Struktur der Catilina Charakteristik
(Catilina
5)
1. L. Catilina,
nobili genere natus,
fuit magna vi et animi et corporis,
sed ingenio malo pravoque.
2. huic ab
adulescentia
bella intestina, caedes, rapinae, discordia civilis,
grata fuere,
ibique iuventutem suam exercuit.
3. corpus patiens
inediae, algoris, vigiliae,
supra quam quoiquam credibile est.
4. animus audax,
subdolus, varius,
quoius rei lubet simulator ac dissimulator,
alieni adpetens, sui profusus, ardens in cupiditatibus,
satis eloquentiae, sapientiae parum.
5. vastus animus
inmoderata, incredibilia, nimis alta semper cupiebat.
6. hunc post
dominationem L. Sullae
lubido maxuma invaserat
rei publicae capiundae
neque,
id quibus modis adsequeretur,
dum sibi regnum pararet,
quicquam pensi habebat.
7. agitabatur magis
magisque in dies animus ferox
inopia rei familiaris et conscientia scelerum,
quae utraque iis artibus auxerat,
quas supra memoravi.
8. incitabant praeterea
conrupti civitatis mores,
quos pessuma ac divorsa inter se mala,
luxuria
atque avaritia,
vexabant.
1. Satz 1 enthält zwei Doppelbegriffe animi – corporis; malo – pravo. Ihnen
entsprechen die Sätze 2-5, wobei pravo
und malo den Rahmen bilden und die
Sätze 3 und 4 in chiastischer Stellung (zuerst corpus, dann animus) die
Innenglieder bilden.
Satz 2 betont mit grata
fuere und den Außengliedern des viergliedrigen Asyndetons die
Widernatürlichkeit und Verkehrtheit von Catilinas Denken und Handeln, während caedes und rapinae auf seine Unmoral hinweisen.
Satz 5 zieht durch die anknüpfenden Begriffe animus und incredibilia aus Satz 3 (credibile)
und Satz 4 (animus) eine
Schlußfolgerung: Seine außerordentlichen Körperkräfte stellt Catilina ganz in den
Dienst seines Machstrebens (SV-PR-A)und wendet sich so gegen die Herrschaft des Geistes (A-NIM-VS). In seinem Geist herrscht keine Ordnung, er
ist einer verwilderten (vastus) Landschaft vergleichbar. Er berauscht sich an der
Vorstellung seiner eigenen Größe ohne Verantwortung für die Gemeinschaft.
2. Die Sätze 6-8 bilden den zweiten Teil der
Charakteristik. Sie unterscheiden sich von den vorhergehenden Sätzen durch eine
deutlich hypotaktische Struktur (2-2-1 GS). Sie enthalten kein einziges
Asyndeton gegenüber den 19 asyndetisch gereihten Gliedern der Sätze 1-5; 5
syndetischen Partikeln (neque, -que, et,
ac, atque) stehen 3 (et...et, -que,
ac) in der ersten Hälfte gegenüber.
Satz 6 knüpft mit hunc
post ... an das huic des 2.
Satzes an und weist bella intestina konkret
der Diktatur Sullas (82-79) zu. Mit dem Ausdruck lubido maxuma wird der Inhalt des Vorsatzes fortgeführt (inmoderata...cupiebat). – Das
Plusquamperfekt invaserat gibt einen
Hinweis auf die zeitliche Distanz, die vom eigentlichen Erzählzeitraum zu
Sullas Diktatur besteht. Die drei folgenden Imperfekte (habebat, agitabatur, incitabant) bezeichnen Begleitumstände zur
Aussage des Plusquamperfekts invaserat.
Weitere Parallelen der Sätze 6 und 2 zeigen, daß
sie einander zugeordnet sind: 1.
Nach dem Demonstrativpronomen folgt ein Präpositionalausdruck, post dominationem – ab adulescentia. 2. Beide Hauptsätze enthalten zwei
syndetisch verknüpfte Prädikate, invaserat
– habebat // fuere – exercuit,
beide mit Subjektswechsel. 3. In
beiden Satzteilen kommen synonyme Begriffe vor: dominationem – regnum // adulescentia
– iuventutem.
Die Sätze
7 und 8 sind parallel konstruiert durch Anfangsstellung synonymer Verben,
durch sich anschließende Relativsätze sowie durch jeweils zwei syndetische
Binome (Doppelbegriffe) magis magisque,
inopia rei familiaris et conscientia scelerum // pessuma ac divorsa, luxuria atque avaritia. Die
inhaltliche Zusammengehörigkeit ist durch praeterea
gekennzeichnet.
Satz 7 korrespondiert mit Satz 4 formal durch gleiche Wortzahl (21) und drei gleiche Wörter (animus, rei, in); addiert man die
Positionen dieser Wörter ergibt sich die Wortzahl beider Sätze. Inhaltlich ist
er durch den ausdrücklichen Hinweis quas
supra memoravi mit Satz 4, aber auch Satz 3 (supra) und Satz 5 (animus)
verbunden: Veranlagung und unmoralisches Handeln bilden eine sich bedingende
Spirale, die Catilina mit wachsender Schnelligkeit und Intensität (agitabatur, auxerat) ins Verderben
reißt.
Satz 8 knüpft durch das nach incitabant zu ergänzende hunc
an den 6. Satz an. Weiterhin schließt er den Kreis zum Anfang durch gleich
Wortzahl (16) und durch zwei Doppelausdrücke corporis – animi; malo – pravo // pessuma – divorsa; luxuria – avaritia und Wortgleichheit (malo / mala) und alliterierende
Sinnverwandtschaft (pravo / pessuma).
Parallelen
zu Sallusts autobiographischem Bekenntnis
Beide Texte sind etwa gleich lang und sind zweigeteilt, beide enthalten asyndetische Reihungen, Hendiadyoine und jeweils 14 Prädikate.
Diese und andere formale Kriterien weisen auf eine Vergleichssituation hin, der sich Sallust bewußt stellt. Wenngleich Sallust eine schonungslose Selbstanklage hält, so arbeitet er doch einen klaren Unterschied zu Catilina heraus. Eine Untersuchung der gemeinsamen Wörter verdeutlicht dies:
SALLUST |
CATILINA |
adulescentulus |
adulescentia |
rem publicam, re publica, rei publicae |
rei publicae |
ibi-que |
ibi-que |
fuere |
fuere |
audacia |
audax |
avaritia |
avaritia |
animus (3x) |
animus (3x),
animi |
malarum, malis, mala |
mala, malo |
artium |
artes |
cupido |
cupiditatibus |
conrupta |
conrupti |
moribus |
mores |
vexabat |
vexabant |
fuit |
fuit |
Wie Catilina wird Sallust durch conrupti mores, avaritia, audacia der anderen zu einem schlechten Lebenswandel verführt. Die moralischen Erschütterungen der Zeit werden durch vexaba(n)t ausgedrückt. Der entscheidende Unterschied jedoch ist, daß Sallust ein moralisches Gewissen besitzt, Catilina nicht, Sallust innere Konflikte auszutragen hat, Catilina aber bedenkenlos nach Machtstellungen strebt:
huic ab adulescentia
... |
|
ibique mihi
multa advorsa fuere |
huic bella intestina ... grata fuere ibique |
quae ... aspernatus
sum; a moribus relicuorum dissentirem |
iuventutem
exercuit |
animus ex multis
miseriis requievit |
agitabatur magis magisque animus |
Auch in der Catilina Charakteristik kommt die Grundform animus dreimal vor, aber nicht in der dreimal gleichen Wortstellung (einmal drittes Wort von hinten), sondern an 1., 2. und 6. Stelle. Dies ergibt für animus dieselbe Summe, aber Sallust braucht weitere Begriffe, um Catilinas widersprüchlichen Charakter zu treffen: animi, ingenio, conscientia. Zu nennen sind noch corporis und corpus für Catilinas körperliche Charakteristik.