DIE VERORDNUNG DER VOLKSZÄHLUNG

Kap.44

Ich sehe das Haus von Nazareth. Die kleine Stube, wo Maria gewöhnlich ihre Mahlzeiten einnimmt. Jetzt arbeitet sie an einer weißen Leinwand. Sie legt ihre Arbeit nieder, um eine Lampe anzuzünden, denn der Abend bricht herein, und sie sieht nicht mehr gut in dem grünlichen Licht, das durch die zum Garten halbgeöffnete Tür hereindringt. Sie schließt auch die Tür. Ich sehe, daß ihre Schwangerschaft weit fortgeschritten ist. Sie ist aber immer noch sehr schön. Ihr Schritt ist immer noch behend, und lieblich jede Bewegung. Nichts von der Schwerfälligkeit, die man bei den Frauen beobachtet, wenn sie bald ein Kind zur Welt bringen. Nur im Gesicht ist sie verändert.

Jetzt ist sie "die Frau". Vorher, zur Zeit der Verkündigung, war sie ein junges Mädchen mit einem heiteren, offenen Gesicht: dem Gesicht eines unschuldigen Kindes.

Später, im Haus der Elisabeth, zur Zeit der Geburt des Täufers, haben sich ihre Gesichtszüge verfeinert; sie ist durch eine reifere Schönheit gekennzeichnet. Jetzt ist ihr Antlitz abgeklärt, strahlt aber in liebevoller Weise auch eine Würde aus, die in der Mutterschaft den Höhepunkt ihrer Vollkommenheit erreicht.

Joseph tritt ein. Er scheint vom Dorf zu kommen, denn er kommt durch die Haustür, nicht von der Werkstatt her. Maria erhebt das Haupt und lächelt ihm zu. Auch Joseph lächelt. Aber es scheint, als falle es ihm schwer, wie einem, der Sorgen hat. Maria beobachtet ihn mit fragendem Blick. Dann erhebt sie sich, um Joseph den Mantel abzunehmen, faltet ihn und legt ihn auf eine Truhe.

Joseph setzt sich an den Tisch, stützt einen Ellbogen darauf und legt den Kopf in die Hand, während er mit der anderen, in Gedanken versunken, immer wieder durch den Bart fährt.

«Hast du Sorgen, die dich plagen?» fragt Maria. «Kann ich dir helfen?»

«Du bist mir immer Trost, Maria; aber jetzt bin ich sehr besorgt um deinetwillen.»

«Um meinetwillen, Joseph? Und warum?»

«Ein Erlaß ist an der Synagogentüre angeschlagen worden. Eine Volkszählung aller Bewohner Palästinas ist angeordnet worden, und man muß sich am Herkunftsort einschreiben lassen. Wir müssen nach Bethlehem gehen...»

«Oh!» unterbricht ihn Maria und legt die Hände auf ihren Schoß.

«Das erschreckt dich, nicht wahr? Es wird mühevoll sein, ich weiß es.»«Nein, Joseph. Es ist nicht das. Ich denke... ich denke an die heilige Schrift: Rachel, die Mutter Benjamins und Frau Jakobs, aus dem der Stern hervorgehen wird: der Erlöser (Num 24,17; Gen 35,18-20; 48,7), Rachel ist begraben in Bethlehem, von dem es heißt: "Und du Bethlehem Ephrata, du bist die kleinste Stadt im Stamme Juda, aber aus dir wird hervorgehen der Herrscher" (Mich 5,2). Der Herrscher, der dem Geschlecht David verheißen worden ist! Er wird dort geboren werden ...»

«Glaubst du... glaubst du, daß es schon Zeit ist? Oh! Was sollen wir tun?»

Joseph ist völlig verwirrt. Er schaut mit mitleidigen Augen auf Maria.

Sie bemerkt es. Und lächelt, mehr zu sich selbst als zu ihm. Ein Lächeln, das zu sagen scheint: «Er ist ein Mensch, ein gerechter, aber ein Mensch. Und er sieht als Mensch, denkt als Mensch. Habe Erbarmen mit ihm, meine Seele, und lehre ihn mit geistigen Augen zu sehen!» Und ihre Güte drängt sie, ihn zu beruhigen. Sie lügt nicht, aber sie lenkt seinen Kummer ab: «Ich weiß nicht, Joseph. Die Zeit ist nahe. Aber könnte der Herr sie nicht verzögern, um dich von dieser Sorge zu befreien? Er vermag alles. Fürchte nichts!»

«Aber die Reise... ! Wer weiß, wieviel Volk unterwegs ist! Werden wir eine gute Unterkunft finden? Werden wir zur rechten Zeit wieder zu Hause sein? Und wenn du dort gebären solltest, was machen wir dann? Wir haben kein Haus... Wir kennen dort niemanden mehr...»

«Fürchte nichts! Alles wird gut gehen. Gott läßt das gebärende Tier einen Zufluchtsort finden. Meinst du, daß er uns nicht einen für seinen Messias finden läßt? Wir vertrauen auf ihn, nicht wahr? Stets vertrauen wir auf ihn. Je größer die Prüfung ist, um so mehr vertrauen wir. Wie zwei Kinder legen wir unsere Hände in seine Vaterhand. Er führt uns. Wir wollen uns ganz ihm überlassen. Schau, wie er uns bisher mit Liebe geführt hat! Auch der beste Vater könnte es nicht mit größerer Sorgfalt tun. Bleiben wir seine Kinder und seine Diener! Erfüllen wir seinen Willen! Nichts Böses kann uns zustoßen. Auch dieses Edikt ist sein Wille. Was ist schon ein Kaiser? Ein Werkzeug in der Hand Gottes. Seit der Vater beschlossen hat, dem Menschen zu verzeihen, hat er auch vorausbestimmt, daß sein Christus in Bethlehem geboren werde. Sie ist die kleinste Stadt von Judäa; sie war noch nicht, und schon wurde ihr Ruhm verkündet. Damit dieser Ruhm sich bewahrheite und das Wort Gottes nicht Lügen gestraft werde – und das würde geschehen, wenn der Messias anderswo geboren würde – sieh da, ein Mächtiger, weit weg von hier, der uns bezwungen hat und jetzt seine Untertanen kennen will; jetzt, da die Welt im Frieden ist... Was bedeutet uns die kleine Mühe, wenn wir an die Schönheit dieses Augenblicks des Friedens denken? Überlege, Joseph! Eine Zeit, in der es keinen Haß in der Welt gibt! Kann es eine glücklichere Stunde geben für den Aufgang des Sternes, dessen Licht göttlich und dessen Einwirkung Erlösung ist? Oh! Habe keine Furcht, Joseph! Wenn die Wege unsicher sind, wenn das viele Volk die Reise erschwert, werden die Engel uns verteidigen und beschirmen. Nicht uns: ihren König. Wenn wir keine Unterkunft finden, werden ihre Flügel unser Zelt sein. Nichts Böses kann uns zustoßen; nichts kann uns geschehen: Gott ist mit uns.»

Joseph blickt sie an und hört selig zu. Die Falten auf seiner Stirn glätten sich, das Lächeln kehrt zurück. Er erhebt sich ohne Müdigkeit und Sorgen. Er lächelt. «Du Gesegnete, du Sonne meiner Seele! Du Gebenedeite, du verstehst alles im Licht der Gnade zu betrachten, von dem du erfüllt bist. Verlieren wir also keine Zeit, denn wir müssen so rasch wie möglich abreisen und ... so schnell wie möglich zurückkehren; denn hier ist alles bereit für den ... für den ...»

«Für unseren Sohn, Joseph. Das muß er in den Augen der Welt sein, denk daran! Der Vater hat seine Ankunft mit Geheimnis umgeben, und wir dürfen den Schleier nicht heben. Er, Jesus, wird es tun, wenn die Stunde gekommen ist...»

Die Muttergottes gibt zu der Szene einen Kommentar, dessen erster Teil hinzugefügt sei:

«Ich brauche nicht viel hinzuzufügen, denn meine Worte sind schon Belehrung.

Ich möchte jedoch die Aufmerksamkeit der Frauen auf folgendes lenken. Gar viele Ehen geraten in Unordnung durch die Schuld der Frauen, die nicht jene Liebe besitzen, die alles ist: Freundlichkeit, Mitleid und Trost dem Gatten gegenüber. Auf dem Mann lastet nicht das körperliche Leiden, das die Frau bedrückt. Aber alle seelischen Sorgen lasten auf ihm. Der Zwang der Arbeit; die Entscheidungen, die zu fällen sind; die Verantwortung gegenüber den Behörden und gegenüber der eigenen Familie... Oh, wie viele Dinge lasten doch auf dem Mann! Und wie sehr bedarf auch er des Trostes! Der Egoismus ist oft so groß, daß die Frau dem müden, entmutigten, verkannten und besorgten Mann auch noch die Last ihrer unnützen und vielfach ungerechtfertigten Klagen aufbürdet. All das, weil sie egoistisch ist. Sie liebt nicht.

Lieben heißt nicht, für sich selbst Befriedigung in der Sinnlichkeit und im Gewinn suchen. Lieben heißt, den Geliebten über das Sinnliche und Nützliche hinaus im Geist zu befriedigen; heißt, seinem Geist die Stütze zu sein, die er nötig hat, um seine Flügel offen halten zu können im Himmel der Hoffnung und des Friedens.»

 

 

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