STRUKTURANALYSE VON SALLUSTS ZWEI LEBENSABSCHNITTEN
(Catilina,
3,3-5; 4,1-2)
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Texten
I und II
TEXT I.
1. Sed ego adulescentulus initio, sicuti ,
studio ad rem publicam latus sum, ibique mihi multa advorsa fuere.
2. Nam pro pudore, pro abstinentia, pro virtute audacia,
largitio, avaritia vigebant.
3. Quae tametsi animus aspernabatur insolens malarum artium, tamen inter tanta vitia inbecilla aetas ambitione conrupta tenebatur;
4. ac me, quom ab malis moribus dissentirem,
nihilo minus honoris cupido eadem qua fama atque invidia vexabat.
TEXT II.
1. Igitur ubi animus ex multis miseriis atque
periculis requievit et mihi relicuam aetatem a re publica procul habendam
decrevi, non fuit consilium socordia atque desidia bonum otium conterere, neque
vero agrum colundo aut venando, servilibus officiis, intentum aetatem agere;
2. sed a quo incepto studioque me ambitio mala
detinuerat, eodem regressus statui res gestas populi Romani carptim, ut quaeque
memoria digna videbantur, perscribere, eo magis quod mihi a spe, metu, partibus
rei publicae animus liber erat.
GEMEINSAMKEITEN
Satz 2 wird mit Satz 1 durch die beiordnende Konjunktion nam, Satz 4 mit Satz 3 durch ac miteinander verbunden. Dadurch ergeben sich zwei zusammengehörige Satzpaare.
1. Satzpaar:
Zweiteiligkeit der Aussage, im ersten Satz zwei durch que verbundene Prädikate, im zweiten Satz zwei dreigliedrige Asyndeta.
2. Satzpaar:
Beide Sätze sind etwa gleich lang und haben eine parallele Struktur:
Sie werden jeweils durch einen konzessiven GS (tametsi, quom) eingeleitet;
parellele Stellung von gleichbedeutenden tamen und nihilo minus;
parallele Stellung der Prädikate tenebatur und vexabat.
UNTERSCHIEDE
Satz 1/2 hat parataktischen, Satz 3/4 hypotaktischen Charakter
1. Satzpaar:
1. Satz syndetisch 2. Satz asyndetisch
2. Satzpaar
tametsi – quom; Indikativ (aspernabatur) – Konjunktiv (dissentirem);
unpersönliches animus...aspernabatur
– persönliches me ... vexabat;
zwei passive Prädikate – zwei aktive Prädikate
GEMEINSAMKEITEN
Text II besteht eigentlich aus einer einzigen Periode, die durch korrespondierendes non ... sed in zwei etwa gleich lange (36+39 Wö.) Hauptsätze gegliedert ist.
Beide Sätze beginnen mit einem GS, eingeleitet durch ubi und a quo.
Den Prädikaten der HS folgen Infinitivkonstruktionen:
non fuit consilium
... conterere neque ... agere
statui ... perscribere
Nach der Konjunktion des einleitenden Gliedsatzes folgt jeweils ein Hendiadyoin:
ex multis miseriis atque periculis – incepto studioque
Die
beiden Teile der Periode sind verbunden durch die chiastische Stellung
von animus ... mihi – mihi ... animus
am Anfang und am Schluß der Periode
UNTERSCHIEDE
Satz 1 hat parataktischen, Satz 2 hypotaktischen Charakter:
Satz 1: requievit et ... decrevi – conterere neque ... agere (das zweite Satzglied ist durch eine satzwertige Konstruktion erweitert: habendam – intentum); socordia atque desidia; colundo aut venando
Satz 2: ut ... videbantur; quod ... erat
B. Korrespondierende Bezüge zwischen Text I und Text
II
Aufgrund der Satzverbindungswörter (nam, ac, sed) lassen sich die sechs Hauptsätze zu drei Satzperioden zusammenziehen. Da die beiden Hauptsätze von Text II antithetisch sind, ist es jedoch sinnvoll, sie in symmetrischer Zahl den beiden Satzpaaren (1/2 u. 3/4) von Text I gegenüberzustellen, wodurch eine Vierzahl von Bezügen zu untersuchen wäre.
Die vier Satzeinheiten können nach vier Gesichtspunkten untersucht werden:
1. 1 und 4 als Anfang und Ende schlingen sich zu einem Kreis zusammen; 2 und 3 sind dann die Innenglieder;
2. 1 und 3 bilden parallel jeweils den Anfang ihrer Gruppe, 2 und 4 das Ende;
3. Bezüge aus dem ganzen Text I zum ganzen Text II;
4. Erscheinungen aus beiden Texten insgesamt.
Bezüge im
Detail
1 und 4 (I.1/2 u. II,2)
Es entsprechen sich nach Anfangsvokal und Bedeutungsgleichheit initio – incepto sowie nach pronominaler Ähnlichkeit ibi ... eodem;
Das Ende jeder Satzeinheit enthält ein dreigliedriges Asyndeton: audacia, largitio, avaritia – spe, metu partibus
2 und 3 (I.3/4 u. II,1), die Innenglieder
Parallele Stellung von animus jeweils an dritter Stelle (einmal von fückwärts);
das Hendiadyoin am Ende von I,4 fama atque invidia wird zu Beginn von II,1 durch multis miseriis atque periculis wieder aufgegriffen.
2 und 4 (I,4 u. II,2)
Lexikalisch und semantisch entsprechen sich me ...honoris cupido ...vexabat und me ambitio mala detinuerat
C. Einzelbeobachtungen in beiden Texten
1. Überpersönliches animus und persönliches ego
Es fällt Sallusts unpersönliche Ausdrucksweise besonders in I, 3 auf (animus – inbecilla aetas). Der Begriff animus tritt dreimal auf, jeweils an dritter bzw. drittletzter Stelle. Dabei wechselt er folgendermaßen ab:
I, 3 ohne Personalpronomen;
II,1 Kombination von unpersönlichem Verb requievit und persönlichem Verb decrevi und mihi;
II,2 unpersönliches Verb erat und mihi.
Sallust versteht offensichtlich animus als objektive Größe, nach der sich sein Ich richtet.
Dem dreimaligen überpersönlichen animus entsprechen sechs Pronomina in der Reihenfolge
ego – mihi – me – mihi – me – mihi.
(Catilina, 3,3-5; 4,1-2)
I |
II |
Ergebnis |
3 Wörter in I und II |
|
|
aetas |
aetatem, aetatem |
|
animus |
animus,
animus |
|
malarum,
malis |
mala |
Es
sind jeweils vier Wörter, die dreimal bzw. zweimal |
rem publicam |
re publica, rei publicae |
vorkommen. |
jeweils 1 Wort in I und II |
|
|
ambitione |
ambitio |
Die
zweimaligen und dreimaligen Wörter haben drei |
multa |
multis |
gemeinsame
Anfangsbuchstaben: a,m,r |
relicuorum |
relicuam |
|
studio |
studio |
|
Wir können drei Phasen unterscheiden: 1. Sallusts Jugend und Hinwendung zur Politik; 2. seinen politischen Aufstieg und seine politische Betätigung, Bürgerkrieg und Cäsars Ermordung; 3. Sallusts Neuorientierung: Abkehr von der Politik und Zuwendung zur Geschichtsschreibung
Gleiche Endungen haben folgende Wörter: aetatem aetatem | animus animus animus | studio studio
bzw. in anderer Anordnung: aetatem animus studio | animus | studio animus aetatem
Die Anordnung zeigt, daß sich bei aller Veränderung der Verhältnisse der Geist als einzige überindividuelle Konstante und Angelpunkt menschlicher Orientierung erweist. (aetatem hat die Variable aetas, studio einmal den Zusatz que, der die Unterbrechung von Sallusts ursprünglichem Interesse ausdrückt). Das Leben (aetas) hat erst dann einen Sinn, wenn man mit geistiger Bemühung (virtus, studium) eine zeitlos gültige (animus, ingenium) Leistung hervorbringt (gloria, fama, clarum fieri). Für sich selbst betont Sallust die Bedeutung historisch-wissenschaftlicher Bemühung, die den Vorteil hat, daß man nicht in moralisch bedenkliche Konkurrenzkämpfe verwickelt wird. – Auch lautlich sind die drei Begriffe sinnvoll verknüpft.
Die Gesamtzahl der Buchstaben beträgt 141, damit schließt sich Sallusts Lebenskreislauf, indem er im Alter wieder zu den Beschäftigungen seiner Jugendzeit zurückkehrt.