AVE MARIS STELLA
I. Text und Übersetzung
V. Die Intention des Verfassers
VI. Formaler und inhaltlicher Aufbau des Hymnus
I. Text und Übersetzung
1. Der Marienhymnus Ave Maris Stella stammt aus dem 8. oder 9.
Jahrhundert. Als Verfasser wird nach neueren Untersuchungen Abt Ambrosius
Autpertus (gest.784)
angenommen, der in
einem Kloster in den Abruzzen lebte.
2.
Ich füge zwei gebräuchliche Übersetzungen hinzu, eine
ungereimte und eine gereimte:
1 Ave,
maris stella, Dei
Mater alma Atque
semper Virgo Felix
caeli porta. 2 Sumens
illud Ave Gabrielis
ore, Funda
nos in pace, Mutans
Evae nomen. 3 Solve
vincla reis, Profer
lumen caecis, Mala
nostra pelle, Bona
cuncta posce, 4 Monstra
te esse Matrem, Sumat
per te preces, Qui
pro nobis natus Tulit
esse tuus. 5 Virgo
singularis, Inter
omnes mitis, Nos
culpis solutos, Mites
fac et castos. 6 Vitam
praesta puram Iter
para tutum, Ut
videntes Iesum, Semper
collaetemur. 7 Sit
laus Deo Patri, Summo
Christo decus, Spiritui Sancto Honor, tribus unus. Amen |
Meerstern, sei gegrüßet, Gottes hohe Mutter, allzeit reine Jungfrau, selig Tor zum Himmel! Du nahmst an das AVE aus des Engels Munde. Wend den Namen EVA, bring uns Gottes Frieden. Lös der Schuldner Ketten, mach die Blinden sehend, allem Übel wehre, jeglich Gut erwirke. Zeige dich als Mutter, denn dich wird erhören, der auf sich genommen, hier dein Sohn zu werden. Jungfrau ohnegleichen, Gütige vor allen, uns, die wir erlöst sind, mach auch rein und gütig. Gib ein lautres Leben, sicher uns geleite, daß wir einst in Freuden Jesus mit dir schauen. Lob sei Gott dem Vater, Christ, dem Höchsten, Ehre und dem Heilgen Geiste: dreifach eine Preisung. Amen |
Ave, Stern der Meere, Gottesmutter, hehre, Jungfrau, allzeit reine, Himmelspfort' alleine. Ave hieß die Kunde aus des Engels Munde, Evas Namen wende, uns den Frieden spende. Lös das Band der Sünden spende Licht den Blinden, allem Bösen wehre, alles Gut begehre. Dich als Mutter zeige, daß dem Flehn sich neige, der für uns geboren, deinen Schoß erkoren. Jungfrau, auserkoren, mild und rein geboren, uns von Schuld befreie, Keuschheit uns verleihe. Gib ein reines Leben, mach den Weg uns eben, daß in Himmelshöhen froh wir Jesus sehen. Gott auf seinem Throne und dem höchsten Sohne und dem Geist - den Dreien Preis und Lob wir weihen. Amen |
1. Die 7 vierzeiligen Strophen
bestehen aus 3-hebigen Trochäen und sind größtenteils assonierend, d.h. der
Vokal der letzten Silbe stimmt meist paarweise überein.
2. Die erste Zeile
der 4. Strophe besteht aus einer Silbe mehr, schließt man Elision aus.
3. Für die 4. Zeile
der 7. Strophe gibt es zwei Fassungen: Honor, tribus unus und Tribus honor unus. Die
syntaktische Bezugsschwierigkeit besteht darin, daß 4 Dativen nur 3 Nominative gegenüberstehen. Bezieht man Honor nur auf tribus, würde decus für Christo und Spiritui Sancto zugleich gelten,
wobei der Verfasser auf ein verbindendes et verzichtete. Ein Doppelbezug von decus ist sicherlich
unbefriedigend und störend. Verbindet man Spiritui Sancto Honor, ist das
Zahlwort unus pronominal zu
verstehen: den
Dreien eine einzige (Ehre).
Die
Internetpräsenzen bevorzugen die zweite Version. Ich vermute, die
Wortumstellung erfolgte später als Anpassung an die Auffassung des Doppelbezugs
von decus.
Die
Verbindung 4+3 könnte Absicht sein. Die Zahl 7 hatte zu jeder
Zeit besonderen göttlichen Charakter. Der Heilige Geist als dritte göttliche
Person besiegelt die Einheit von Vater und Sohn, so daß in ihm tribus und unus gewissermaßen
konvergieren. Daher ist der Doppelbezug von Spiritui Sancto und tribus sinnvoll.
4. Zwei
unterschiedliche Lesarten sind CAELI – COELI und EVAE – HEVAE. Ich entschied
mich jeweils für die erste Lesart aus folgenden Gründen:
– Das Wort CAECIS (3.Str.)
verlangt Korrespondenz zu CAELI.
– Die bewußt
vorgenommene Umkehrung AVE – EVA wird durch das H gestört.
Eine textkritische Untersuchung zu diesen beiden Lesarten
liegt mir leider nicht vor.
III. MARIS STELLA
1. Nach übereinstimmender
Auffassung geht die Bezeichnung MARIS STELLA auf den hl. Hieronymus zurück, der die
beiden Silben mar-jam als stilla maris – Tropfen des Meeres auslegte. Auf
irgendeine Weise wurde später stilla in stella umgewandelt. Die
Bedeutung des ursprünglichen Namens Mirjam oder Marjam steht bis heute nicht zweifelsfrei fest.
2. Der aus dem
Griechischen übernommene Name MARIA ist gleichzeitig die Pluralform
von MARE – Meer. Man ist zunächst geneigt, diese Wortübereinstimmung als
Zufall anzusehen und sie nicht weiter zu beachten. Aus heilsgeschichtlicher
Sicht jedoch sind die Geschicke der Völker und Sprachen sorgfältig gelenkt und
auf einander abgestimmt. So wurde auch die lateinische Sprache im Hinblick auf
ihre heilsgeschichtliche Aufgabe als Trägerin der abendländischen Missionierung
durch göttliche Vorsehung geformt. Man kann daher vertrauensvoll MARE und MARIA in einen
wesensmäßigen Bezug zu MARIA setzen.
3. Das Meer erhält
seine Symbolik von der Weite und Tiefe seiner Wassermassen. Es wird gespeist
durch zahlreiche Flüsse, die wiederum durch viele Nebenflüsse allmählich zu
ihrem vollem Umfang anwachsen. Es besteht aus dem einzigen Element Wasser, das
wie ein einziger Organismus ständig stärker oder schwächer in Bewegung ist. Die
Seele des Menschen, die die Fülle des Lebens in sich spürt, erkennt im Meer ein
gemäßes Sinnbild ihrer eigenen Bewegung. Ein seelisches Übermaß an Bewegtheit
nennt man dann ein Meer der Freuden, der Schmerzen, des Leidens usw.
4. Die das Meer
umgebenden Landmassen formen die Umrisse eines gewaltigen Gefäßes, das bis zum
Rand gefüllt ist. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Seele Marias ein Gefäß,
das sich ganz der Liebe Gottes öffnet und daher nicht nur ein Meer der Gnaden
empfängt, sondern den unendlichen Gott selbst, den Himmel und Erde nicht fassen
können. Ihr Ja zur Mutterschaft des ewigen Wortes bedeutet auch die
Bereitschaft, den schmerzreichen Leidensweg ihres Sohnes bis an sein Ende
mitzugehen. Nach seiner Auferstehung verwandelt sich Marias Meer der Schmerzen in
ein Freudenmeer, wie es ein Osterlied überschwenglich zum Ausdruck bringt:
Laßt uns erfreuen
herzlich sehr,
Maria seufzt und
weint nicht mehr...
5. Meere trennen
Länder und Kontinente voneinander, andererseits bieten sie der Schiffahrt die
Möglichkeit, sie wieder miteinander zu verbinden. In ihrem irdischen Leben war
Maria ein meergleiches Gefäßt voll der Gnaden, in ihrer himmlischen Verklärung
ist sie ein Meer der Gnadenvermittlung, die die ganze Erde umspannt und alle
Grenzen überwindet. Als Königin des Himmels und der Erde herrscht sie über die Meere.
6. Die Schiffahrt
selbst wird als Metapher für die wechselvollen Lebensschicksale des Menschen
verwendet: Der Mensch wird von den Stürmen des Lebens hart bedrängt und droht
nicht selten Schiffbruch zu erleiden. MARIA ist nun selbst
Synonym für MARIA, die Weltmeere, weil man auf
ihren Meeren der Gnadenvermittlung sicher das Ziel des Lebens und
die ewige Heimat erreicht. Auf den Wegen ihrer Gnadenvermittlung werden alle
Völker miteinander verbunden.
7. Diese bis zu Ende
gedachte Metaphorik ist für religiöse ziemlich komplex und zu wenig konkret.
Daher scheint die Sternsymbolik geeigneter: Als Meeresstern ist Maria ein
Fixpunkt am Himmel, zu dem die Seeleute aufblicken, um von ihm die richtige
Orientierung zu erhalten und Mäßigung der Stürme zu erbitten. Als Seefahrer
kann sich auch jeder Erdenpilger auf den gefahrvollen Wegen seines Lebens
sehen.
1. Das im vorigen
Abschnitt über die providentielle Lenkung der Sprachen Gesagte gilt besonders
für das Palindrom EVA AVE. Der Gruß des
Engels bedeutet den Anbruch einer neuen Zeit des Heils, das von Gott her ins
Werk gesetzt wird. In den drei Buchstaben des AVE verdichtet sich
die neue Zeit der Menschheitsgeschichte zum Heilssymbol schlechthin. Natürlich
gebraucht Gabriel nicht dieses Wort, aber indem es die Umkehrung von EVA darstellt, wird
Latein als Zielsprache der Heilsgeschichte deutlich. Von der lateinischen
Sprache her wird erkennbar, daß im Namen EVA der göttliche Heilswille bereits
enthalten ist: Eine zweite Frau steht Gott bereits vor Augen, die die Sünde
Evas wiedergutmachen wird durch ihre Demut und ihren Gehorsam.
2. Die
Gegenüberstellung der beiden Frauen EVA und MARIA ist als logische
Fortsetzung der Parallele zu verstehen, die der Apostel Paulus zwischen ADAM und CHRISTUS zieht.
Durch einen
einzigen
Menschen kam die Sünde in die Welt und
durch die Sünde der Tod. ... ADAM aber ist die die Gestalt, die auf den Kommenden hinweist. ... Das Gericht führt
wegen der Übertretung des Einen zur Verurteilung, die Gnade führt aus vielen Übertretungen
zur Gerechtsprechung (Röm 5, 12-21).
Denn wie in ADAM alle sterben, so werden in CHRISTUS alle lebendig gemacht werden (1
Kor 15,22).
3. Paulus weist auch
darauf hin, daß EVA vor ADAM sündigte (1 Tim
2,14). Daher beginnt die neue Heilszeit auch mit MARIA.
EVA
ist einerseits Individualname, aber als Ersterschaffene der Name für die Frau
schlechthin. MARIA als diejenige, die der Sünde widerstand, ist daher die zweite oder neue EVA. Daher kann MARIA mit AVE EVA begrüßt werden.
V. Die Intention
des Verfassers
1. Im 8. oder 9.
Jahrhundert war das AVE MARIA als eines der Hauptgebete der Kirche noch nicht in Gebrauch
oder erst in den Anfängen. Es ist daher durchaus möglich, daß der Verfasser des
Marienhymnus ein wichtiger Wegbereiter für das spätere Gebet wurde. Falls also
der Gruß des Engels als Beginn seines Hymnus sein eigenes Werk ist, hat er sich
über die erste Zeile und seiner Ausgestaltung gewiß tiefe Gedanken gemacht.
2. Der ursprüngliche
Gruß des Engels ist eine Auszeichnung und in seiner Wiederholung durch die
Gläubigen ein Lobpreis auf Marias universale Heilstat, ihre Tugenden und ihre
mächtige Fürsprache. Diese drei Gesichtspunkte werden in den 7 Strophen sowohl
formal als auch inhaltlich sorgfältig ausgeführt und soll nun im Einzelnen
untersucht werden.
VI. Formaler und
inhaltlicher Aufbau des Hymnus
1. Für den Verfasser
ist MARIS
STELLA
kein bildhaftes Attribut Marias, sondern die kirchlich vorherrschende
Namensdeutung. Die Wahl der Wortstellung läßt die Namenserklärung als einen
Einschub und als Erweiterung des Namens MARIA erscheinen: MARISSTELLA.
Die zweite Zeile DEI MATER ALMA hebt ihre hohe Würde als Mutter
des ewigen Wortes hervor. Das Adjektiv almus bedeutet ursprünglich nährend, segenspendend, gütig. Es ist im vorchristlichen
Gebrauch vornehmlich ein Attribut von Gottheiten, im Mittelalter von
Herrschern. Maria wird hier nicht nur als irdische Mutter Jesu, sondern wohl
schon in ihrem erhöhten Zustand als Königin des Himmels vorgestellt, wie sie
als Herrscherin für alle ihre Kinder auf Erden sorgt.
Die dritte Zeile ATQUE SEMPER VIRGO weist sowohl auf Marias
heilsgeschichtliche Ausnahmestellung, als auch auf ihre Tugend der Reinheit
hin.
Die vierte Zeile FELIX CAELI PORTA – glückbringendes Tor des Himmels erläutert die Bedeutung der
Botschaft, die der Engel Gabriel mit dem Wort AVE einleitet:
–
Maria
ist das Einfallstor göttlichen Wirkens, indem sie das Ja-Wort zur Empfängnis
des ewigen Wortes spricht.
–
Der
ewige Sohn des Vaters, das wahre Licht der Welt, tritt durch Maria in das
irdische Licht der Welt hinaus.
–
Maria
ist die Ermöglichung des Erlösungswerkes Christi. Durch seinen Sühnetod am
Kreuz und seine Auferstehung und Himmelfahrt öffnet er für alle Menschen den
Zugang zum Himmel.
–
Maria
ist Mutter Jesu auch im Himmel. Ihre Fürsprache erlangt den Gläubigen durch einen
rechtschaffenen Lebenswandel den Einlaß in den Himmel.
Dieser
letzte Punkt verbindet die vierte Zeile mit MARIS STELLA.
2. Die Strophen 2-6 gestalten den
Inhalt der 1. Strophe ungefähr parallel zu den Aussagen der 4 Zeilen aus:
–
Die
2. Strophe
erläutert das AVE.
Die dritte Zeile FUNDA NOS IN PACE setzt den Beginn von insgesamt 8+2 Bitten.
–
Die
3. Strophe
besteht aus 4 Bitten, deren Erfüllung sich auf 2 weitere Bitten in
–
der 4.
Strophe stützt. Der Sprecher stellt MARIA vor Augen, sie möge sich als Mutter erweisen und die
Bitten ihrem Sohn (NATUS)
vortragen. Die Wortentsprechungen der 2. Zeile und der 4. Strophe sind MATER DEI und MATREM NATUS.
–
Die
5. Strophe
nimmt VIRGO von der dritten Zeile der ersten
Strophe wieder auf.
–
Die
6. Strophe
richtet den Blick auf den Lebenslauf (VITAM, ITER) des Christen. Maria möge die irdische Pilgerschaft
zu ihrem sicheren Ziel führen. Hierin bilden MARIS STELLA der ersten und FELIX CAELI PORTA der vierten Zeile eine inhaltliche Rahmung.
3. Der Sprecher
bittet hauptsächlich in der 1. Person Plural, um für sich und andere Gläubige
seine Bitten an Maria zu richten: NOS (2.), NOSTRA (3.), NOBIS (4.), NOS (5.),
COLLAETEMUR (6.).
Ave,
maris stella,
Dei Mater alma
Atque semper Virgo
Felix caeli porta.
1. Die erste Strophe
hat zusammen mit der dritten den regelmäßigsten Aufbau mit 3 Wörtern je Zeile.
Sie besteht aus einer vierteiligen Anrede an Maria.
2. Die vier Zeilen
sind durch folgende formale Elemente miteinander verklammert:
–
Rahmenfunktion
der 1. und 4. Zeile: Parallelstellung von
Genitiv und Bezugswort MARIS STELLA – CAELI PORTA. Die zweite Zeile hat denselben
Parallelismus DEI MATER.
–
Die
Zeilen 2 und 3 werden durch ATQUE miteinander verbunden. Inhaltlich
heben sie die Untrennbarkeit der Begriffe MATER und VIRGO hervor.
–
Die
2. und 4. Zeile enthalten die Attribute ALMA und FELIX. Sie stehen in chiastischer Stellung zu ihren Bezugswörtern: MATER
ALMA – FELIX PORTA.
Sumens illud Ave
Gabrielis ore,
Funda nos in pace,
Mutans Evae nomen.
1. Die erste und vierte
Zeile werden durch zwei Partizipien SUMENS und MUTANS eingerahmt. Es ist zu überlegen, ob ihr
syntaktischer Sinn gleich ist.
2. SUMENS betont Marias
freie Entscheidung, die Mutter des Erlösers zu werden. Mit dieser Entscheidung
tritt sie eine universelle Aufgabe an: Sie ist nicht nur Mutter Christi,
sondern Mutter aller Menschen. Daher können sich diese vertrauensvoll an sie
wenden.
3. FUNDA NOS IN PACE – Begründe uns fest im
Frieden: Der Friede kann eine
Gemeinschaft von Menschen oder den Einzelnen betreffen. Er ist Frucht der stets
inneren Umkehr, die ermöglicht wird durch die Verdienste Christi.
Maria ist Vorbild eines von Sünde freien Lebenswandels. Den inneren Frieden
erreicht der Mensch durch ein reines Gewissen.
4. MUTANS kann sich wie SUMENS
– entweder auf die
Vergangenheit beziehen:die du EVAs Namen umgekehrt hast durch dein vorbildliches und
sündeloses Leben,
– oder auf die
Gegenwart: indem
du EVAs Namen umkehrst. Der zweite Sinn würde bedeuten, daß Maria dem Einzelnen
helfen möge, die eigene Umkehr zu vollziehen, um so den Frieden zu
erlangen.
5. MUTANS EVAE NOMEN: Die
Voranstellung des Genitivattributs, die in der ersten Strophe dreimal
angewendet wurde, unterstreicht die Umkehrung der Heilssituation der Menschheit
durch das Ja-Wort Marias. Auf diese Weise werden die ersten beiden Strophen
formal miteinander verbunden.
Die dritte Strophe
Solve vincla reis,
Profer lumen caecis,
Mala nostra pelle,
Bona cuncta posce,
1. Die ersten drei
Bitten zeigen die Seelenzustände auf, die den inneren Frieden verhindern oder
bedrohen, die vierte richtet den Blick auf das Positive in dem Sinne, daß der
Christ das Böse durch das Gute überwinden soll.
2. Die vier Zeilen
fallen durch ein vollkommenes Ebenmaß auf: Jede Zeile enthält einen Imperativ
im Sinne einer Bitte. Jede Zeile besteht aus drei Wörtern.
3. Es gehören je
zwei Zeilen zusammen. Die jeweils drei Glieder eines Zeilenpaares sind parallel
angeordnet, weisen jedoch auch kontrastierende Verschiedenheit auf:
–
Die beiden ersten Imperative stehen am Zeilenanfang, die
letzten beiden am Zeilenende.
–
Die ersten beiden Zeilen enden auf –is, die letzten
beiden auf –e.
–
Den ersten beiden Imperativen ist je ein Dativ zugeordnet (REIS, CAECIS), an dessen
Stelle in Zeile 3 und 4 je ein Attribut (NOSTRA CUNCTA) tritt. Die
zweimal zwei Ergänzungen folgen jeweils dem Akkusativobjekt.
–
MALA und BONA der 3. und 4. Zeile sind Gegensatzpaare.
4. Aber auch zwischen 1. und 3. sowie
2. und 4. Zeile gibt es eine Zusammengehörigkeit: VINCLA und MALA sind negative, LUMEN und BONA positive Begriffe.
5. Inhaltlich
betreffen die Bitten der ersten beiden Zeilen Menschen, denen der gute Wille
fehlt (REIS,
CAECIS),
in die letzten beiden schließt der Sprecher sich selbst und alle Menschen (NOSTRA) ein.
NOSTRA
MALA
beziehen sich auf Übelstände der Zeit wie Krieg, Hungersnot, Epidemien, aber
auch auf die Nöte jedes Einzelnen: Krankheit, körperliche und seelische Leiden
und natürliche Schwächen.
6. Der Verfasser ist
bestrebt, die Bitten der dritten Strophe Maria in vorbildlicher Form
vorzutragen, damit sie diese in der folgenden Strophe gnädig annehme.
Die vierte Strophe
Monstra te esse Matrem,
Sumat per te preces,
Qui pro nobis natus
Tulit esse tuus.
1. Das Wort SUMAT, das SUMENS aus der 2.
Strophe wieder aufnimmt, weist auf eine parallele Argumentation hin: So wie die
Mutter den Auftrag des Engels annahm, so möge der Sohn ihre Bitten
entgegennehmen. Da Christus als Gott (DEI) sich erniedrigt hat (TULIT), um zu unserem
Heil (PRO
NOBIS)
sich als Sohn (NATUS) einer Mutter unterzuordnen, wird er auch im Himmel
bereitwillig den Bitten seiner Mutter Gehör schenken. Das Verb TULIT ist hier als
erklärende Verstärkung zu SUMAT zu verstehen.
2. Als Mittelstrophe
des Hymnus hat die vierte Strophe ein besonderes Gewicht. Sie weist komplexe
Satz- und Wortstellungselemente auf:
–
Die erste und vierte Zeile haben durch den gemeinsamen
Infinitiv ESSE Rahmenfunktion
für die vierte Strophe und für das ganze Gedicht.
–
SUMAT ist konjunktionsloser Beginn eines sinngemäßen finalen Gliedsatzes
(zu ergänzen wäre etwa orans, ut), dem der durch QUI eingeleitete Relativsatz untergeordnet
ist: Der Sprecher bittet Maria, daß sie bitten möge.
3. DEI und TULIT stehen jeweils
zu Beginn der Zeile, um die Selbsterniedrigung Gottes formal hervorzuheben.
4. Der Verfasser stellt in der 4.
Strophe klar, daß die an Maria gerichteten Bitten einen Instanzenweg gehen.
Maria ist also Fürsprecherin bei ihrem Sohn, hat aber einen so mächtigen
Einfluß auf ihn, daß man gewissermaßen von ihr selbst die Erfüllung der Bitten
erwarten darf. Daher fährt der Verfasser in den nächsten zwei Strophen mit 2+1 weiteren Bitte-Imperativen fort.
5. Das Wort NATUS steht in Doppelfunktion als
Partizip und als Substantiv. Der Leser erfaßt NATUS in der 3. Zeile zunächst als Partizip und
verbindet es mit der vorherigen Zeile: Es nehme durch dich die Bitten an, der für
uns geboren (wurde).
Erst durch TUUS wird er darauf aufmerksam, daß NATUS als Substantiv zu verstehen ist.
Man kann den vorher verstandenen Sinn mit und weiterführen: und es auf sich genommen hat, dein Sohn zu
sein.
6. Die erwähnte Rahmenfunktion der
beiden Infinitive ESSE
könnte für eine tiefere Bedeutung gewählt worden sein. Die spiegelbildliche
Umkehrform des Wortes könnte auf Maria und Jesus bezogen werden: Wie Maria als
ein Abbild ihres Sohnes erschaffen wurde, nahm Jesus Fleisch aus Maria an und
wurde ein Abbild von ihr. So ist das Palindrom ESSE Sinnbild der vollkommenen Gemeinschaft zwischen
Mutter und Sohn: Maria übergibt ihrem Sohn die Bitten der Menschen und der Sohn
erfüllt sie durch seine Mutter.
Eine weitere
Rahmenfunktion ergibt sich aus der Gleichheit der Initialen des jeweils ersten
und letzten Wortes: MONSTRA – MATREM; TULIT – TUUS.
7. Die 2. und 3. Zeile wird
zusammengebunden durch die formale Parallelität und inhaltliche
Gegenüberstellung von PER TE – PRO NOBIS. Nimmt man noch NATUS hinzu, ergibt sich eine Kurzformel von Heilsbeziehungen
zwischen Maria, Jesus und der gesamten Menschheit: Durch dich für uns
geboren. Wir können
also darauf vertrauen, daß auch in der Gegenwart Jesus durch Maria für uns da
ist.
Die fünfte Strophe
Inter omnes mitis,
Nos culpis solutos,
Mites fac et castos.
1. VIRGO wird aus der 3.
Zeile der ersten Strophe aufgenommen und thematisiert. Ihre Sonderstellung als
Mutter und Jungfrau wird durch SINGULARIS parallel zu SEMPER wiederholt und
verstärkt.
2. Auffällig ist die
Wiederholung des Wortes MITIS. Der Dichter empfindet vielleicht besonders tief, daß Zorn und Unversöhnlichkeit zu den ärgsten
Störenfrieden in der menschlichen Gemeinschaft gehören. Maria hingegen hat ein
so festes Fundament der Gottesbeziehung und des inneren Friedens, daß sie sich
nie zum Zorn hinreißen läßt.
3. NOS CULPIS SOLUTOS |
MITES FAC ET CASTOS: Nachdem wir die Verzeihung unserer Sünden durch das Bußsakrament
empfangen haben, besteht weiterhin die Gefahr der Rückfälligkeit. Dies könnte
der Sinn der Verknüpfung der beiden Aussagen sein.
Die Wiedergabe der ersten Übersetzung: Uns, die wir erlöst sind trifft also nicht
den gemeinten Sinn. Eher die parataktische Auflösung der gereimten Übersetzung:
Uns von Schuld befreie.
4. Die Tugend der
Keuschheit gilt vor allem für Mönche und Nonnen, aber auch für die
Weltmenschen. Sie ist nicht leicht zu bewahren. Wer sich die Freundschaft zu
Maria erhalten will, wird sich auf diesem Gebiet besonders bemühen und Marias
Hilfe bedürfen. Der Verstoß gegen die Keuschheit setzt Leidenschaften frei, die
zu weiteren Sünden führen können.
Vitam praesta puram
Iter para tutum,
Ut videntes Iesum,
Semper collaetemur.
1. Die erste Zeile
schließt zunächst durch PURAM an das Synonym CASTOS an. Gleichzeitig wird das ganze
menschliche Leben (VITAM) in den Blick genommen, damit alles sittliche Streben auf das
Endziel hin gesehen werden kann.
Parallelität
zur 5. Strophe besteht in den Wortanfängen der 1. und 2. Zeile: VIRGO INTER – VITAM ITER. Auffallend sind
die alliterierenden P-Laute: PRAESTA PURAM ... PARA.
2. Der Lebensweg (ITER) kann mit einer
Schiffsreise verglichen werden, der von Maria als dem immer präsenten Leitstern
begleitet wird. Eine sichere (TUTUM) Ankunft wünscht sich jeder Reisende.
3. Die dritte Zeile
nennt den vertrauten Namen Jesus (IESUM) als das Ziel irdischer Pilgerschaft.
Jesus erscheint hier nicht als strenger Richter, sondern als Freund, auf dessen
Gemeinschaft in der Ewigkeit sich der Dichter mit allen Menschen freut. Der
Bezug auf Jesus zeigt den bewährten Grundsatz jeder Marienverehrung, daß der
Mensch durch Maria zu Jesus gelangen möge (Per Mariam ad Iesum).
Sit laus Deo Patri,
Summo Christo decus,
Spiritui Sancto
Honor, tribus unus.
Über die siebte Strophe ist oben
bereits einiges gesagt worden. Formal fallen die ersten drei Zeilenanfänge mit
der Initiale S auf: SIT SUMMO SPIRITUS. Sie beziehen sich wohl auf die
drei göttlichen Personen und bestätigen vielleicht die oben geäußerte
Vermutung, daß die Doppelbezeichnung SANCTUS SPIRITUS die Idee der Dreiheit und Einheit
verknüpft. Die Einheit der drei göttlichen Personen manifestiert sich
schließlich noch durch den letzten Buchstaben des Gedichts im Wort UNUS.
Erstellt: August 2006