1.
Multas per gentes et
multa per aequora vectus
2.
advenio has miseras,
frater, ad inferias,
3.
ut te postremo
donarem munere mortis
4.
et mutam nequiquam alloquerer
cinerem,
5.
quandoquidem fortuna
mihi tete abstulit ipsum,
6.
heu miser indigne
frater adempte mihi.
7.
nunc tamen interea haec, prisco quae more parentum
8.
tradita sunt tristi munere ad inferias,
9.
accipe fraterno multum manantia fletu,
10.
atque in perpetuum, frater, ave atque vale!
I.
Strukturanalyse
1. Das
Gedicht besteht aus 5 Distichen, die durch zwei Satzeinheiten in 6 und 4 Zeilen
geteilt werden.
2. Der
1. Satz wird im zweiten und dritten Distichon durch je einen Gliedsatz (GS)
erweitert. Beide Konjunktionen stehen am Beginn des Hexameters, wobei die
unterschiedliche Wortlänge von ut und
quandoquidem auffällt.
Im ersten und dritten Pentameter
wendet sich Catull an seinen Bruder durch die Vokativform frater , die beim zweiten Mal – durch heu eingeleitet – die ganze Zeile ausfüllt. Die dritte Zeile setzt
mit parataktischem et ... alloquerer
den ut-Satz fort.
3. Der
2. Satz enthält einen durch quae
eingeleiteten Relativsatz (RS), der die zweite Hälfte des Hexameters und den
ganzen Pentameter umfaßt. Während die beiden Gliedsätze des 1. Satzes nach
abgeschlossenem Hauptsatz folgen, ist der RS in den Hauptsatz eingeschoben, und
das erste HS-Prädikat accipe steht am
Beginn des letzten Hexameters.
Die letzte Zeile setzt den 2. Satz
des Gedichts durch atque und zwei
Imperative fort, die den Abschluß des Pentameters bilden und mit accipe das letzte Distichon umrahmen.
4. Zwischen
dem 1. und 2. Satz gibt es einige Korrespondenzen, deren Ziel es ist, jedes der
drei ersten Distichen mit den letzten beiden zu verbinden:
a) Die
beiden wichtigsten Prädikate advenio (Z.2) und accipe (Z.9) sind durch
Assonanz und Zeilenbeginn einander zugeordnet. Sie bezeichnen Beginn und Ende
von Catulls Aufenthalt am Grab seines Bruders. Durch die Wiederholung von ad inferias in Z.2 und Z.7 wird
weiterhin klar, daß die ersten drei Distichen die Absicht des Kommens
beschreiben und die letzten beiden der Ausführung dieser Absicht dienen. Die
Wiederholung dieses Ausdrucks ist gleichzeitig formaler Hinweis darauf, daß das
erste und vierte Distichon den Anfang ihrer jeweiligen Gliederungseinheit
bilden.
b) Eine
wichtige Beziehung besteht zwischen dem zweiten und fünften Distichon, da beide
Pentameter mit et bzw. atque den Hexameter
fortsetzen. Dabei bezieht sich der Hexameter auf eine Handlung, der
Pentameter auf Worte, die an den toten Bruder gerichtet werden.
Entsprechend beziehen sich auch die Adverbien nequiquam und in perpetuum
aufeinander.
c) Die
dreimalige Anrede frater steht
jeweils im Pentameter an derselben metrischen Position. Es ergeben sich drei
Korrespondenzen: Z.2 u. Z.6 bilden den Rahmen für die erste Gliederungseinheit,
Z.2 und Z.10 den Rahmen für das ganze Gedicht und Z.6 und Z.10 die letzte Zeile
jeder Gliederungseinheit.
II. Interpretation
1. Catulls
Verwurzelung in seiner Heimatstadt Verona war ein wertvolles Gegengewicht zu
der Welt in Rom, der er sich ganz hingab. Menschliche Beziehungen und
gegenseitiges Verstehen sind die wichtigsten Sinnträger menschlichen Lebens.
Auch Catull hat sich von der herzlichen Verbundenheit mit seinem Bruder tragen
lassen. In c.68 klagt er:
Téc(um) uná totá (e)st | nóstra
sepúlta domús,
ómnia téc(um) uná periérunt gáudia
nóstra,
quáe tuus ín vitá | dúlcis alébat
amór. (94-96)
Mit dir ist unser ganzes Haus begraben,
mit dir
sind alle unsere Freuden zugrunde gegangen,
die,
solange du lebtest, durch deine herzliche Liebe genährt wurden..
Catull gibt keine näheren Umstände
über den Tod seines Bruders. Vermutlich wird er eine Aufgabe im Gefolge eines
Statthalters von Bithynien um das Jahr 60 wahrgenommen haben. Wenn im c.101 von
einer Aschenurne seines Bruders die Rede ist, verwundert es ein wenig, warum
sie nicht nach Italien gebracht wurde.
2. Catull
kommt an das Grab seines Bruders, um more
parentum ein Totenopfer darzubringen. Es dürfte sich hauptsächlich um
ausgegossene Trankspenden von Milch und Öl gehandelt haben. Der tiefere Sinn
dieser heiligen Handlung ist wohl darin zu sehen, daß das Verhältnis von
Lebenden und Toten auf diese Weise in die richtige Ordnung gebracht wurde. Denn
zwischen der Welt der Lebenden und der Toten besteht eine unüberbrückbare Kluft
und auch die, die nach christlicher Lehre an ein ewiges und glückseliges Leben
bei Gott glauben, empfinden das Schweigen des Todes, wenn die gewohnten
menschlichen Beziehungen im Tod durchtrennt wurden.
3. Das
ganze c.101 besteht aus einer Anrede an seinen toten Bruder und sie spiegelt
wohl auch die reale Situation am Grab wider. Die ersten 6 Zeilen sind
durchdrungen von der Unberechenbarkeit des menschlichen Lebens und vom
Schweigen des Todes. Daß jedes menschliche Leben mit dem Tod endet, ist
hinnehmbar, aber daß sich das Leben eines jungen und zu wertvollen Leistungen
befähigten Menschen nicht entfalten kann, sondern jäh abgebrochen wird, geht
über jedes menschliche Begreifen. Das, was wir am Verlauf des Lebens nicht
verstehen und steuern können, nennen wir Schicksal, im selben Sinn nennt es
Catull fortuna in Zeile 5. Die
Unverstehbarkeit des Schicksals erfüllt den Menschen mit Schmerz, der Catull in
der 6. Zeile zu dem Klageruf eheu
veranlaßt, als ihn das Bewußtsein, daß sein Bruder so früh und unverdient (indigne) aus dem Leben gerissen wurde,
erschüttert.
4. Das
Totenopfer ist für Catull die letzte Gelegenheit, seinem Bruder besonders nahe
zu sein. Es ist ein bedeutungsvoller Augenblick. Aber es ist eine paradoxe
Situation, in der sich Catull befindet. Er redet seinen Bruder an, weiß aber
zugleich, daß er keine Antwort erhält. Catull stellt sich dieser Situation
bewußt und formuliert sie überspitzt: Ich bin gekommen ...um vergeblich deine
stumme Asche anzureden. Wie sich aber erweisen wird, ist diese Aussage auf
einer symbolischen Ebene zu verstehen. Sie soll nicht bedeuten: "Was ich
sage, ist vergeblich", sondern der Tod begegnet den Antwort suchenden
Lebenden mit dem ehernen Gesetz des Schweigens, von dem auch Catull keine
Ausnahme zu erwarten hat (nequiquam).
Was nach dem Tod geschieht, entzieht sich jeder menschlichen Kenntnis. Aber
auch den Toten ist verwehrt, den Lebenden zu begegnen. Auch dies bedeutet
Vergeblichkeit der Anrede.
Die Stummheit des Todes ist in der
Asche symbolisiert. Sie ist wesenlos, sie ist Inbegriff des Vergänglichen, des
Nicht-mehr-Seins.
5. Aber
ist die Asche das Einzige, was übrig bleibt. Welchen Sinn hätte dann überhaupt
eine Anrede? Sollte Vergeblichkeit wirklich Vergeblichkeit sein? Dann wäre sie
sinnlos und sollte unterbleiben. Der zweite Teil des Gedichts setzt mit der
ungewöhnlichen Zahl von drei bedeutungsvollen Adverbien ein: Nunc tamen interea. Zu tamen gehört eine Entsprechung aus den
ersten 6 Zeilen, am naheliegendsten ist nequiquam: Obwohl sein Versuch, eine lebendige Beziehung zu seinem
Bruder herzustellen, vergeblich ist, will er etwas tun, was einen Sinn hat. Der
Sinn bezieht sich auf zwei Handlungen, die Darbringung des Opfers und den
Abschiedsgruß. Der Sinn des Opfers liegt in der Befolgung einer geachteten
religiösen Tradition, die eine überpersönliche Bedeutung besitzt und nicht
eigens überdacht zu werden braucht. Worin liegt der Sinn des Abschiedsgrußes?
6.
Was
Catull tun will, tut er jetzt (nunc)
und einstweilen (interea). Im
Augenblick kann er nicht mehr tun, als durch eine Opfergabe für die rechte
Ordnung zwischen den Lebenden und den Toten zu sorgen. Den Gegenbegriff des Jetzt
und Einstweilen bezeichnet Catull in der letzten Zeile mit in perpetuum. Mit diesem Ausdruck ist ein endloser Zeitraum
gemeint. "Sei für immer gegrüßt" (ave)
ist zunächst ein Gruß, den Catull für die gesamte Dauer seines Lebens
ausspricht, der aber auch ausdrückt, daß er vermutlich kein zweites Mal das
Grab besuchen wird. "Lebe wohl für immer" (vale) drückt deutlicher als der Gruß aus, daß die Gestorbenen
weiterleben. In diesem Sinn bedeutet in
perpetuum mehr als einen endlosen Zeitraum, sondern einen Zustand jenseits
von Raum und Zeit. Catulls Gruß ist in diese ewige Wirklichkeit
hineingerichtet. In diesen Zustand wird auch Catull einmal nach diesem Leben
eintreten. Welche Beziehungen es dann geben wird, ist der Erkenntnis des
Menschen freilich entzogen. Catulls Gruß ist also sinngemäß so zu verstehen:
"Ich grüße dich in die Ewigkeit
hinein, wo du glücklich sein mögest, bis auch ich einst diesen Zustand
erreichen werde und wir uns vielleicht wieder begegnen."
Aufgaben zu carmen 101
1. Welche metrische Gemeinsamkeit besteht zwischen der ersten und der dritten Zeile? Versuchen Sie aufgrund dieser Gemeinsamkeit eine inhaltliche Verknüpfung.
2. Zwischen cinerem und ipsum besteht eine Korrespondenz der Endposition. Deuten Sie diese Korrespondenz inhaltlich.
3. Deuten Sie die drei Adverbien nunc tamen interea. Nehmen Sie zwei dazu korrespondierende Wörter zu Hilfe.
4. a) Suchen Sie alle gleichen und ähnlichen Wörter und gruppieren Sie sie nach ihrer Häufigkeit.
b) Wieviele gleiche und ähnliche Wörter befinden sich im zweiten Teil des Gedichts?
5. a) Bestimmen Sie die formale Korrespondenz von advenio und accipe.
b) Inwiefern haben beide Verbformen eine wichtige inhaltliche und gliedernde Bedeutung?
6. In c.101 spricht Catull seinen toten Bruder an dessen Graburne direkt an. Glauben Sie, daß die reale Situation ebenso war? Welche Bedeutung könnte ein literarisches Monument für diese Situation haben?
7. Untersuchen Sie die Gestaltungsprinzipien der letzten Zeile.
8. Deuten Sie das Hyperbaton der 4. Zeile mutam ... cinerem.
1. Die ersten
drei Metren beider Verse sind Spondeen, die den Rhythmus der Sprache
verlangsamen. Der langsame und schwere Rhythmus entspricht der Trauer Catulls
um seinen Bruder. Auch während der Reise wurde ihm beim Gedanken an seinen
Bruder das Herz schwer. Der erste Hexameter bereitet den Besuch des Grabes und
den Zweck seines Kommens vor. Daher hat der 4. Versfuß des ersten Hexameters
noch einen Daktylus, der im zweiten Hexameter zu einem Spondeus wird.
2. Der Tod
bedeutet eine unabänderliche Trennung menschlicher Beziehungen. Für die
Lebenden bleiben offene Fragen, ob es ein Weiterleben nach dem Tod gibt, welche
Existenzform die Toten haben, wo sie sich befinden und ob sie für die Lebenden
erreichbar sind. Die beiden Wörter cinerem
und ipsum, beide im Akkusativ, bilden
einen Gegensatz. Die stumme Asche steht für die irdische Existenz, die
erloschen ist. Aber in dem Wort ipsum drückt
sich Catulls innere Überzeugung aus, daß es seinen Bruder noch gibt. Deshalb
ist auch sein Reden und Tun nicht sinnlos.
3. Das Adverb
tamen weist auf eine einschränkende
Aussage im Text davor hin. Er sagt zu seinem Bruder, er möge das Totenopfer
dennoch annehmen. Worin besteht der Gegensatz? Darin, daß er vor der stummen Asche
seines Bruders steht und er nicht weiß, ob sein Tun sinnvoll ist, ob sein
Bruder durch seine Worte und seinen Dienst erreichbar ist. Das große
Fragezeichen, auf das sich tamen bezieht,
ist nequiquam. Eines ist gewiß: Aus
dem Jenseits kommt keine Antwort. Catulls Reden und Tun ist nicht durch eine
dialogische Beziehung bestimmt, es ist gewissermaßen ins Nichts
hineingerichtet. Es stützt sich allein auf den Brauch der Väter, der in sich
Vertrauen auf Sinn birgt. In der treuen Befolgung des Totenbrauchs erhält
Catull vielleicht eine Antwort, sie kommt jedoch nicht vom toten Bruder,
sondern von der Macht, in deren Reich er sich befindet.
Was Catull tut, ist ein Dienst für seinen Bruder,
der jedoch nicht die Gemeinschaft gegenseitiger Beziehungen ersetzt. Im
Augenblick kann er nicht mehr für ihn tun. Mit nunc ist nicht nur der Augenblick gemeint, sondern ein unendlicher
Zustand, der, solange der Mensch lebt, mit dem irdischen Leben verhaftet ist.
Das menschliche Leben ist vor diesem Hintergrund nur ein interea – ein Einstweilen. Nach diesem Leben kommt das eigentliche
Jetzt, das immer währt. Wenn Catull zu seinem Bruder sagt "Sei gegrüßt für
immer", dann bedeutet dies einen Gruß in den Kreislauf eines ewigen Jetzt
hinein, der niemals vergeht. Wenn einst Catull in diesen Kreislauf mündet, gibt
es vielleicht eine neue dialogische Situation.
5. a) Beide Verben stehen am Anfang des Verses,
beide beginnen mit A. Sie stehen im ersten und letzten Distichon und haben
damit eine Rahmenfunktion.
b) Die beiden Verbformen sind HS-Prädikate. An
ihnen hängt der logische Inhalt der beiden Texthälften. In den ersten drei
Distichen nennt Catull den Zweck seines Kommens, in den letzten beiden führt er
ihn aus. Die Assonanz beider Verben spiegelt sich wider in der Parallelität von
4 Wörtern, munere, ad inferias,
und frater. Die Anrede wird somit in
engster Beziehung zu seinem rituellen Vorhaben gestellt. Sie ist damit der
Beliebigkeit und zweifelhafter Wirkung entzogen, in Verbindung mit dem
Totenbrauch durchdringt sie die Zeit und erreicht den Bruder in der Ewigkeit.
Anmerkung zu c.101:
Catulls Bruder starb etwa 60 in Bithynien am
Schwarzen Meer. Drei Jahre später schließt sich Catull dem Statthalter C.
Memmius an, als dieser nach Bithynien reist, um sein Amt anzutreten. Im Frühsommer
56 kehrt Catull zurück.
Das Totengedenken unterschied sich bei den Römern
nicht wesentlich von der heutigen Zeit. Regelmäßiger Besuch der Grabstätte,
Pflege und Schmuck waren üblich. Alljährlich vom 13. – 21. Februar fand das
Fest der Paternalia statt, das mit
Allerseelen vergleichbar ist. An diesen Tagen blieben die Tempel geschlossen,
Beamte trugen keine Amtszeichen. Am letzten Tag wurden Brot, Früchte, Kuchen,
Wein, Weihrauch und Blumen geopfert.
An nicht festgelegten Tagen im Mai und Juni fanden
die Rosalia statt. An diesen Tagen
wurden den Toten die ersten Rosenblüten geopfert. An den Gräbern hielt man
einen Festschmaus.
Die Seelen der Toten wurden Manes
genannt. Ihnen wurde göttliche Verehrung erwiesen, sie heißen daher auch Di Manes.