Ontologische Existenz und christliche Individualität

Der Begriff ontologische Existenz sei verwendet für eine menschliche Lebensform, deren Grundlage ontologisches Denken ist.

Ontologisches Denken bedeutet, Endliches vom Unendlichen her zu begreifen. Nichts Geschaffenes besteht aus sich selbst, sondern gehorcht den ihm gegebenen Gesetzen. Nichts Geschaffenes ist sich selbst überlassen, sondern wird von seinem Urheber im Jetzt seiner Existenz gehalten und erhalten.

Wenn der Mensch darin seinen Lebenssinn erblickt, sich seines Lebens zu erfreuen, ist die erfahrene Freude Gabe des Schöpfers.

Insofern der Mensch sich als Person versteht und sein Personsein anderen Menschen mitzuteilen vermag, ist der unendliche Schöpfer das Urbild der Person und gleichzeitig Geber individuellen Personseins.

Insofern die Person ihren Lebenssinn nicht im Alleinsein verwirklichen kann, sondern in Beziehungen zu anderen Personen, ist der Schöpfer Urbild aller menschlichen Beziehungen. Die Beziehung der Person zu ihrem Schöpfer ist ihre Urbeziehung.

Das Wesen des Menschen als Person besteht in seiner Erkenntnisfähigkeit und Wahlfreiheit. Das Individuum kann beide Fähigkeiten nicht als selbsterworbenen Eigenbesitz in Anspruch nehmen, sondern sie sind ihm vorgegeben, sie sind Vorgaben des Schöpfers.

Erkenntnis ist fähig, nicht nur Endliches, sondern das Absolute als existent und seinsnotwendig zu denken. Durch sie kann die menschliche Person mit der unendlichen Person in Beziehung treten.

Der Mensch besteht aus der Endlichkeit seine Leibes und der Unendlichkeit seines Geistes. In seiner leib-seelischen Wahrnehmungsfähigkeit erfährt er die Schöpfung als ihm wesensverwandt. In der Schöpfung begegnen Leib und Seele des Menschen der Ordnung und Schönheit der Schöpfung. In dieser Begegnung vermag der Mensch seinen Geist über das Endliche hinaus zum Unendlichen zu erheben.

Wenn der Begriff Evolution eine Entwicklung von weniger Vollkommenem zu Vollkommenerem bedeutet, muß dies auch für die Geschichte und Kultur der Menschheit gelten. Demnach haben die Völker der Geschichte in unterschiedlichen Beziehungen zum Absoluten gestanden. Schließlich vereinigte die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus alle vorherigen Erfahrungen des Absoluten in sich. Dieses Ereignis ist der geschichtliche Fixpunkt, hinter den nicht mehr zurückgegangen werden kann, ohne in Irrtum und Illusion zu verfallen. Das heißt, der absolute Sinn kann in der Gegenwart nicht dauerhaft so erfahren werden, wie es Sokrates oder Vergil und viele andere bedeutende Geister getan haben. Vielmehr konvergieren deren geschichtlich bedingten ontologischen Erfahrungen und Erkenntnisse in der Menschwerdung der zweiten göttlichen Person und erhalten nur von ihr her bleibende Gültigkeit. Jesus Christus ist nicht nur als Person absolut, sondern der unerläßliche Wegweiser, wie der Mensch zum unendlichen Gott in Beziehung treten kann.

Eine Wesensaussage der Bibel über den Menschen ist, daß er als Ebenbild Gottes geschaffen ist. Gott wirkt im Menschen sein Heil durch die Instanz, die man Gewissen nennt. Dieses reagiert auf Erfahrungen von Gut und Böse, so daß der Mensch durch Abwägung dieser Erfahrungen innere Einstellungen für sein Denken und Handeln gewinnen kann.

Die Fülle des Lebens erfährt der Mensch, wenn er seine Existenz auf die Beziehung zu seinem Urbild gründet. Wie ist dies möglich?

Das oben genannte Gesetz der Evolution bedingt, daß in vollem Maß eine ontologische Existenz nur leben kann, wer auf den dreieinigen Gott getauft ist. Der Getaufte ist in eine weltweite neue Gemeinschaft aufgenommen, deren Haupt Jesus Christus ist. So wie die drei göttlichen Personen auf absoluter Ebene eine auf Beziehungen beruhende Gemeinschaft darstellen, so ist auch der Getaufte in eine trinitarische Beziehung eingebunden:

Nach neutestamentlichen Aussagen setzt der Heilige Geist als dritte Person das Erlösungswerk Christi fort, indem er jedem Gläubigen den Geist Christi vermittelt. Wenn die gesamte menschliche Existenz eine göttliche Gabe ist, dann wird sie in besonderem Maß vom Heiligen Geist getragen. Nach den Worten des hl. Paulus ist der Mensch ein Tempel des Heiligen Geistes (1Kor 6,19).

Der Heilige Geist also führt den Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit. Diese besteht insbesondere darin, in Christus den Vermittler und die Quelle des zeitlichen und ewigen Heils des Menschen zu erkennen. Christus aber verweist auf den Vater, die erste göttliche Person und Ursprung des dreieinigen Gottes. Ihm schuldet der Mensch nach dem Vorbild des menschgewordenen ewigen Abbildes des Vaters Dank, Anbetung und Liebe. In dieser trinitarischen Eingebundenheit des Getauften ist die Seele Wohnung der drei göttlichen Personen:

Wenn jemand mich liebt, wird er an meinem Wort festhalten; mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen. (Joh 14,23)

Die ontologische Beziehung zu Gott besteht nicht so sehr in Reflexion über ihn, sondern in einer Haltung personaler Kommunikation, also im Sprechen mit ihm.

Im Gespräch mit Gott öffnet der Mensch seine ganze leib-seelische Existenz und hält sie in die Unendlichkeit Gottes hinein, von der sie umfangen wird. In dieser Haltung ist Sprechen ein Akt des Erkennens und Gabe des Heiligen Geistes:

So nimmt sich auch der Geist unserer Schwachheit an. Denn wir wissen nicht, worum wir in rechter Weise beten sollen; der Geist selber tritt jedoch für uns ein mit Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können (Röm 8,26).

Sicherlich will auch der Heilige Geist erkannt, angebetet und geliebt werden, doch wirkt er hauptsächlich unerkannt.

Wie kann man zu einer ontologischen Existenz gelangen? Jeder Mensch hat Augenblicke, in denen sein Inneres in einen feierlichen Zustand erhoben wird, in denen das Herz Glück und Dankbarkeit verspürt. Dies ist die Gelegenheit, sich Got zu öffnen und einer Anfangsbegegnung weitere folgen zu lassen. Ein weiteres Mittel ist, die Weisheit und Liebe Jesu aus den Evangelien kennenzulernen. Allein der Wille kennenzulernen öffnet Herz und Seele für den Reichtum des Geistes und dem Reich des Unsichtbaren. Ein drittes Mittel ist, sich bedeutende Persönlichkeiten zum Vorbild zu nehmen, die ihr Leben von der Kraft Gottes erfüllen und leiten ließen.

Der Weg von Nicht-Christen zum Gott Jesu Christi ist nicht so leicht. Eine Möglichkeit dahin ist ein ständiges Verlangen nach Erkenntnis ewiger Wahrheiten.

Eine ontologische Existenz im christlichen Sinn überwindet den säkularen Individualismus und führt zu einer neuen individuellen Identität. Denn der Christ als Glied einer universalen Gemeinschaft ist Mitarbeiter am Reich Gottes in dieser Welt. Im Vertrauen auf Gottes Führung vermag der Christ selbst die extremste individuelle Lebensform zu ergreifen und gerade darin Erfüllung finden.

 

Erstellt: 1.1.2007

 

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