Offener Brief der 138 muslimischen
Theologen an christliche Kirchenführer
13. Oktober 2007
C. Bewertung
Von christlichem Standpunkt soll hier eine
sachliche Analyse versucht werden. Um dem Dokument gerecht zu werden, ist eine
Betrachtung aus mehreren Blickwinkeln erforderlich.
Die in runden Klammern gesetzten, mit Links
versehenen Zahlen verweisen auf die deutsche Übersetzung des Offenen Briefes,
den ich in durchnumerierte Texteinheiten gegliedert habe.
Der offene
Brief von 138 islamischen Theologen an Oberhäupter christlicher Kirchen ist ein
ungewöhnliches und erstaunliches Dokument. Es wurde ein Jahr nach einem ersten
Brief von 38 Theologen an Papst Benedikt XVI. als Erwiderung auf dessen
Regensburger Rede verfaßt. In diesem zweiten Brief formulieren muslimische
Geistliche und Gelehrte, worin nach ihrem Verständnis der Islam in seiner
reinsten Form besteht: Er führt den Menschen zur vollkommenen Hingabe an Gottes
Willen. Seine obersten Ziele sind dem biblischen Hauptgebot der Gottes- und
Nächstenliebe gleichzusetzen.
I. Struktur und Inhalt; II. Islam, Koran, Mohammed
III. Motive; IV. Wirkung; V. Dialog
1 Erloschener
externer Link ist grau unterlegt.
I. Struktur und Inhalt
1.
In einer ersten Betrachtung sind den
islamischen Gelehrten ehrenwerte Motive zuzugestehen: Sie haben eine Initiative
aus der Erkenntnis ergriffen, daß mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung dem
Christentum und dem Islam angehören. Daraus, so die Verfasser, ergibt sich für
beide Religionen eine besondere Verantwortung für den Weltfrieden.
2.
Dem eigentlichen Dokument ist eine
Kurzfassung vorangestellt. Darin wird die thematische Kernaussage formuliert,
daß das christliche Hauptgebot der Gottes- und Nächstenliebe in gleicher Weise
für den Islam gelte. Was als duales Prinzip erscheinen könnte, besteht für die
Verfasser in Wahrheit aus drei Aspekten: Die erste Stelle nimmt die Einzigkeit
Gottes ein, die gleich zu Beginn der Langfassung mit dem Bekenntnis zu Mohammed
verknüpft wird. Beide Bekenntnisse werden als sine qua non muslimischen
Glaubens bezeichnet (7). Die Einzigkeit Gottes ist der im
Dokument am häufigsten wiederholte Inhaltspunkt.
Für die Einheit der ersten beiden Aspekte nehmen die islamischen Gelehrten
sowohl das Alte als auch das Neue Testament als Zeugnis, für die Einheit aller
drei das Neue Testament. Die Kurzfassung des Briefes führt die folgenden Worte
Jesu nach Markus 12, 29-31 an:
"Das
erste (Gebot) ist:
–
'Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr.
–
Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer
Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft.'
Als
zweites kommt hinzu:
– 'Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich
selbst.'
Kein
anderes Gebot ist größer als diese beiden."
Jesus zitiert hier zwei verschiedene Stellen des Alten Testaments: Deuteronomium 6,4-5 und Leviticus 19,18. Indem er die
Einzigkeit Gottes wiederholt, kann Jesus von den Verfassern im islamischen
Sinne in Anspruch genommen werden. Dies geschieht im ganzen Dokument in einer
Weise, daß man den Eindruck gewinnen könnte, der Glaube an die Einzigkeit
Gottes sei oberstes Anliegen der muslimischen Gelehrten und gleichsam ein
Bollwerk, das sie gegen die Gottheit Jesu und gegen die Lehre des einen Gottes
in drei Personen schütze.
3.
Für die Verfasser des Briefes erweist
sich der vorgeschaltete Satz von der Einzigkeit Gottes als eine vorzügliche
Möglichkeit, eine gemeinsame Basis der Gottes- und Nächstenliebe in Christentum
und Islam zu finden und auszuarbeiten. Als genau passendes Pendant für die
ersten beiden Aspekte erscheint ihnen eine Hadith-Formel des Korangelehrten
Al-Tirmidhi (825-892), deren Einzelaussagen sich an verschiedenen Stellen des
Koran finden (8):
–
Es gibt keinen Gott
außer Gott, er allein,
–
er hat keinen
Teilhaber,
–
sein ist die Herrschaft
–
und ihm allein gebührt
die Ehre
–
und er hat Macht über
alle Dinge.
Der erste Teilsatz deckt sich inhaltlich mit dem ersten Satz der
Deuteronomium-Stelle. Die übrigen vier Aussagen auf die Gottesliebe zu beziehen,
ist allerdings schwierig. Außerdem handelt es sich nicht um Gebote, die an den
Glaubenden gerichtet sind, sondern um theologische Kernsätze, die freilich zu
inneren Haltungen gegenüber Gott (17) führen können.
Die Hadith-Formel wird sechsmal vollständig zitiert und damit als zentrale
Bezugsstelle zum Ersten Gebot der Bibel den Adressaten eingeprägt.
4.
Die muslimischen Theologen haben eine
inhaltliche Gemeinsamkeit zum obersten formalen Kriterium der Vergleichbarkeit
gemacht und damit einen gewagten Schritt in neues, zukunftweisendes Terrain
muslimisch-christlicher Beziehungen getan. Al-Tirmidhi läßt nämlich Mohammed
als Einleitung zu der genannten Formel folgendes sagen:
"Das Beste, was ich gesagt
habe, ich selbst und die Propheten, ist:"...
Diese Aussage ist vergleichbar mit "Kein Gebot ist
größer als diese beiden" und "An diesen beiden
Geboten hängt das gesamte Gesetz und die Propheten". Jesus
verbindet mit diesen beiden Sätzen allerdings die Gottes- und Nächstenliebe, während Mohammed – nach Tirmidhi – sich nur auf das Erste
Gebot bezieht.
Mohammed gesteht also zu, daß die Propheten vor ihm Gottes Wort verkündet
haben, daß also im Alten und Neuen Testament das authentische Wort Gottes
enthalten ist. (Wie könnte er es sonst wissen?) Die Verfasser des Briefes
bestätigen dies ausdrücklich durch ein Koranzitat: "Nichts anderes wird dir gesagt, als was schon den Gesandten vor dir
gesagt wurde." (46:9) Daher können die muslimischen Theologen auch am
Ende ihres Beweisganges die Hadith-Formel mit dem "Ersten und Größten
Gebot" der Bibel gleichsetzen (as equating) und die Mutmaßung anschließen:
"Das bedeutet also, um es mit anderen Worten auszudrücken, dass der
Prophet Mohammed, vielleicht durch Inspiration, das Erste Gebot der Bibel neu
formuliert (restating) und darauf verwiesen hat." (21)
5.
Die Verfasser des Briefes mühen sich in
einem langen und verschlungenen Argumentationsgang ab, die Vergleichbarkeit der
Hadith-Formel mit dem Gebot der Gottesliebe im Alten und Neuen Testament
plausibel zu machen. (9-16) Den unausgesprochenen Hintergrund
hierzu bildet das neutestamentliche Zitat nach Markus in der vorangestellten
Kurzfassung des Briefes. Dort fügt Jesus den alttestamentlichen Begriffen Herz, Seele, Kraft noch Denken an dritter
Stelle ein. Sie werden übergreifend umfaßt vom Liebesvermögen.
Die Hadith-Formel wird nun in fünf Einzelaussagen aufgegliedert (9-13), die die Muslime jeweils an ein
anderes menschliches Wesensmerkmal "erinnern". Auf diese Weise werden
in folgender Reihenfolge die vier neutestamentlichen Begriffe, dazu noch der
Gefühlsbereich abgehandelt: Herz, Seele, Verstand, Gefühl,
Wille (Kraft).
In den zusammenfassenden Abschnitten 14-15 werden die Begriffe Verstand, Wille, Gefühl der Seele zugeordnet,
die vorher auf gleicher Ebene wie diese genannt waren. Dabei zeigt sich die
Auffassung, daß Liebe keine umfassender Wesenszug des Menschen darstellt,
sondern sich dem einem der drei Seelenteile verdankt, dem der Gefühlskräfte. Im
abschließenden Abschnitt 16 werden die drei Seelenteile wieder zusammengefaßt
und das Herz wieder hinzugenommen: "einfacher gesagt,
ihre ganzen Herzen und Seelen".
6.
Der Leser gewinnt bisher den
Eindruck, der biblische Begriff Liebe und der
muslimische Begriff Hingabe (devotion) werden
synonym verwendet. Der schlußfolgernde Textteil 16 weist jedoch Hingabe den Vorrang vor Liebe zu: Die Reihen- und Rangfolge gemäß
Absatz b) ist: Hingabe erzeugt Liebe und Allahs Gegenliebe. Die
Liebe Gottes wird also abhängig gemacht von vorhergehender menschlicher Liebe.
In Absatz c) heißt es dann konsequent: "Im
Islam ist so die Liebe zu Gott Teil der vollkommenen und ganzen Hingabe an Gott". In diesem
Absatz wird zweimal betont, Liebe dürfe nicht mit einem bloß flüchtigem,
partiellen Gefühl (mere fleeting, partial emotion) verwechselt
werden, sie sei mehr als bloßes Gefühl oder eine Stimmung (mere emotion or a mood). Man fragt
sich, wer da belehrt werden soll. Die biblische Formulierung ist in ihrer
Deutlichkeit nicht zu übertreffen. Die fingierte Unterstellung einer falschen
Liebesvorstellung soll offensichtlich auf den letzten Satz vorbereiten, der die
bereits getroffene Aussage wiederholt, daß Liebe durch Hingabe (through
devotion) bewirkt wird.
7.
Die Autoren des Offenen Briefes
können den biblischen Begriff Liebe wohl aus zwei Gründen nicht in seinem
vollen Bedeutungsumfang übernehmen:
Der erste Grund liegt im Wort ISLAM selbst
begründet, das "Ergebung", "Hingabe" bedeutet. Hingabe an Gottes Willen bezeichnet das innerste Selbstverständnis der
Muslime. Verbunden damit ist ihr unaufgebbarer Anspruch, durch Mohammed die
ursprüngliche und endgültige Offenbarung zu besitzen.
Der zweite Grund führt zum Kern des Problems: Liebe in seiner vollen Bedeutung ist ein personaler Begriff: In
der Bibel sprechen Gott und Mensch von Beginn an miteinander: Nachdem Adam von
der verbotenen Frucht gegessen und sich aus Scham versteckt hat, ruft Gott zu
ihm: "Wo bist du?" und Adam gibt Antwort (Gen 3,9-10). Gott erteilt
Noah den Befehl, eine Arche zu bauen (Gen 6,14), und er verspricht Abraham, ihn
zu einem großen Volk zu machen (Gen 12,2). Er stiftet einen Bund mit Israel und
macht sich zum Bündnispartner, mit dem Moses, weitere Anführer des Volkes und
Propheten in Dialog treten.
Mohammed hingegen ist lediglich Empfänger von Botschaften. Weder mit Gott
noch mit dem Engel, dem er seine Botschaften verdankt, hält er Zwiesprache.
Gott wird den muslimischen Gläubigen nicht als personales Gegenüber vermittelt,
sondern sie müssen Vorleistungen bringen, um von Allah geliebt zu werden, wie
auch der Gottsucher Mohammed als erster Vorleistungen für Allahs Zuwendung
erbrachte.
Hier beende ich meine Textanalyse,
da ich glaube, Wesentliches über Form und Inhalt des Offenen Briefes aufgezeigt
zu haben. Auf eine spätere Aussage des Briefes glaube ich noch eingehen zu
sollen:
8.
In Textteil 27 verweisen die Autoren auf das
unterschiedliche Verständnis der Muslime hinsichtlich der Person Jesu Christi
und fügen in Klammern hinzu, auch unter den Christen gebe es keine völlige
Einigkeit über die Natur Jesu Christi. Hier werden in einer unsachlichen Weise
zwei völlig unterschiedliche Dinge vermengt. Auch wenn sich einige östliche
Teilkirchen nicht der Lehrentscheidung des Konzils von Chalkedon (451)
anschlossen, so besteht das einigende Band aller Christen darin, daß sie auf
den dreieinen Gott getauft sind. Die Verfasser hätten angesichts der Konflikte
zwischen Sunniten und Schiiten vielleicht besser daran getan, vor ihrer eigenen
Türe zu kehren.
Zwei repräsentative Antworten auf den Offenen Brief: Institut Diakrisis; World Evangelical Alliance
Dem nächsten Inhaltspunkt über die
Innensicht der Autoren möchte ich einige allgemeine Erwägungen über den Islam,
den Koran und über Mohammed voranstellen. Es geht um die unausweichliche Frage
nach dem Wahrheitsanspruch des Islam, nicht um seine unbestreitbaren religiösen
Werte. Die folgenden Gedanken sind mehr als kritische Anfragen denn als
detailliert begründete und belegte Ausführungen zu verstehen.
1.
Sowohl Christentum als auch Islam,
die beiden größten monotheistischen Religionen, erheben den ausschließlichen
Anspruch auf letztgültige göttliche Offenbarung. Christen und Muslime weisen
also die jeweils andere Religion als irrig zurück. Dafür bringt jede Seite ihre
Argumente vor. Als Vertreter der christlichen Seite versuche ich zu zeigen, was
die VERNUNFT in der Entscheidung der Wahrheitsfrage zu
leisten vermag.
Offenbarungswahrheiten sind von der Vernunft her allein
nicht zu beweisen, sie sind ihr vielmehr als Gegebenheiten zur Verfügung
gestellt.
Die Wahrheitsfrage muß deshalb durch Beweisgründe angegangen werden, weil
sonst die Gefahr besteht, daß sich unvermittelt die eigene Religion im Lichte
der anderen zeigt und in ihrer Geltung beeinträchtigt wird. Es ist daher
verständlich, daß die Autoren des Offenen Briefes strikt auf die Identität
ihrer eigenen Religion geachtet haben.
2.
Jesus Christus wurde innerhalb eines
einheitlichen römisch-griechischen Kulturraums geboren. Griechischer Geist
hatte das Judentum innerhalb und außerhalb Palästinas (10% der
Gesamtbevölkerung des römischen Reiches) hinsichtlich staatlicher Ordnung,
Kunst, Geschichtsschreibung und Philosophie beeinflußt, von Rom lernte es ein
durchgestaltetes Recht, römische Dichtung hatte mit Vergil, Horaz und Ovid
ihren Höhepunkt erreicht. Das Christentum entwickelte sich innerhalb dieses
Kulturraums, setzte sich unter großen Opfern gegen die Göttlichkeit der Romidee
durch und setzte ab dem 4. Jahrhundert das aufgeteilte westliche und östliche
Reich fort.
Der arabische Lebensraum lag am Rande der europäisch-christlichen
Entwicklung. Wegen eines fehlenden und zu spät einsetzenden
Missionierungskonzepts hatte das Christentum zu wenig Einfluß erreicht.
Jüdisch-christliche Gegensätze und innerchristliche Uneinigkeit bereiteten den
Boden für ein religionsgeschichtliches Amalgam aus arabisch-jüdisch-christlichen
Elementen.
Der Religionsstifter Mohammed beurteilte die Welt notwendigerweise von der
arabischen Stammeskultur aus. Er verkannte die Tatsache, daß das Christentum
eingebettet war in einen Kulturkreis, der über Jahrhunderte entstanden war und
sich unter christlichem Vorzeichen fortsetzte. Der Anspruch des Islam, im
Rückgriff auf Abraham den ursprünglichen und unverfälschten Offenbarungsglauben
zu besitzen, bedeutet letztlich, das Rad religiöser, kultureller und
politischer Geschichte Europas um Hunderte von Jahren zurückdrehen zu wollen.
Tatsächlich haben sich Wissenschaft und Technik, die weltweit beherrschenden
Zivilisationsfaktoren der Gegenwart, im christlich geprägten Europa entwickelt,
während sich im Islam die Wissenschaft nie dauerhaft vom Griff des religiösen
Systems befreien konnte.
3.
Wahrheit ist real und braucht nicht
mühsam bewiesen zu werden. Sie ist vernetzt in einem in sich stimmigen System,
das sich nach Bedarf in seinen Bestandteilen erschließt. Wer dagegen Wahrheit
zu Unrecht beansprucht, sieht sich genötigt, als real zu beweisen, was Fiktion
ist. Das System eines solchen Wahrheitsanspruchs bedarf der Stützung durch ein
Netz vieler ersonnener Elemente.
Ein zentraler Wahrheitsanspruch Mohammeds ist, daß er sich als endgültig
letzten einer Reihe von Propheten bezeichnet. Um ihn zu stützen, behauptet er
im Koran, in der Thora und im Evangelium werde auf ihn verwiesen (7:157) – ohne
freilich eine konkrete Stelle anzuführen. Er läßt sogar Jesus selbst sagen:
"Ich bin von Gott zu euch gesandt, ... um einen Gesandten anzukündigen,
der nach mir kommt..."(61:6).
Wer Wahrheit fälscht, lenkt von der Fälschung ab, indem er anderen
vorwirft, Wahrheit zu fälschen. Mohammed erklärt z.B., er wiederhole nur, was
die Propheten vor ihm verkündet hätten, ihre Botschaften seien aber in den
Schriften der Bibel verfälscht wiedergegeben.
Zum Stammvater des Islam erklärt Mohammed Abraham ebenso wie das Alte
Testament. Um die höhere Geltung des Islam geltend zu machen, heißt es, nicht
Isaak, der Sohn Saras, sondern Ismael, der Sohn der Magd Hagar, habe von
Abraham geopfert werden sollen.
4.
Der Islam enthält Elemente der
biblischen Schriften, ohne in der Tradition gelebten jüdischen oder
christlichen Glaubens zu stehen. Vielmehr wird er 600 Jahre nach Christi Geburt
in der Gestalt des KORAN gleichsam
aus dem Boden gestampft.
Der KORAN macht die Stärke und gleichzeitig die Schwäche
des Islam aus. Seine Stärke besteht darin, daß ihm ein göttlicher Rang
eingeräumt wird, der die Gläubigen nötigt, alles zu glauben, was in ihm
enthalten ist. Überspitzt ausgedrückt wird Rechtleitung erreicht
durch Irreleitung. Wahrheit und Irrtum scheinen untrennbar miteinander
verflochten zu sein, für den Christen nicht ohne Irritation wahrnehmbar, für
den Muslim nicht erkennbar und völlig inakzeptabel.
Seine religiös begründete Ausnahmestellung andererseits ist ein
unüberwindliches Hindernis zur Entfaltung der Geisteswissenschaften,
insbesondere der Literatur- und Sprachwissenschaft.
Der Urtext des Koran, so heißt es, sei präexistent im Himmel aufbewahrt. Er
ist untrennbar mit der arabischen Sprache verbunden.
Als Begründung für den göttlichen Rang des Koran wird angeführt, seine
Sprache sei so unvergleichlich schön, daß kein Mensch sie hätte allein
hervorbringen können. Mit Vorliebe wird die Auffassung vertreten, Mohammed habe
weder lesen noch schreiben können, womit impliziert wird, er sei zu eigener
Dichtkunst nicht fähig gewesen. Arabische Poesie stand jedoch in hoher Blüte
und Mohammed wird sich mit ihr ebenso eifrig beschäftigt haben wie mit
religiösen Fragen.
Schönheit der Sprache ist kein Selbstzweck, sie ist das Kleid der Wahrheit.
Wahrheit bedarf der sprachlichen Form. Die vier christlichen Evangelien
beispielsweise sind von einheitlicher sachlicher Textgestalt und überzeugen
durch die Form der Darstellung.
Die Suren des Koran erscheinen im Vergleich zur Bibel als ein kaum formal
gegliederter fortlaufender Fluß von Sätzen von unterschiedlichem inhaltlichem
Niveau: Erhabenes, Poetisches, Belehrendes, Erzählerisches, Fabuliertes und
Klatschhaftes findet sich nebeneinander. Von den meisten Texten geht keine
logische Klarheit aus, daher wird von islamischen Gelehrten vielfach Weisheit
gesucht und gefunden, wo keine wirkliche Weisheit vorhanden ist: Die Texte
werden zu einem verschlungenen Garten edler Gefühle und endloser gelehrter
Gespräche.
Wahrheit, durch Form und sprachliche Mittel dargestellt, ist in jede
Sprache ohne Minderung des Inhalts übersetzbar. Die griechischen Texte der
Bibel wurden ins Lateinische und später in zahllose Nationalsprachen übersetzt.
Christliche Kultur ist somit nicht an eine besondere Sprache gebunden.
Durch die Schönheit der Koransprache und die Vorstellung vom präexistenten
himmlischen Urtext lassen sich Muslime gerne in religiöse Verzückung versetzen.
Durch einen bestimmten religiösen Erregungs- und Gemütszustand vergewissern sie
sich der Wahrheit ihrer Religion. Darin stehen sie – gleichsam systembedingt –
in der Nachfolge ihres Stifters.
Ästhetisch-religiöse Wahrnehmung der Koraninhalte geht also deren vernunftgemäßen
Erfassung und Durchdringung voraus. Rationale Argumente sind dieser vorgängigen
Erfahrung in der Weise verpflichtet, daß den Korantext eine Aura von Heiligkeit
umgibt, die wissenschaftliche Sachlichkeit schwer zuläßt. Die Argumente stehen
also im Dienste dieser Aura.
5.
Für den Nicht-Muslim ist der Koran
ein Text, der den literarischen Gesetzen eines jeden Textes unterliegt. Die
Behauptung, der Koran sei direkte Rede Gottes, widerspricht etwa dem Gesetz, daß
jeder Text einen Erzähler hat. Mohammed schaltet aber den Erzähler aus, um den
Eindruck zu erwecken, er sei lediglich passives Medium zur Weitergabe von
Gesagtem. Er ist aber nicht Sprachrohr und Medium geblieben, sondern hat aktiv
eine neue Religion durchgesetzt. Von dieser Realität her gesehen, ist Mohammed
der implizierte Erzähler.
Nimmt der Literaturwissenschaftler den Anspruch des Koran an, direktes Wort
Gottes zu sein, müßte er ihn also zu einem Untext erklären, da ihm ein
entscheidendes Kriterium eines Textes fehlt.
6.
Welcher Art von Offenbarungen
Mohammed erhielt und wieweit es Offenbarungen waren, soll hier offen bleiben.
Mohammed, der sich – nach einer nicht unüblichen Praxis – mit 40 Jahren
tagelang in eine Höhle zurückzog, hatte erschütternde Erlebnisse. Ob diese
Erfahrungen aber gleichzusetzen waren mit einem Auftrag, eine neue Religion zu
begründen, ist nicht so selbstverständlich anzunehmen. Aber sobald er sich
einmal dazu entschlossen hatte, tat er alles, um seinen Anspruch in jeder Weise
vor sich selbst und vor den zu Bekehrenden zu rechtfertigen. Denn den Gott der
Juden und der Christen durch Allah gleichsam zu überbieten, mußte in ihm
gewaltige seelische Unruhe hervorrufen. Wie bekomme ich einen gnädigen Gott,
war nicht nur Luthers Problem. Seine Rechtfertigung sah er darin, mit allen
Mitteln den Eingottglauben gegen die Konkurrenz des Polytheismus zu verfechten.
Das Extrem unerlöster Ichbezogenheit suchte er durch extreme Selbsthingabe,
Sendungseifer, Wahrheitsanspruch und scharfe Abgrenzung gegen Judentum und
Christentum auszugleichen.
Ein System religiöser Vorschriften, ein zum Verzeihen bereiter Gott und
religiöse Verzückung durch die Schönheit der Koransprache sind die
ausreichenden Eckpfeiler des Islam, welche die Hoffnung auf das Paradies nähren
und aufrechterhalten. Die christliche Erlösungslehre ist den Gläubigen des
Islam fremd und unverständlich. Zu groß sind die Geheimnisse der Menschwerdung
Gottes, als daß ein einzelner Mensch sie aus sich heraus erkennen könnte.
7.
Die Entstehung des Koran und des
Islam als Religion wird man in nicht geringem Maß mit Mohammeds persönlicher
Biographie in Verbindung bringen müssen. Darüber hinaus bleibt jedoch vieles,
was sich schwer erklären läßt. Dazu gehört, daß die im Laufe von zwei
Jahrzehnten entstandenen und formlos wirkenden Suren sich zu einer Einheit
zusammenfanden, die den darauf fußenden Einrichtungen von Religion,
Gesellschaft und Staat eine tragfähige Struktur gaben.
1.
Die tieferen Motive der Autoren für
ihren Offenen Brief sind aus der Mitte islamischen Denkens zu begreifen. Wenn
sich der Islam als wahre Religion und die Muslime als Sachwalter der göttlichen
Ordnung verstehen, müssen Religion und Gläubige ihre Verantwortung für den
Weltfrieden gerecht werden. Die Autoren erkennen zu Recht, daß das Schicksal
der Nationen nicht vom Geschick der Politiker abhängt, sondern von einem Denken
und Handeln, dessen oberste Norm der richtige Gottesbezug ist.
Aus dieser ihrer inneren Verantwortung heraus verdienen die beschwörenden
Worte der 138 Unterzeichner Glaubwürdigkeit: "... Unsere ewige Seelen
selbst stehen auf dem Spiel, wenn wir keine aufrichtigen Anstrengungen
unternehmen, Frieden zu schließen und einander einvernehmlich zu
begegnen." (30) Von
christlicher Seite kann man hinzufügen, indem sie ihrem Gewissen folgten, haben
sie den Mut gefunden, die Kerngebote der Bibel anzuerkennen, und damit der
Wahrheit zu einem Sieg verholfen.
2.
Mit ihrer Initiative wenden sich die
Autoren gegen die Muslime, die den Wahrheitsanspruch des Islam mit Gewalt
durchsetzen wollen. (30) Sie erkennen die Gefahr, daß sich
der Islam international isoliert angesichts von islamischen Organisationen und
Einzelpersonen, die ihre Ziele durch Gewaltanwendung anstreben und sich darin
auf Aussagen des Korans berufen.
Die Konflikte zwischen Schiiten und Sunniten erweisen sich als eine weitere
Belastungsprobe für den hohen moralischen Anspruch des Islam. Von diesem
Blickwinkel aus ist die Initiative der muslimischen Theologen als ein Appell an
die religiös Verantwortlichen zu werten, auf das Handeln der Politiker
moralisch einzuwirken. Hierin zeigt sich eine Anerkennung der Trennung von
Staat und Religion.
3.
Die 138 Unterzeichner des Dokuments
sind sich bewußt, daß ihre Initiative auf Akzeptanz durch die Gemeinschaft der
Muslime angelegt sein muß. Die Autoren dürfen den Überlegenheitsanspruch des
Islam nicht außer Acht lassen. Zwei Punkte scheinen mir erwähnenswert:
–
Das Motto "Kommt herbei zu einem
gemeinsamen Wort zwischen uns und euch" (4) hat zum historischen Hintergrund
eine Delegation von Christen, die mit Mohammed zu einer Verhandlung in Medina
zusammentrafen. Absicht von Mohammeds Seite war, die Christen zur Annahme des
islamischen Glaubens zu bewegen. Natürlich liegt den heutigen Autoren eine
solche Intention fern, aber der historische Bezug übt eine Symbolwirkung aus,
die Skeptikern des Offenen Briefes Wind aus den Segeln nimmt.
–
Die Juden werden im Offenen Brief
nicht erwähnt, obwohl sie das erste Volk der Schrift sind. Ihre Erwähnung
erscheint unter dem Gesichtspunkt entbehrlich, daß Christen und Muslime die
Mehrheit der Weltbevölkerung ausmachen. Einer gemeinsamen Basis mit den Juden
wird so geschickt aus dem Weg gegangen.
1.
Die Autoren glaubten, die beiden Hauptgebote
der Bibel zum thematischen Mittelpunkt des Briefes machen zu können, weil den
angeführten Stellen die Einzigkeit Gottes vorangestellt ist. Mit der
Anerkennung dieser Schriftstellen gestehen sie implizit dem Alten und Neuen
Testament eine rechtmäßige Autorität zu, da sie Inhalt und Bedeutung beider
zusammenfassen: "Kein Gebot ist größer als diese
beiden" (3) "An diesen beiden Geboten
hängt das ganze Gesetz samt den Propheten." (18)
2.
Von christlicher Seite können die mit
den beiden Liebesgeboten verknüpften Stellen aus Koran und Hadith-Literatur
aufgegriffen werden und christlich-muslimischen Dialogen als gemeinsame Basis
dienen. Die islamische Konstruktion, daß der Koran als präexistente Realität
der Bibel vorgängig sei, ist zu künstlich, um zu überzeugen. Denn die beiden
kompakten biblischen Gebote haben in der islamischen Literatur keine wirkliche
Parallele, sondern sind auf verschiedene Stellen verteilt, wobei die zentrale
Tirmidhi-Stelle nicht ohne Interpretation dem Gebot der Gottesliebe
gleichzusetzen war. Der Offene Brief gesteht somit einen bedeutenden Rückbezug
islamischer Gläubigkeit auf die Autorität der Bibel zu.
3.
Der Offene Brief ist ein ideelles
Dokument, d.h., es befaßt sich nicht mit den Möglichkeiten konkreter Anwendung.
Die zu erwartenden Antworten der 27 christlichen Adressaten werden inhärent ein
gemeinsames Denken aller Christen fördern. Ihr Hauptanliegen wird sich auf
konkrete Verbesserungen der Religionsfreiheit in muslimischen Ländern beziehen.
Es wird sich
dann herausstellen, welchen Einfluß die mittlerweile 200 Unterzeichner innerhalb
der islamischen Welt ausübern wollen und können.
1.
Die Autoren machen am Ende ihre
Briefes einen lobenswerten Vorschlag: "Laßt uns miteinander um
Rechtschaffenheit und gute Werke wetteifern." (31) Tatsächlich bedeutet der Islam heute
eine große Herausforderung für die Glaubwürdigkeit der Christen. Stellt man
sich einen Dialog zwischen Christen und Muslimen vor, müßten Christen ihre
heilige Schrift und Jesus Christus ebenso kennen und lieben wie die (frommen)
Muslime den Koran und Mohammed, dessen "schönem Beispiel" sie
nacheifern. Das Lob Gottes ist in beiden Religionen und ihren Schriften ein
unerschöpflicher Gesprächsstoff.
2.
"Rechtschaffenheit und gute
Werke" sind die Mittel, um das ewige Heil zu erlangen. In der Mitte
religiöser Praxis beider Seiten steht die Rechtfertigung des individuellen
Menschen vor Gott. Wie jede Seite diese Rechtfertigung versteht und durch
welche Bemühungen sie erreicht wird, auch das ist eine fruchtbare
Dialogmöglichkeit.
Weitere Beiträge:
Die
literarische Qualität von Bibel und Koran; Der Offenbarungscharakter des
Koran
Der Koran – ein subjektives Spiegelbild seines Verfassers
Erstellt: August 2008