catilina 1, 1-4

Interpretation

Wenn man die ersten vier Paragraphen (Absätze, Sinnabschnitte) des ersten Kapitels verstehen will, ist es hilfreich, gelegentlich einen ergänzenden Blick auf erweiterte Aussagen des zweiten Kapitels zu werfen.

Nachdem die Formalpositionen der vier Sinnabschnitte hinreichend bekannt sind, können wir an die Erstellung der Sinnaussagen gehen.

Paragraph 1

omneis homines qui sese student praestare ceteris animalibus summa ope niti decet ne vitam silentio transeant veluti pecora quae natura prona atque ventri oboedientia finxit

Der Relativsatz qui ... animalibus begrenzt die Zahl der omneis homines und läßt die verwunderte Frage aufkommen, ob es etwa Menschen gebe, die sich nicht darum bemühen, von den Tieren unterschieden zu sein. Sallust spricht offensichtlich nicht die Menschen an, die den Unterschied des Menschen vom Tier ohnehin für selbstverständlich halten (und damit so mancher Fehleinschätzung unterliegen), sondern die, die sich darüber grundsätzliche Gedanken machen. Diesen Menschen gibt Sallust eine knappe Definition tierischen Daseins:

1.  Tiere gehen unter Schweigen (silentio) durch das Leben. Ihnen fehlt die Sprache, wodurch sie ihre Individualität differenziert ausdrücken und durch die Tat verwirklichen können. Da sie sich untereinander nicht durch individuelle Leistungen hervorheben, wird über sie nicht gesprochen (siletur 2,8).

2.  Die Tiere (pecora bezieht sich besonders auf Schafe, Ziegen und Schweine) sind nach vorne geneigt (prona). Hier verwendet Sallust ein Bild, das in symbolischer Ausdeutung eine Reihe allgemeingültiger Aussagen zuläßt. Das Tier benötigt seine vier Beine zur Fortbewegung, der Mensch kann seine Hände frei bewegen.

3.  Vorwärtsneigung bedeutet weiterhin, daß die Tiere ihre Nahrung auf dem Boden suchen und sie unmittelbar mit den Freßwerkzeugen ergreifen. Ihr Lebenszweck erschöpft sich im Fressen und Schlafen (dediti ventri atque somno 2,8). Das aufrecht getragene Haupt des Menschen kann sich frei nach allen Richtungen wenden. Der Lebenszweck des Menschen geht über die Essensaufnahme hinaus, seine Bestimmung liegt in der der Erde entgegengesetzten Richtung.

Die Unterscheidung von den Tieren erfordert vom Menschen persönliche Willensanstrengung. Dies wird durch die Doppelung student und niti ausgedrückt. Wenn Sallust individuelle Bemühung durch summa ope noch zusätzlich betont, dann meint er wohl, daß der Mensch nicht auf halbem Weg stehen bleiben, sondern sein Menschsein voll und ganz verwirklichen soll. Wie er in Sinnabschnitt 2 ausführt, besitzt der Mensch Geist und Körper. Er steht in einem Spannungsverhältnis zwischen dis und beluis und ist so ständig geneigt und in Gefahr, den Bedürfnissen und Trieben des Körpers zu sehr nachzugeben. In Kap. 2,5 entspricht ventri oboedientia der Begriff desidiaTrägheit und beluis der Ausdruck lubido atque suberbia. – Genußsucht und Überheblichkeit. Der Mensch muß sich also sehr bemühen, seine Geistnatur gegenüber dem Trägheitsgesetz des Körpers bzw. den ungezügelten Trieben zu behaupten, um sich in Freiheit selbst bestimmen zu können.

Paragraph 2

sed nostra omnis vis in animo et corpore sita est

animi imperio, corporis servitio magis utimur

alterum nobis cum dis alterum cum beluis commune est

Während Paragraph 1 eine Definition des Tieres gibt, behandelt der folgende Sinnabschnitt das Wesen des Menschen. Der erste, durch antithetisches sed eingeleitete Satz setzt dem Wesen tierischen Daseins das Wesensmerkmal des Menschen entgegen, seinen Geist. Die Argumentation ist folgende: Das Tier besitzt nichts als seinen Körper. Also erfüllt sich sein Daseinszweck in den Funktionen des Körpers. Der Mensch besitzt ein höheres, über den Körper hinausgehendes Merkmal, also liegt seine Lebenserfüllung in der ausschließlichen Betätigung dieses Prinzips.

Das komplexe Verhältnis von Geist und Körper drückt Sallust vorsichtig durch magis aus. Dies läßt Raum für die Eigenständigkeit beider Bereiche. Ihre gegenseitige Verwiesenheit wird in Kap. 1,7 erläutert: alterum alterius auxilio egetdas eine bedarf des anderen Hilfe. Die Herrschaft des Geistes erfordert unablässige Bemühung und Selbstüberprüfung, sonst verkehrt sich leicht das richtige Verhältnis, und der Geist setzt seine Kräfte für Bestrebungen ein, die dem tierischen Instinktbereich zuzurechnen sind.

Der folgende Satz verwendet wieder knappe bildhafte Redeweise, die aber auch als Wesensaussage verstanden werden kann. Die Götter sind im Besitz aller Erkenntnis, sie herrschen über die Welt und erhalten ihre Ordnung. Durch seinen Geist tritt der Mensch in Verbindung mit dem Göttlichen, erkennt und ordnet er kraft animus, ingenium und virtus seine eigene ihm zugewiesene Welt.

Bei beluis ist an die triebhafte Kraft von Raubtieren zu denken. Auch der Mensch besitzt Elementartriebe, die gefährliche Kräfte entwickeln können und der Herrschaft des Geistes entgegenstehen.

Paragraph 3

quo mihi rectius videtur ingeni quam virium opibus gloriam quaerere et quoniam vita ipsa qua fruimur brevis est memoriam nostri quam maxume longam efficere.

Das Verknüpfungswort quo leitet die Schlußfolgerung aus dem bisher Gesagten ein. Im ersten Satz hieß es bisher lediglich, daß der Mensch größte Anstrengungen unternehmen solle. Nun erfährt der Leser, daß das Ziel dieser Anstrengungen der Erwerb von Ruhm (gloriam quaerere) sein soll. Der zweite Infinitivbereich (memoriam ... efficere) hat die Funktion, eine Definition des so unvermittelt eingeführten Begriffs gloria nachzuholen. Ciceros Definition von gloria lautet: est gloria recte factorum magnorumque in rem publicam meritorum, quae cum optimi cuiusque, tum multitudinis testimonio comprobatur.Ruhm ist die Anerkennung für richtiges Handeln und große Verdienste für den Staat und wird von den jeweils Besten, insbesondere durch die Mehrzahl der Menschen zuerkannt.

Den Gegensatz zu memoriam bildet vita ipsa. Hier klingt durch, daß der Mensch seine Bemühungen nicht auf die unmittelbaren Bedürfnisse und Wünsche seines Lebens beschränken, sondern über das eigene Leben hinausgehende Werte schaffen soll. Den Nachkommen soll ein Vermächtnis hinterlassen werden, von dem sie bleibenden Nutzen haben. Der Mensch als Gemeinschaftswesen hat die Aufgabe, einen Beitrag zum kulturellen und zivilisatorischen Fortschritt der Menschheit zu leisten.

Abschnitt 3 übernimmt mit virium vom vorhergehenden Satz das von beluis abzuleitende körperliche Merkmal der Kraft. Die allgemeine Aussage summa ope im ersten Satz wird nun durch (magis) ingeni quam virium opibus präzisiert. Wie magis im Sinnabschnitt 2 wird auch hier durch rectius ein Definitionsspielraum gelassen.

Wie corpus durch vires wird animus durch ingenium ersetzt. Mit ingenium (von gignere) sind die von den Göttern "ein-gezeugten" geistigen Anlagen gemeint, mit deren Hilfe der Mensch Aufgaben erkennen und durch schöpferisches Gestalten lösen kann. Durch ingenium hat der Mensch entsprechend seiner individuellen Eigenart Anteil an animus, seiner allgemeinen Geistnatur.

Bemerkenswert ist, daß sich Sallust durch mihi videtur persönlich in die lebensphilosophische Argumentation einführt. Damit dokumentiert er einen überpersönlichen und persönlichen Gesichtspunkt. Mittels seiner Erkenntnisfähigkeit vermag er allgemeingültige Aussagen zu machen, denen er sich dann als Orientierung für sein eigenes Leben unterstellt. Sallust verbindet bewußt die Gültigkeit seiner Aussagen mit seiner eigenen Glaubwürdigkeit. Der Bezug auf seine Person tritt auch in weiteren Stellen der Coniuratio auf.

Paragraph 4

nam divitiarum et formae gloria fluxa atque fragilis est

virtus clara aeternaque habetur.

Im letzten Sinnabschnitt wird durch Wiederaufnahme von gloria die Aussage vita ipsa dem ersten Satz und memoriam nostri quam maxume longam dem zweiten Satz zugeordnet. Das Streben nach Besitz (divitiarum) entspricht dem triebhaften Verhalten der beluae. Dabei hat sich die Richtung von imperium und servitium verkehrt. Nun steht der Geist unter dem Befehl des triebhaft fordernden Körpers.

Das Wort formae verweist auf pecora, die in ihrem körperlichen Sosein aufgehen. Man kann sich darunter die Pflege körperlicher Schönheit vorstellen, aber auch die Schönheit äußerer Besitztümer einschließlich des Besitzes einer schönen Frau. Besitzstreben und materielles Wohlergehen sind nur auf die Befriedigung der eigenen Wünsche gerichtet, sie leisten nichts Wertvolles für die Gemeinschaft und ernten, wenn sie nicht schnellem Vergessen anheimfallen, über das kurze Leben hinaus keinen nennenswerten Nachruhm.

Im letzten Satz würde man analog zum vorhergehenden Satz virtutis (gloria) erwarten. Aber virtus als Subjekt steht allein und dem Begriff gloria eigenständig gegenüber. Virtus führt zwar zu Ruhm, aber erhält von dieser Zielvorstellung keine grundlegende Motivation. Vielmehr ist virtus eine Geisteshaltung, die ihren Wert in sich selbst trägt. Die Geisteshaltung der virtus ist Teil des animus, der Geistnatur des Menschen, und verbindet sich mit dem ingenium zu praktischer Tatkraft. In virtus ist das menschliche Ich und sein Wille eingebunden, sie erfreut sich an der Wesensschau der Dinge und erstrebt für sich die Vollkommenheit sittlichen Handelns. In seinem Geist erkennt der Mensch die göttliche Ordnung der Dinge. Die Teilhabe des Menschen an der göttlichen Ordnung durch Erkennen und Tun stellt die Erfüllung seines Lebens dar.

Virtus wird wie divitiarum et formae als ein Besitz bezeichnet. Das Adjektiv clara im Sinne von leuchtend weist auf die vorbildliche Wirkung der virtus hin, die ihren Träger berühmt machen kann.

Was unter aeterna zu verstehen ist, läßt sich nicht eindeutig festlegen, da sich der antike Mensch nicht offen über seine Jenseitshoffnung äußert. Soweit diese in einem der Mysterienkulte vorhanden ist, sind ihre Mitglieder zu absolutem Stillschweigen verpflichtet. Immerhin ist seit den griechischen Philosophen Sokrates (470-400) und Platon (427-347) die Unsterblichkeit der Seele ein geläufiger Bestandteil philosophischer Diskussion. M. Porcius Cato (95-46), Caesars großer Gegenspieler und Verkörperung der virtus, spricht in seiner Rede vor dem Senat (Cat. 52,13) von Belohnung und Bestrafung im Jenseits. Aus der Geisteshaltung der virtus erwachsen Verhaltensweisen und Taten, deren Wert überzeitlich ist und ihrem Träger unsterbliche Belohnung einbringen kann.

Die Eigenständigkeit von virtus gegenüber gloria läßt nachträglich den Sinn der beiden Infinitivkonstruktionen gloriam quaerere und memoriam ... efficere besser erkennen. Einerseits kann der zweite Infinitivbereich als eine Definition von gloria gelten, andererseits sich auch unabhängig davon behaupten. Mit aeterna habetur wird jedoch ein weiterer Gesichtspunkt menschlichen Lebenssinns genannt, der über einen möglichst langen Nachruhm noch hinausgeht.

Auch aus dem formalen Grund der Symmetrie bedeutet aeterna mehr als eine bildliche Ausdrucksweise. Was der Mensch vermeiden soll, um nicht den Tieren zu gleichen, wird hinlänglich betont. Hinsichtlich seiner Nähe zu den Göttern wird zunächst nur allgemein der Ruhmesgedanke formuliert. Deshalb muß clara aeternaque in krassem Gegensatz zu fluxa atque fragilis als die eigentliche Bestimmung des Menschen verstanden werden.

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