 14). Dieses Geheimnis, das durch das Wort verkündet wird,
verwirklicht sich in den Sakramenten der Taufe und der Eucharistie und wird
dann Wirklichkeit in der christlichen Liebe. Das Evangelisierungswirken des
Paulus ist auf nichts anderes ausgerichtet als darauf, die Gemeinschaft der
Gläubigen in Christus zu errichten. Diese Vorstellung ist in der Etymologie des
Wortes „ekklesía” impliziert, das Paulus und mit ihm die gesamte Christenheit
dem anderen Begriff „Synagoge“ vorgezogen hat: Nicht nur, weil ersteres
„weltlicher“ ist (es stammt aus der griechischen Praxis der politischen
Versammlung und ist kein eigentlich religiöser Begriff), sondern auch weil es
direkt die theologischere Vorstellung einer Berufung „ab extra“ [von außen]
impliziert und nicht die Vorstellung eines einfachen Zusammenkommens; die
Gläubigen sind von Gott berufen, der sie in einer Gemeinschaft, seiner Kirche,
versammelt.
In diesem Sinne können wir auch die
ursprüngliche, ausschließlich paulinische Vorstellung von der Kirche als „Leib
Christi“ verstehen. Man muss sich in diesem Zusammenhang die beiden Dimensionen
dieser Vorstellung vergegenwärtigen. Eine ist soziologischer Art und nach ihr
setzt sich der Leib aus seinen Teilen zusammen und könnte ohne diese nicht
existieren. Diese Interpretation findet sich im Brief an die Römer und im
ersten Brief an die Korinther, wo Paulus ein Bild übernimmt, das es bereits in
der römischen Soziologie gab: Er sagt, dass ein Volk wie ein Leib mit
verschiedenen Gliedern ist, von denen jedes seine Aufgabe hat, die aber alle,
auch die kleinsten und offenkundig unbedeutendsten, notwendig sind, damit der
Leib existieren und seine Funktionen erfüllen kann. Hierzu bemerkt der Apostel,
dass es in der Kirche viele verschiedene Berufungen gibt: Propheten, Apostel,
Lehrer, einfache Menschen, die alle berufen sind, jeden Tag die Liebe zu leben,
die alle notwendig sind, um die lebendige Einheit dieses geistigen Organismus
aufzubauen. Die andere Interpretation bezieht sich auf den Leib Christi selbst.
Paulus behauptet, dass die Kirche nicht nur ein Organismus ist, sondern im
Sakrament der Eucharistie wirklich Leib Christi wird, wo wir alle seinen Leib
empfangen und wirklich sein Leib werden. Auf diese Weise verwirklicht sich das
bräutliche Geheimnis, dass alle ein Leib und ein Geist in Christus werden. So
geht die Wirklichkeit weit über das soziologische Bild hinaus und bringt sein
wirklich tiefes Wesen zum Ausdruck, nämlich die Einheit aller Getauften in
Christus, die der Apostel als „eins“ in Christus betrachtet, nach dem Sakrament
Seines Leibes gestaltet.
Indem er dies sagt, zeigt Paulus – und gibt uns
allen zu verstehen –, dass er wohl weiß, dass die Kirche nicht die seine und nicht
die unsere ist: Die Kirche ist Leib Christi, sie ist „Kirche Gottes“, „Gottes
Ackerfeld, Gottes Bau... Gottes Tempel“ (1 Kor 3, 9.16). Letztere Bezeichnung
ist besonders interessant, weil hier für ein Gefüge zwischenmenschlicher
Beziehungen ein Begriff benutzt wird, der im allgemeinen verwendet wurde, um
einen konkreten Ort, der als heilig betrachtet wurde, zu bezeichnen. Das
Verhältnis von Kirche und Tempel nimmt also zwei einander ergänzende
Dimensionen an: Auf der einen Seite wird auf die kirchliche Gemeinschaft das
Merkmal des Abgetrenntseins und der Reinheit angewendet, die dem heiligen
Gebäude zusteht, doch auf der anderen Seite wird die Vorstellung eines
materiellen Raums überwunden, um diese Bedeutung auf die Wirklichkeit einer
lebendigen Glaubensgemeinschaft zu übertragen. Wenn zunächst die Tempel als
Orte der Gegenwart Gottes betrachtet wurden, sieht und weiß man jetzt, dass
Gott nicht in Gebäuden wohnt, die aus Stein gebaut sind, sondern dass der Ort
seiner Gegenwart in der Welt die lebendige Gemeinschaft der Gläubigen ist.
Eine eigene Erörterung würde die Bezeichnung
„Volk Gottes“ verdienen, die Paulus vor allem für das Volk des Alten Testaments
verwendet und dann für die Heiden, die das „Nicht-Volk“ waren und die nun dank
ihrer Eingliederung in Christus durch das Wort und das Sakrament auch Volk
Gottes geworden sind. Und schließlich eine letzte Feinheit. Im Brief an
Timotheus bezeichnete Paulus die Kirche als „Hauswesen Gottes“ (1 Tim 3, 15);
und das ist eine wirklich ungewöhnliche Bezeichnung, da sie sich auf die Kirche
als Gemeinschaftsstruktur bezieht, in der herzliche zwischenmenschliche
Beziehungen familiären Charakters gelebt werden. Der Apostel hilft uns, immer
tiefer das Geheimnis der Kirche in ihren verschiedenen Dimensionen der Versammlung
Gottes in der Welt zu verstehen. Das ist die Größe der Kirche und die Größe
unserer Berufung: Wir sind Tempel Gottes in der Welt, der Ort, wo Gott wirklich
wohnt, und wir sind gleichzeitig Gemeinschaft, Familie Gottes, der die Liebe
ist. Als Familie und Haus Gottes müssen wir in der Welt die Liebe Gottes
verwirklichen und so mit der Kraft, die aus dem Glauben kommt, Ort und Zeichen
seiner Gegenwart sein. Bitten wir den Herrn, dass er uns gewähre, immer mehr
seine Kirche zu sein, sein Leib, der Ort der Gegenwart seiner Liebe in dieser
unserer Welt und in unserer Geschichte.