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JESUS IN DEN RUINEN EINES ZERSTÖRTEN DORFES

3. Lehrjahr, Oktober östlich von Emmaus

(aus Kap.566, 4 S.)

(...)

Jesus hat nicht nur die Apostel, sondern auch noch eine ansehnliche Gruppe von Jüngern um sich, unter ihnen Kleophas und Hermas von Emmaus, die Söhne des alten Synagogenvorstehers Kleophas, und Stephanus. Auch andere Männer und Frauen sind dabei. Es scheint, als wären sie aus irgendeinem Dorf gekommen, um Jesus zu sich einzuladen, oder als wären sie ihm gefolgt, nachdem er bei ihnen gewesen ist. Jesus geht durch den zerstörten Ort, bleibt oft stehen und schaut und macht schließlich endgültig halt, als er die höchste Stelle erreicht hat, von der aus man das ganze Gewirr von Trümmern und Gestrüpp überblicken kann. Nur noch Tauben erinnern an das Leben, das diesen Ort einst erfüllte. Damals waren sie sicher sanft und zahm, während sie nun verwildert und angriffslustig sind. Jesus betrachtet alles mit über der Brust gekreuzten Armen und leicht geneigtem Haupt, und je länger er schaut, desto blasser und trauriger wird er.

«Warum bleibst du hier, Meister? Dieser Ort stimmt dich offensichtlich traurig. Bleib nicht stehen, um ihn zu betrachten. Ich bereue es nun, dich hierdurch geführt zu haben, aber es ist der kürzeste Weg», sagt Kleophas von Emmaus.

«Oh, ich sehe nicht das, was ihr seht!»

«Was dann, Herr? Vielleicht siehst du, was sich in der Vergangenheit hier abgespielt hat? Es war sicher furchtbar. Aber das ist nun einmal die Art der Römer ...» sagt der andere von Emmaus.

«Und das sollte euch nachdenklich stimmen. Ihr seht es alle. Hier war einmal eine Stadt, nicht groß, aber schön. Sie bestand mehr aus herrschaftlichen Häusern als aus Hütten. Reichen also gehörte diese Gegend, die nun eine Wildnis ist. Reichen Menschen gehörten diese nun unfruchtbaren und von Brombeeren, Unkraut und Nesseln überwucherten Felder... Damals waren es üppige Obstgärten und Felder, die ansehnliche Ernten einbrachten. Die Häuser waren schön, umgeben von blumenreichen Gärten, mit Brunnen und Wasserbecken, in denen Tauben badeten und an denen Kinder spielten. Alle Bewohner dieses Ortes waren glücklich, aber das Glück machte sie nicht zu Gerechten. Sie vergaßen den Herrn und seine Worte... Und nun seht!

Keine Häuser mehr, keine Blumen, keine Brunnen, keine Ernten und keine Früchte. Nur die Tauben sind geblieben, aber auch sie sind nicht glücklich wie einst. Anstatt sich wie früher an blondem Weizen und an Kümmel gütlich zu tun, müssen sie sich nun um trockene Wicken und bittere Kräuter zanken. Es ist ein Fest für sie, wenn sie noch eine Gerstenähre unter den Dornen finden! ... Und wenn ich um mich schaue, sehe ich nicht einmal mehr die Tauben ... sondern Gesichter und wieder Gesichter... von denen viele noch nicht geboren sind... und ich sehe Ruinen über Ruinen, Dornengestrüpp, wilden Wein und Waldreben, die die Erde meines Vaterlandes bedecken... Und all das, weil man den Herrn nicht aufnehmen wollte. Ich höre das Jammern sterbender Kinder, die noch unglücklicher sind als diese Vögel, für die Gott immer noch sorgt mit einem Minimum an Nahrung, während diese Kleinen jegliche Hilfe entbehren, da auch sie die allgemeine Strafe trifft und sie an der vertrockneten Brust ihrer an Hunger, Schmerz und namenlosen Entsetzen sterbenden Mütter dahinwelken. Und ich höre die Klagen der Mütter über die auf ihrem Schoß verhungerten Kinder. Ich höre die Klagen der Bräute, die ihren Bräutigam verloren haben, die Klagen der gefangenen Jungfrauen, die der Lust der Sieger ausgeliefert sind, die Klagen der in Ketten fortgeführten Männer, die im Krieg jegliche Erniedrigung erlitten haben, und das Jammern der Alten, die leben mußten bis zur Erfüllung der Weissagung des Propheten Daniel. Ich höre die unermüdliche Stimme des Isaias im Säuseln des Windes in den Ruinen, im Klagen der Tauben in den Trümmern: "In unverständlicher, fremder Sprache wird der Herr sprechen zu diesem Volk, zu dem er gesprochen hat: 'Das ist die Ruhe: Gönnt Ruhe dem Müden. Und das ist die Erholung."

Aber sie wollten nicht hören. Nein, sie haben nicht gewollt, und der Herr kann keine Ruhe bei seinem Volk finden. Er ist ermattet und müde, nachdem er durch das Land gewandert ist, um zu lehren, zu heilen, zu bekehren und zu trösten, und statt Erquickung zu finden, begegnet er Verfolgung, statt Erholung Hinterlist und Verrat. Ganz eins ist der Sohn mit dem Vater. Und wenn die Wahrheit euch gelehrt hat, daß selbst ein Glas Wasser, das ihr eurem Nächsten reicht, belohnt werden wird, da man jeden Akt der Barmherzigkeit, den man dem Bruder erweist, Gott selbst erweist, welche Strafe wird dann jene erwarten, die dem Menschensohn nicht einmal den Stein am Weg als Kopfkissen gönnen; die ihm den Bergquell streitig machen, der durch die Güte des Schöpfers entsprang, und die an dem Ast vergessene oder verschmähte, unreife oder kranke Frucht, und die den Tauben genommene Ähre, die ihre Schlinge bereithalten, um ihm die Luft zum Atmen zu nehmen, und mit der Luft das Leben? Oh, elendes Israel, verloren hast du die Gerechtigkeit, verloren die Barmherzigkeit Gottes!

Seht, noch einmal ertönt die Stimme des Propheten Isaias im Abendwind, furchtbarer als der Schrei des Todesvogels, furchtbar fast wie die Stimme, die im irdischen Paradiese ertönte und die beiden Sündigen verdammte. Und – oh, wie furchtbar – diese Stimme des Propheten ist nicht verbunden mit dem Versprechen der Verzeihung wie damals, wie damals! Nein. Es gibt keine Verzeihung für die Gotteslästerer, die da sagen: "Wir haben einen Bund mit dem Tod geschlossen, und mit der Hölle einen Vertrag gemacht. Saust die verwüstende Geißel heran, sie wird uns nicht treffen. Denn wir haben die Lüge zu unserer Burg gemacht und uns im Trug geborgen." Seht, Isaias wiederholt, was er vom Herrn gehört hat: "Siehe, ich lege in Sion einen Grundstein, einen herrlichen Stein, einen kostbaren Eckstein... Ich mache zur Richtschnur das Recht und zum Senkblei die Gerechtigkeit. Hagel wird die Lügenburg vernichten und Wasser schwemmt den Zufluchtsort hinweg. Euer Bund mit dem Tod wird vernichtet und euer Vertrag mit der Unterwelt wird nicht halten. Wenn die geschwungene Geißel daherfährt, werdet ihr von ihr zermalmt werden. Sooft sie heransaust, wird sie euch treffen. Morgen für Morgen fährt sie heran, bei Tag und bei Nacht. Dann deutet mit Schaudern ihr die Offenbarung."

Armes Israel! Wie diese Felder, auf denen nur trockene Wicken und bitteres Kraut Bestand haben, aber kein Weizen mehr wächst, so wird Israel sein, und die Erde, die den Herrn verschmäht, wird kein Brot mehr hervorbringen für ihre Kinder. Und die Söhne, die den Müden nicht aufnehmen wollten, werden geschlagen werden und verwahrlosen. Galeerensträflinge am Ruder werden sie sein und Sklaven derer, die sie jetzt als minderwertig verachten. Gott wird sein hochmütiges Volk wahrhaft zermalmen unter dem Gewicht seiner Gerechtigkeit, und mit dem Mühlstein seines Urteils wird er es zerschmettern...

All das sehe ich in diesen Ruinen. Ruinen! Überall Ruinen! Im Norden, im Süden, im Osten und im Westen, und vor allem im Zentrum, im Herzen, wo sich die schuldbeladene Stadt in eine Grube der Fäulnis verwandeln wird...»

Langsam rollen Tränen über das bleiche Antlitz Jesu, der den Mantel hebt, um sein Antlitz zu verbergen, und nur die in dieser schmerzlichen Schauung weit geöffneten Augen freiläßt.

Dann macht er sich wieder auf den Weg, während seine Begleiter kaum zu flüstern wagen und vor Schreck wie erstarrt sind...