Kapitel 18: Der Hohepriester ordnet Marias Verehelichung an

19 Josef wird zum Bräutigam der Jungfrau bestimmt

(...)

Heute morgen, zurückgekehrt in das Schweigen meines Zimmers, erlebe ich die folgende Szene: Maria ist immer noch im Tempel. Jetzt kommt sie mit anderen Jungfrauen heraus aus dem wahren und eigentlichen Tempel Gottes, aus den Räumen in der Nähe des Heiligtums.

Es muß dort irgendeine Zeremonie stattgefunden haben, denn der Weihrauch breitet sich in der Luft aus, die rötlich gefärbt ist vom schönen Sonnenuntergang, ich möchte sagen, eines vorgerückten Herbstes; denn der Himmel hängt an diesem heiteren Oktobertag ziemlich müde über den Gärten Jerusalems, in denen das Ockergelb der herabfallenden Blätter blondrote Flecken zwischen das Silbergrün der Olivenbäume legt.

Die Schar, vielmehr der weiße Schwarm der Mädchen durchquert den hinteren Säulengang, ersteigt die Stufen, durchrauscht einen Säulengang und betritt einen anderen, weniger prunkvollen, quadratischen Hof, der keine andere Öffnung hat als diesen Eingang.

Es muß die Pforte zu den kleinen Behausungen jener Jungfrauen sein, die dem Tempeldienst geweiht sind; denn jedes Mädchen eilt auf seine Zelle zu wie ein Täubchen zu seinem Nest, und es sieht genau so aus, wie wenn ein Schwarm von Tauben sich auflöst. Viele, beinahe alle reden leise, aber fröhlich miteinander, bevor sie sich trennen. Maria schweigt. Bevor sie sich aber von den andren trennt, grüßt sie mit freundlicher Stimme, und begibt sie sich dann zu ihrem Kämmerlein, in einen Winkel zur Rechten.

Eine Lehrerin nähert sich ihr, nicht so alt wie Hanna des Penuël, aber doch schon in einem fortgeschrittennen Alter: »Maria, der Hohepriester erwartet dich.«

Maria schaut sie etwas erstaunt an, stellt aber keine Frage. Sie antwortet nur: »Ich werde mich schnell zu ihm begeben.«

Ich weiß nicht, ob der weite Saal, in den sie eintritt, zum Haus des Hohenpriesters gehört oder ob er noch ein Teil der Frauenwohnungen im Tempel ist. Ich weiß nur, daß er weit, hell und gut eingerichtet ist und daß sich in ihm außer dem prächtig gekleideten Hohenpriester auch Zacharias und Hanna des Penuël befinden.

Maria macht an der Schwelle eine tiefe Verneigung und bleibt stehen, bis der Hohepriester zu ihr sagt: »Tritt näher, Maria, fürchte dich nicht!« Nun richtet Maria sich auf, erhebt ihr Antlitz und schreitet langsam vorwärts, nicht widerwillig, sondern mit einem ungewöhnlichen Ausdruck von Feierlichkeit, der sie fraulicher erscheinen läßt.

Hanna lächelt ihr zu, um sie zu ermutigen, und Zacharias grüßt sie mit einem: »Der Friede sei mit dir, meine Base.«

Der Hohepriester beobachtet sie aufmerksam und sagt, zu Zacharias hingewendet: »In ihr erkennt man den Stamm Davids und Aarons.«

Dann fährt er fort: »Tochter, ich kenne deine Anmut und Güte. Ich weiß, daß du täglich in den Augen Gottes und der Menschen an Wissen und Gnade zunimmst. Ich weiß, daß die Stimme Gottes deinem Herzen die lieblichsten Worte zuraunt. Ich weiß, daß du die Blume des Tempels Gottes bist und daß ein dritter Kerub vor dem Tabernakel steht, seit du hier bist. Ich möchte gerne, daß dein Duft auch weiterhin mit dem Weihrauch aller Tage vor Gott aufsteige. Aber das Gesetz spricht andere Worte. Du bist nun kein Kind mehr, sondern eine Frau. Und jede Frau in Israel muß Gattin werden, um dem Herrn Knaben darzubringen. Du mußt dem Gesetz folgen. Fürchte dich nicht, erröte nicht! Ich kenne deine königliche Abstammung.

Aber das Gesetz schützt dich mit der Verordnung, daß jedem Mann eine Frau aus seinem Stamm gegeben werde [Num 36,6–10]. Aber selbst, wenn es das nicht gäbe, ich würde dafür sorgen, daß dein edles Blut nicht verdorben wird. Kennst du niemanden aus deinem Stamm, der dir Bräutigam sein könnte?«

Maria erhebt ein von Schamhaftigkeit gerötetes Gesicht, während in den Winkeln der Augenwimpern erste Tränen aufschimmern, und mit zitternder Stimme antwortet sie: »Niemanden.«

»Sie kann niemanden kennen, denn sie trat in ihrer Kindheit hier ein, und der Stamm Davids ist zu sehr heimgesucht worden und zerstreut, als daß es möglich wäre, daß sich die verschiedenen Zweige zusammenfinden, um die Krone der königlichen Palme zu bilden«, sagt Zacharias.

»Dann überlassen wir Gott die Wahl!«

Die bisher zurückgehaltenen Tränen quellen nun hervor und fließen auf den zitternden Mund, und Maria wirft einen flehentlichen Blick auf ihre Meisterin.

»Maria hat sich dem Herrn geweiht zu seiner Ehre und zur Rettung Israels. Sie war noch ein Kind, das kaum zu buchstabieren gelernt hatte, und schon hatte sie sich an das Gelübde gebunden . . . «

sagt Hanna, um ihr zu helfen.

»Ist das der Grund deines Weinens? Nicht der Trotz gegen das Gesetz?«

»Deswegen, wegen nichts anderem . . . Ich gehorche dir, Hoherpriester Gottes.«

»Das bekräftigt, was mir immer von dir gesagt wurde. Seit wie langer Zeit bist du Gott als Jungfrau geweiht?«

»Seit jeher, glaube ich. Ich war noch nicht im Tempel, und schon hatte ich mich dem Herrn geschenkt.«

»Aber bist du nicht die Kleine, die mich vor zwölf Frühlingen gebeten hat, eintreten zu dürfen?«

»Ich bin es.«

»Aber wie kannst du sagen, daß du schon damals Gott gehörtest?«

»Soweit ich zurückschaue, sehe ich mich als Jungfrau. (...)

Ich gehorche, Priester. Sage du mir, wie ich handeln soll . . . Ich habe weder Vater noch Mutter. Sei du mein Führer!«

»Gott wird dir den Bräutigam geben, und er wird heilig sein, da du dich Gott anvertraust. Du sollst ihm dein Gelübde mitteilen.«

»Wird er es annehmen?«

»Ich hoffe es. Bete, Tochter, daß er dein Herz verstehe! Geh und bete! Gott möge dich immer begleiten!«

Maria zieht sich mit Hanna zurück, während Zacharias bei dem Oberpriester bleibt.

So endet die Vision.

 

19 Josef wird zum Bräutigam der Jungfrau bestimmt

Ich sehe einen reichen Saal mit schönem Fußboden, Vorhängen, Teppichen und mit Intarsien verzierten Möbeln. Er muß noch zum Tempel gehören, denn es sind Priester darin, unter ihnen auch Zacharias und viele Männer jeden Alters (zwischen 20 und 50 Jahren).

Sie sprechen leise, aber lebhaft miteinander. Sie scheinen in ängstlicher Erwartung, aber ich weiß nicht warum. Alle sind festlich gekleidet mit neuen Gewändern, oder wenigstens mit ganz frisch gewaschenen, als wären sie eigens für ein Fest hergerichtet. Viele haben die Kopfbedeckung, ein Leinentuch, abgenommen; andere haben sie noch auf dem Kopf, besonders die Alten, während die Jungen ihren unbedeckten Kopf mit den dunkelblonden oder braunen Haare zeigen; nur einer ist kupferrot. Die Haare sind meist kurz geschnitten; aber es gibt auch einige mit langen, bis auf die Schultern wallenden Haaren. Es scheint, daß sich nicht alle kennen, denn viele beobachten sich neugierig. Aber sie scheinen doch irgendwie verwandt zu sein, denn man merkt, daß sie alle ein einziger Gedanke beherrscht.

In einem Winkel sehe ich Josef. Er spricht mit einem rüstigen älteren Mann. Josef ist etwas über dreißig. Ein schöner Mann mit kurzen, etwas krausen Haaren, die kastanienbraun sind, wie auch der Schnurrbart und der Bart, die ein schönes Kinn und die rotbraunen Wangen umschatten. Er hat dunkle, schöne, tiefe und sehr ernste, ich möchte fast sagen, etwas melancholische Augen. Wenn er aber lacht, wie jetzt, werden sie lebendig und jugendlich. Er ist ganz hellbraun gekleidet; einfach, aber sehr ordentlich.

Eine Gruppe von jungen Leviten kommt herein und stellt sich zwischen der Tür und einem langen schmalen Tisch auf, der nahe der Wand steht, in deren Mitte sich die weitgeöffnete Tür befindet.

Nur ein Vorhang, der bis auf 20 cm zum Boden herabhängt, bedeckt die Leere.

Die Neugierde wächst. Sie wächst noch mehr, als eine Hand den Vorhang zur Seite zieht, um einen Leviten eintreten zu lassen, der auf den Armen ein Bündel trockener Zweige trägt, auf das ganz vorsichtig ein blühender Zweig gelegt worden ist; ein leichter Schaum weißer Blütenblätter, die kaum rötlich angehaucht sind. Der Levit legt das Bündel der Zweige mit großer Sorgfalt auf den Tisch, um das Wunder dieses blühenden Zweiges inmitten von so vielen dürren Ästen nicht zu beschädigen.

Ein Raunen geht durch den Saal. Die Hälse recken sich. Die Blicke werden durchdringender. Auch Zacharias, der mit den Priestern dem Tisch näher ist, sucht etwas zu erkennen. Aber er sieht nichts.

Josef in seinem Winkel wirft kaum einen Blick auf das Bündel von Zweigen, und als sein Nachbar ihm etwas sagt, macht er eine abweisende Gebärde, als wollte er sagen: »Unmöglich!«, und lächelt.

Ein Trompetenstoß jenseits des Vorhanges! Alle schweigen und stellen sich in guter Ordnung auf, mit dem Blick zum Ausgang, der jetzt halbgeöffnet erscheint. Umgeben von den Ältesten tritt der Hohepriester ein. Alle verneigen sich tief. Der Priester geht zum Tisch und spricht aufrechtstehend: »Ihr Männer aus dem Haus Davids, die ihr auf meine Ausschreibung hier versammelt seid, hört zu! Der Herr hat gesprochen, er sei gepriesen. Von seiner Herrlichkeit ist ein Strahl herabgestiegen, und wie die Frühlingssonne hat er einem trockenen Zweig Leben gegeben.

Dieser hat auf wunderbare Weise geblüht, obwohl kein Zweig auf Erden heute in Blüte ist, am letzten Tag des Lichterfestes, während der Schnee, der auf den Höhen von Juda liegt, noch nicht geschmolzen ist; und so ist dieser der einzige weiße Glanz zwischen Zion und Betanien. Gott hat gesprochen und sich zum Vater und Beschützer der Jungfrau Davids gemacht, die keinen anderen zum Schutz hat als ihn. Heiliges Mädchen, Ruhm des Tempels und des Stammes Davids! Sie hat es verdient, daß durch ein Gotteswort der Name des Bräutigams bekannt wurde, der dem Ewigen genehm ist.

Ein gerechter muß derjenige sein, der vom Herrn als Hüter der ihm teuren Jungfrau erwählt wird! Somit mildert sich unser Schmerz, sie zu verlieren, und wird uns jede Sorge um ihr Schicksal als Braut genommen. Und dem von Gott Bezeichneten vertrauen wir mit aller Sicherheit die Jungfrau an, auf der Gottes Segen und auch der unsrige ruht. Der Name des Bräutigams ist Josef, der Sohn Jakobs aus Betlehem, vom Stamm Davids, Zimmermann zu Nazaret in Galiläa. Josef, komm her, der Hohepriester befiehlt es dir!«

Stimmengewirr. Köpfe, die sich drehen, Augen und Hände, die auf ihn weisen, enttäuschte Gesichter, Worte der Erleichterung. Der eine oder andere besonders unter den Älteren, muß froh sein, daß ihn dieses Los nicht getroffen hat.

Josef, rot und verlegen, tritt hervor. Jetzt befindet er sich vor dem Tisch, dem Priester gegenüber, den er ehrfürchtig grüßt.

»Kommt alle und schauet den Namen, der auf dem Zweig eingeritzt ist; ein jeder nehme seinen Zweig, um sicher zu sein, daß kein Betrug vorliegt!«

Die Männer gehorchen. Sie blicken auf den Zweig, den der Hohepriester behutsam in der Hand hält, und nehmen ihren eigenen, den der eine zerbricht, der andere aufbewahrt. Alle schauen auf Josef.

Der eine schaut und schweigt, der andere wünscht ihm Glück. Der ältere Mann, mit dem er vorher gesprochen hat, sagt: »Habe ich es dir nicht gesagt, Josef? Wer sich am unsichersten fühlt, siegt!« Alle sind an dem blühenden Zweig vorbeigegangen.

Der Hohepriester gibt ihn Josef; dann legt er ihm die Hände auf die Schulter und spricht: »Sie ist nicht reich, du weißt es, die Braut, die Gott dir gibt. Aber sie ist reich an Tugenden. Sei ihrer immer mehr würdig! Es gibt keine Blume in Israel, so lieblich und rein wie sie. Geht jetzt alle! Es bleibe Josef! Und du, Zacharias, als Verwandter, führe die Braut herbei!«

Alle gehen mit Ausnahme des Hohenpriesters und Josefs. Der Vorhang wird über den Ausgang gezogen.

Josef steht demütig neben dem majestätischen Hohenpriester. Ein kurzes Schweigen, dann sagt dieser zu ihm: »Maria hat dir ein Gelübde zu bekennen. Hilf ihr in ihrer Schüchternheit! Sei gut mit der Guten!«

»Ich werde meine Mannhaftigkeit in ihren Dienst stellen, und kein Opfer für sie wird mir zu schwer sein. Sei dessen versichert!«

Maria tritt ein mit Zacharias und Hanna des Penuël.

»Komm, Maria!« sagt der Priester. »Sieh, das ist der Bräutigam, den Gott für dich bestimmt hat. Es ist Josef von Nazaret. Du kehrst daher in deine Stadt zurück. Jetzt verlasse ich euch. Gott gebe euch seinen Segen! Der Herr möge euch behüten und segnen; er möge sich euch zeigen und allezeit Erbarmen mit euch haben! Er möge euch sein Antlitz zuwenden und euch den Frieden geben!«

Zacharias geht hinaus; er begleitet den Priester. Hanna beglückwünscht den Bräutigam, dann geht auch sie.

Die beiden Verlobten stehen nun einander gegenüber. Maria, die errötet ist, steht mit geneigtem Haupt da. Josef, auch er etwas errötet, beobachtet sie und sucht nach den ersten Worten, die er an sie richten kann. Endlich findet er sie, und ein leuchtendes Lächeln überstrahlt sein Gesicht, als er sagt: »Ich grüße dich, Maria; ich habe dich als kleines Kind gesehen . . . Ich war ein Freund deines Vaters, und der Neffe meines Bruders Alphäus war befreundet mit deiner Mutter. Er war ihr kleiner Freund, denn jetzt zählt er erst achtzehn Jahre, und als du noch nicht geboren warst, war er ein wirklich kleines Geschöpf; und doch erfreute er deine Mutter in ihrem Kummer; sie liebte ihn sehr. Du kennst uns nicht, weil du als kleines Mädchen hierher gekommen bist. Aber in Nazaret haben dich alle lieb und denken an dich; sie reden immer noch von der kleinen Maria des Joachim, deren Geburt ein Wunder des Herrn war, der die Unfruchtbare aufblühen ließ . . . Und ich erinnere mich noch des Abends, an dem du geboren wurdest . . . Wir erinnern uns alle noch des Wunders: eines gewaltigen Regens, der die Felder rettete, und eines heftigen Gewitters, bei dem die Blitze nicht einen einzigen Stengel des Heidekrautes niederschmetterten. Alles endete mit dem größten und lieblichsten Regenbogen, der je gesehen worden ist. Und dann . . . wer erinnert sich nicht der Freude des Joachim? Er zeigte dich überall seinen Nachbarn . . . Wie eine Blume seist du vom Himmel gekommen, und er bewunderte dich und wollte, daß alle dich bewundern. Noch kurz vor dem Tod erzählte der glückliche, alte Vater von seiner Maria, die so schön und gut sei, und von ihren Worten, die voll der Anmut und der Weisheit seien. Er hatte recht, als er dich bewunderte und sagte, daß es keine Schönere gäbe als dich! . . .

Und deine Mutter? Sie erfüllte mit ihrem Singen den Erdenwinkel, in dem ihr Haus lag. Sie schien eine Lerche im Frühjahr, während sie dich trug, und später, als sie dich auf ihrem Schoß hatte. Ich habe dir die Wiege gezimmert: eine kleine Wiege, ganz mit geschnitzten Rosen verziert; denn so wollte deine Mutter sie haben. Vielleicht ist sie noch in der verschlossenen Wohnung zu finden . . . Ich bin bejahrt.

Maria, als du geboren wurdest, verfertigte ich meine ersten Arbeiten.

Ich arbeitete schon . . . Wer hätte mir damals sagen können, daß ich dich einmal zur Braut haben werde! Vielleicht wären die Deinigen glücklicher gestorben; denn wir waren befreundet. Ich habe deinen Vater begraben und ihn aufrichtigen Herzens beweint; denn er war mir ein guter Lehrmeister im Leben gewesen.«

Maria erhebt langsam ihr Gesicht und wird immer unbefangener, als sie Josef so reden hört; und als er die Wiege erwähnt, lächelt sie ein wenig. Als Josef von ihrem Vater spricht, reicht sie ihm die Hand mit den Worten: »Danke, Josef!« Es ist ein schüchternes und sanftes Danke.

Josef nimmt das Lilienhändchen in seine kurzen und starken Zimmermannshände und drückt es mit einer Verehrung, die sie ermutigen soll. Vielleicht erwartet er noch andere Worte. Aber Maria schweigt von neuem. So fährt er fort: »Das Haus, das du kennst, ist unversehrt geblieben, abgesehen von dem Teil, der auf Befehl des Konsuls abgerissen wurde, um aus dem kleinen Weg eine Straße für die Wagen aus Rom zu machen. Und das Feld, das dir geblieben ist, ist ein wenig vernachlässigt worden; du weißt ja, die Krankheit des Vaters hat euer Besitztum sehr verringert. Es sind jetzt schon mehr als drei Frühlinge vergangen, daß die Bäume und Weinstöcke nicht mehr beschnitten worden sind, und der Boden ist ungepflegt und hart. Aber die Bäume, die du als kleines Mädchen gesehen hast, sind noch da, und wenn du mir erlaubst, werde ich mich ihrer sofort annehmen.«

»Danke, Josef. Aber du hast ja schon andere Arbeit . . . «

»Ich werde deinen Garten in den ersten und letzten Stunden des Tages pflegen. Jetzt nehmen die Tage mehr und mehr zu.

Für den Frühling werde ich alles zu deiner Freude in Ordnung bringen. Schau: dies ist ein Zweig des Mandelbaumes, der vor dem Haus steht; ich habe ihn mitbringen wollen . . . Man kann von überall her durch den verfallenen Zaun eintreten; aber jetzt werde ich ihn ausbessern und befestigen. Ich habe diesen genommen, weil ich dachte, wenn ich der Erwählte sein sollte . . . aber ich wagte es nicht zu hoffen, da ich ja ein Nazoräer bin [Num 6]. Ich habe nur dem Ruf des Hohenpriesters gehorcht. Da habe ich gedacht, es könnte dir Freude bereiten, einen Zweig aus deinem Garten zu erhalten.

Sieh ihn hier, Maria! Mit ihm gebe ich dir mein Herz, das bis heute nur für den Herrn geblüht hat; nun blüht es für dich, meine Braut.«

Maria nimmt den Zweig. Sie ist gerührt und schaut Josef mit einem immer festeren und strahlenderen Blick an. Sie fühlt sich sicher bei ihm. Als er sagte: »Ich bin Nazoräer«, leuchtete ihr Gesicht förmlich auf, und sie faßte Mut. »Auch ich gehöre ganz Gott an, Josef. Ich weiß nicht, ob der Hohepriester es dir gesagt hat . . . «

»Er hat nur gesagt, daß du gut und rein seist, daß du mir von einem Gelübde reden wollest und daß ich gut mit dir sein soll.

Sprich, Maria, dein Josef will dich glücklich machen in all deinen Wünschen! Ich liebe dich nicht dem Fleisch nach. Ich liebe dich dem Geist nach, du heiliges Kind, das David mir gibt! Sieh in mir einen Vater und einen Bruder, nicht nur den Bräutigam! Und vertraue mir wie einem Vater, wie einem Bruder.«

»Seit meiner Kindheit habe ich mich dem Herrn geweiht. Ich weiß, daß man so etwas in Israel nicht tut. Aber ich hörte eine Stimme, die meine Jungfräulichkeit als Opfer forderte, aus Liebe zum kommenden Messias. Schon so lange wird er erwartet in Israel! . . . Es ist nicht zuviel, um seinetwillen auf die Mutterschaft zu verzichten!«

Josef schaut sie fest an, als wolle er in ihrem Herzen lesen; dann nimmt er ihre beiden kleinen Hände, die noch den aufgeblühten Zweig halten, und spricht: »Und ich vereinige mein Opfer mit dem deinen, und wir werden mit unserer Keuscheit den Ewigen so sehr lieben, daß er der Erde den Erlöser schneller schickt und uns erlaubt, sein Licht in der Welt leuchten zu sehen. Komm, Maria, gehen wir in sein Haus und geloben wir ihm, uns zu lieben wie die Engel sich lieben. Dann werde ich nach Nazaret gehen und in deinem Haus alles für dich vorbereiten, wenn du gerne dorthin zurückkehren willst; sonst anderswo, nach deinem Wunsch.«

»In mein Haus . . . Es war dort eine Grotte im Hintergrund . . . Ist sie noch dort?«

»Ja, doch sie ist nicht mehr dein Eigentum . . . Aber ich mache dir eine, wo du dich erfrischen und dich in den heißen Stunden zurückziehen kannst. Ich will sie soweit möglich der anderen ähnlich gestalten. Und nun sage mir: Wen willst du bei dir haben?«

»Niemand, ich habe keine Furcht. Die Mutter des Alphäus, die mich immer besucht, wird mir tagsüber ein wenig Gesellschaft leisten, und in der Nacht möchte ich lieber allein sein. Es kann mir nichts Schlimmes zustoßen.«

»Und dann bin ich ja da . . . Wann soll ich kommen, um dich zu holen?«

»Wann du willst, Josef.«

»Dann werde ich kommen, sobald das Haus in Ordnung ist. Ich werde nichts anrühren. Ich will, daß du es vorfindest, wie deine Mutter es verlassen hat. Aber ich will, daß es viel Sonne hat und ganz sauber ist, um dich ohne Traurigkeit aufzunehmen. Komm, Maria!

Gehen wir, um dem Allerhöchsten zu sagen, daß wir ihn lobpreisen!

«

Weiter sehe ich nichts mehr. Aber im Herzen bleibt mir das Gefühl der Sicherheit, das Maria empfindet . . .