Papst Benedikt XVI.: Ansprache während der Generalaudienz am 9.1.08:

Paulus (1)

Liebe Brüder und Schwestern!

Heute möchte ich mit einem neuen Katechesezyklus beginnen, der dem großen, heiligen Apostel Paulus gewidmet ist. Ihm ist, wie Ihr wisst, dieses Jahr geweiht, das vom liturgischen Festtag Peter und Paul am 29. Juni 2008 bis zum selben Festtag im Jahr 2009 dauern wird. Der Apostel Paulus, eine erhabene und nahezu unnachahmliche aber doch anregende Gestalt, steht als Beispiel vollkommener Hingabe an den Herrn und an seine Kirche sowie großer Offenheit gegenüber der Menschheit und ihren Kulturen vor uns. Es ist also nur recht, wenn wir ihm nicht nur in unserer Verehrung einen besonderen Platz einräumen, sondern auch in dem Bemühen zu verstehen, was er auch uns, den Christen von heute, zu sagen hat. Während dieser unserer ersten Begegnung wollen wir den Kontext betrachten, in dem er gelebt und gewirkt hat. Ein solches Thema scheint uns weit von unserer Zeit wegzuführen, da wir uns in die Welt von vor zweitausend Jahren hineindenken müssen. Und doch ist dies nur scheinbar und jedenfalls nur teilweise so, da wir feststellen können, dass sich das soziokulturelle Umfeld von heute unter verschiedenen Aspekten nur wenig von dem damaligen unterscheidet.

Verspottet und bewundert: Die Juden zur Zeit des Apostels

Ein wesentlicher und grundlegender Faktor, der dabei berücksichtigt werden muss, ist die Beziehung zwischen dem Umfeld, in dem Paulus geboren wird und aufwächst und dem globalen Kontext, in den er sich später einfügt. Er entstammt einer ganz bestimmten und klar abgegrenzten Kultur – wenn auch einer Minderheit –, nämlich dem Volk Israel und seiner Tradition. In der Antike und hauptsächlich innerhalb des römischen Reichs haben die Juden, wie uns die Fachleute auf diesem Gebiet erklären, etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung ausgemacht; hier in Rom hat ihre Zahl um die Mitte des ersten Jahrhunderts einen noch kleineren Anteil ausgemacht und belief sich auf maximal drei Prozent der Stadtbevölkerung. Durch ihren Glauben und ihre Lebensweise unterschieden sie sich – wie es auch heute noch geschieht – deutlich von ihrem Umfeld. Und das konnte zwei Folgen haben: entweder man verspottete sie, was bis zur Intoleranz gehen konnte, oder man bewunderte sie, was in verschiedenen Formen von Sympathiekundgebungen zum Ausdruck kam, wie etwa im Fall der "Gottesfürchtigen" oder der "Proselyten", Heiden, die sich der Synagoge anschlossen und den Glauben an den Gott Israels teilten. Als konkretes Beispiel dieser beiden Einstellungen ihnen gegenüber können wir einerseits das schneidende Urteil eines Redners wie Cicero anführen, der ihre Religion und sogar die Stadt Jerusalem gering schätzte (vgl. Pro Flacco, 66–69), und andererseits die Haltung der Frau von Nero, Poppaea, die in den Erinnerungen von Flavius Josephus als "Sympathisantin" der Juden beschrieben wird (vgl. Jüdische Altertümer 20, 195.252; Vita 16) – abgesehen davon, dass schon Julius Cäsar ihnen offiziell bestimmte Rechte zuerkannt hatte, die uns durch den erwähnten jüdischen Historiker Flavius Josephus überliefert sind (vgl. ebd. 14, 200–216). Gewiss ist, dass die Zahl der Juden – wie übrigens auch heute noch – außerhalb des Landes Israel, also in der Diaspora, weitaus größer war, als auf dem Gebiet, das von den anderen Palästina genannt wurde.

Es erstaunt also nicht, dass Paulus selbst Gegenstand dieser beiden, einander entgegengesetzten Wertungen geworden ist, von denen ich gesprochen habe. Eines ist sicher: Der Partikularismus der jüdischen Kultur und des jüdischen Glaubens fand innerhalb einer so alles durchdringenden Institution, wie sie das Römische Reich darstellte, problemlos Platz. Schwieriger und heikler wird es für die Gruppe derjenigen – Juden oder Heiden – werden, die sich dem Glauben an die Person des Jesus von Nazareth anschließen, da sie sich sowohl vom Judentum als auch vom kaiserlichen Heidentum unterscheiden. Zwei Faktoren haben jedenfalls die Aufgabe des Paulus begünstigt. Zunächst die griechische oder besser hellenistische Kultur, die nach Alexander dem Großen, zumindest im östlichen Mittelmeerraum und im Nahen Osten zum allgemeinen Gut geworden war, wenngleich sie auch viele Elemente von Kulturen solcher Völker in sich aufgenommen hatte, die traditionellerweise als Barbaren bezeichnet wurden. Ein Schriftsteller der damaligen Zeit sagt diesbezüglich, Alexander habe "angeordnet, dass alle den gesamten Erdkreis als Heimat ansehen .... und dass Griechen und Barbaren sich nicht mehr voneinander unterscheiden sollten" (Plutarch, De Alexandri Magni fortuna aut virtute, §§ 6.8). Der zweite Faktor war die politische und administrative Struktur des Römischen Reichs, die von Britannien bis Südägypten Frieden und Stabilität garantierte und ein Gebiet von niemals zuvor gesehenen Dimensionen vereinte. In diesem Raum konnte man sich mit ausreichend großer Freiheit und Sicherheit bewegen und unter anderem ein ausgezeichnetes Straßennetz nutzen sowie an jedem Ankunftsort grundlegende kulturelle Merkmale vorfinden, die, ohne den lokalen Werten zu schaden, das gemeinsame Gefüge einer Normierung "super partes" darstellten, sodass der jüdische Philosoph Philon von Alexandria, ein Zeitgenosse des Paulus, Kaiser Augustus dafür lobt, dass er "alle wilden Völker in Eintracht dadurch zusammengefügt hat, dass er sich zum Wächter über den Frieden gemacht hat" (Legatio ad Caium, §§ 146–147).

Die universalistische Sicht, die für die Person des heiligen Paulus oder zumindest für den christlichen Paulus nach dem Ereignis auf dem Weg nach Damaskus typisch ist, verdankt ihren Grundimpuls sicher dem Glauben an Jesus Christus, insoweit sich die Gestalt des Auferstandenen nunmehr über alle partikularistische Enge stellt; so gibt es für den Apostel "nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ,Einer' in Christus Jesus" (Gal 3, 28). Dennoch haben sicher auch die historisch-kulturelle Situation seiner Zeit und seines Umfelds einen Einfluss auf seine Entscheidungen und seinen Einsatz ausgeübt. Jemand hat Paulus einmal als "Mann dreier Kulturen" bezeichnet, wenn man seine jüdische Herkunft, seine griechische Sprache und seine Eigenschaft als "civis romanus" – wie auch der Name lateinischen Ursprungs bezeugt – berücksichtigt.

Der Einfluss stoischer Philosophen

Es muss vor allem die stoische Philosophie in Erinnerung gerufen werden, die zur Zeit des Paulus vorherrschte und die, wenn auch in marginaler Weise, ebenfalls Einfluss auf das Christentum hatte. Diesbezüglich kommen wir nicht umhin, die Namen einiger stoischer Philosophen zu erwähnen, wie die Begründer Zenon und Kleanthes, und dann diejenigen, die Paulus zeitlich am nächsten standen, wie Seneca, Musonius oder Epiktetos: Bei ihnen finden sich äußerst hohe menschliche und vernünftige Werte, die natürlich vom Christentum aufgenommen werden. Wie ein Fachmann dieses Themas treffend schreibt: "Die Stoa... hat ein neues Ideal verkündet, das dem Menschen zwar Pflichten gegenüber seinesgleichen auferlegt, ihn aber gleichzeitig von allen physischen und nationalen Bindungen befreit und zu einem rein geistigen Wesen gemacht hat" (M. Pohlenz, La Stoa, I, Firenze 2 1978, S. 565f.). Man denke etwa an die Lehre des Universums, das wie ein einziger, großer, harmonischer Leib verstanden wird, und folglich an die Lehre von der Gleichheit aller Menschen ohne soziale Unterscheidung, an die zumindest prinzipielle Gleichstellung von Mann und Frau und dann an das Ideal der Bescheidenheit, des rechten Maßes und der Selbstbeherrschung, um jede Übertreibung zu vermeiden. Wenn Paulus an die Philipper schreibt: "Was immer wahrhaft, edel, recht, was lauter, liebenswert, ansprechend ist, was Tugend heißt und lobenswert ist, darauf seid bedacht" (Phil 4, 8), dann wiederholt er damit nur eine echt humanistische Auffassung, die dieser philosophischen Weisheit eigen war.

Zur Zeit des heiligen Paulus befand sich auch die traditionelle Religion, wenigstens in ihren mythologischen und auch bürgerlichen Aspekten, gerade in einer Krise. Nachdem Lukrez bereits ein Jahrhundert zuvor polemisch geurteilt hatte, dass "die Religion zu so vielen Missetaten geführt hat" (De rerum natura, 1, 101), lehrte ein Philosoph wie Seneca, indem er weit über jeden äußerlichen Ritualismus hinausging, dass "Gott dir nah, mit dir und in dir ist" (Briefe an Lucilius, 41, 1). Auf analoge Weise sagt Paulus, als er sich auf dem Areopag in Athen an eine Zuhörerschaft epikureischer und stoischer Philosophen wendet, wörtlich: "Gott... wohnt nicht in Tempeln, die von Menschenhand gemacht sind.... denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir" (Apg 17, 24.28). Damit lässt er sicher den jüdischen Glauben an einen Gott anklingen, der nicht in anthropomorphen Begriffen dargestellt werden kann, doch er begibt sich auch auf eine religiöse Wellenlänge, die seine Zuhörer gut kannten. Weiter müssen wir die Tatsache berücksichtigen, dass viele heidnische Kulte nicht in den offiziellen Tempeln stattfanden, sondern an privaten Orten, welche für die Einweisung der Anhänger geeignet waren. Es stellte folglich keinen Grund der Verwunderung dar, dass auch die Versammlungen der Christen (die "ekklesiai") in Privathäusern stattfanden, wie es uns vor allem die Paulinischen Briefe bezeugen. Derzeit gab es ja auch noch kein offizielles Gebäude. Die Versammlungen der Christen mussten ihren Zeitgenossen daher wie eine einfache Variante dieser ihrer privateren religiösen Praxis erscheinen.

Ohne das kulturelle Umfeld kann man ihn nicht verstehen

Dennoch sind die Unterschiede zwischen den heidnischen Kulten und dem christlichen Kult nicht zu unterschätzen und betreffen sowohl das identitätsstiftende Bewusstsein der Teilnehmer als auch die gemeinsame Teilnahme von Männern und Frauen, die Feier des "Herrenmahls" und die Lesung der Schrift.

Zum Abschluss dieses kurzen Überblicks über das kulturelle Umfeld im ersten Jahrhundert der christlichen Zeit scheint es klar, dass man den heiligen Paulus unmöglich richtig verstehen kann, ohne ihn vor dem – sowohl jüdischen als auch heidnischen – Hintergrund seiner Zeit zu sehen. Auf diese Weise gewinnt seine Gestalt an historischer und begrifflicher Dichte und zeigt sowohl die Teilhabe als auch die Originalität gegenüber seinem Umfeld auf.

Doch das gilt gleichermaßen auch für das Christentum im allgemeinen, für das der Apostel Paulus ein Beispiel ersten Ranges darstellt, von dem wir alle immer noch viel zu lernen haben. Das ist die Absicht des Paulusjahres: vom heiligen Paulus zu lernen, den Glauben zu lernen, Christus zu lernen und schließlich den Weg des rechten Lebens zu lernen.

 

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